«Wir müssen den Wolf wild halten»
Im Bündner Rheintal sorgen Wolfsrudel immer wieder mal für Aufregung. Kein Grund Angst zu haben, sagt Ralph Manz, Wolfsmonitoring-Beauftragter der Fachstelle Kora.
Veröffentlicht am 24. Januar 2014 - 11:12 Uhr
Beobachter: Herr Manz, was tue ich, wenn ich im Wald plötzlich einem Wolf gegenüberstehe?
Ralph Manz: Geniessen Sie den einmaligen Augenblick. Und wenn Ihnen die Begegnung unheimlich ist, sollten Sie nicht wegrennen, bleiben Sie ruhig stehen, sprechen Sie laut – dann ist er weg.
Beobachter: Also kann man sich im Wolfsgebiet bedenkenlos bewegen?
Manz: Natürlich. Wenn Sie irgendwo Pilze suchen, werden Sie fast mit Sicherheit keinen Wolf zu Gesicht bekommen. Der Wolf hat ein sehr feines Gehör und einen unglaublich guten Geruchssinn. Er wird Sie schon lange vorher wahrnehmen und sich zurückziehen.
Beobachter: Aber der Wolf erlegt doch im Rudel Beute, die viel grösser und kräftiger ist als ein Mensch.
Manz: Der Wolf sieht den Menschen nicht als Beute. Hinzu kommt, dass durch die Jahrhunderte lange Bejagung – bis hin zur Ausrottung vielerorts – nur die allerscheusten Tiere überlebt haben. Der Wolf hat gelernt, dass mit dem Menschen nicht gut Kirschen essen ist. Die einzige realistische Möglichkeit, wie ein Wolf zur Gefahr werden könnte, ist wenn er diese Scheu verliert.
Beobachter: Kann das passieren?
Manz: Nur indem er von Menschen angefüttert wird. Deshalb ist die wichtigste Massnahme, den Wolf wild zu halten und die Tiere nicht mit Futter an den Menschen zu gewöhnen. Denn an Menschen habituierte Wölfe sind gefährlich.
Beobachter: Was ist, wenn doch ein Tier ein auffälliges Verhalten zeigt?
Manz: Die Situation müsste umgehend im Detail geprüft werden. Bei der Bezeichnung «auffällig» muss man aber vorsichtig sein. Wenn Wölfe im Winter die Nähe der Dörfer aufsuchen, weil sich dort ihre Beutetiere - zum Beispiel Hirsche - aufhalten, ist das völlig normal. Auch wenn sich ein Jungwolf eher einmal neugierig zeigt, hat das mit «abnormalem» Verhalten nichts zu tun.
Beobachter: Und wer behält die Situation im Auge?
Manz: Wir haben in der Schweiz eine sehr professionelle Wildhut, die täglich im Gelände unterwegs ist und die Situation vor Ort bestens kennt. In den letzten Jahrzehnten kam es in unseren Nachbarländern, wo seit längerem mehr Wölfe als bei uns leben, nie zu gefährlichen Situationen für Menschen. Und von allen bekannten Angriffen in der Vergangenheit ging die überwiegende Zahl von tollwütigen Wölfen aus. Diese Bedrohung fällt aber weg, da die Schweiz und ihre Nachbarländer seit Jahren tollwutfrei sind.
Beobachter: Aber die Schweiz ist klein und dicht besiedelt. Gibt es hier überhaupt eine Lebensgrundlage für eine stabile Wolfspopulation?
Manz: Es gibt sogar grosses Siedlungspotential – hauptsächlich im Alpenraum und im Jura.
Beobachter: Hat es im Jura auch schon Wölfe?
Manz: Auf der französischen Seite, ja. Es gibt ein kleines Rudel in den Vogesen nördlich von Basel – und vermutlich einzelne Tiere auf der Höhe von La Chaux-de-Fonds, die bereits gelegentlich auf Schweizer Boden Wild gerissen haben. Aber der Wolf braucht gar nicht unberührte Wälder und Wildnis, er findet sich fast überall zurecht – in Deutschland leben sie teilweise auf Truppenübungsplätzen und laufen immer wieder mal zwischen Förderanlagen im Kohletagbau durch.
Beobachter: Die Hauptfrage ist ja wohl, ob ausreichend Futter vorhanden ist?
Manz: Unsere Wildbestände sind heute historisch hoch. Anfang des 19. Jahrhunderts waren Hirsche, Rehe und Wildschweine nicht mehr vorhanden und Gämsen waren fast ausgerottet. Heute ist die Situation dagegen exzellent. Dadurch sinkt auch die Gefahr, dass Wölfe Nutztiere reissen – vorausgesetzt, es ist ein guter Herdenschutz vorhanden, zum Beispiel mit Schutzhunden und Hirten.
Beobachter: Das reicht auch bei einem Rudel aus?
Manz: Nach den Erfahrungen, die wir bis jetzt gemacht haben, kommt es nicht zu mehr Übergriffen auf Nutztiere. Die letzte Wurfhöhle des Rudels lag in unmittelbarer Nähe von Alpweiden. Trotzdem wurde den ganzen Sommer über kein einziges Schaf gerissen. Entscheidend ist wie gesagt der Herdenschutz im Streifgebiet des Wolfsrudels: Wölfe können sich vor allem in der intensiven Zeit bis die Welpen auch mitjagen, keine gefährliche Nahrungsbeschaffung leisten. Würde ein Elterntier wegfallen, würde das je nach Alter der Welpen den sicheren Tod des gesamten Wurfs bedeuten.
Beobachter: Wölfe halten sich nicht an Kantonsgrenzen – wie gut funktioniert die schweizweite Zusammenarbeit zwischen den Behörden?
Manz: Sehr gut. Rund die Hälfte der Kantone hat bereits ein Wolfskonzept erarbeitet. Das ist wichtig, denn wir müssen dem Wolf immer einen Schritt voraus sein. Das gilt auch für den Herdenschutz – jedes Gebiet braucht passende Massnahmen.
Beobachter: Kritiker sagen: Wozu dieser Aufwand? Wir brauchen den Wolf nicht.
Manz: Für mich hat jedes Tier seine Existenzberechtigung, auch der Wolf. Ausserdem: Die Rückkehr des Wolfes ist eine Tatsache. Also sollten wir uns mit ihm arrangieren.
Beobachter: Das Calanda-Rudel wird also nicht das einzige bleiben?
Manz: Wölfe sind sehr mobil und können geeignete Lebensräume rasch besiedeln. Es werden weitere Wölfe aus Italien und Frankreich einwandern. Manche Jungtiere werden abwandern und sich ein eigenes Revier suchen. Wir gehen davon aus, dass sich in der Schweiz in den nächsten Jahren weitere Rudel bilden.
Schwarzes Wolfsblut: Überleben im Rudel
Über Jahrhunderte vom Menschen als Geschöpf der Dunkelheit abgestempelt, wurde der Wolf immer wieder in die Rolle des Höllentiers und bedrohlichen Zivilisationsfeindes gedrängt. Zu Unrecht, denn das Wolfsrudel ist eine der höchstentwickelten sozialen Organisationsformen des Tierreiches; eine fünf- bis zehnköpfige Gemeinschaft. Das eigene Überleben und das der Gruppe in der rauen Wildnis zu sichern, lautet die Parole der Wölfe.