Die wahren Weltverbesserer
Sie leben als «effektive Altruisten» und spenden bis zu 50 Prozent ihres Lohns an Bedürftige: drei junge Menschen im Portrait.
Veröffentlicht am 29. Februar 2016 - 18:06 Uhr
Spenden ist nichts Neues. An Weihnachten viel, bei Naturkatastrophen mehr und immer wieder zwischendurch – oft, um das Gewissen zu erleichtern. Eine junge Bewegung will das ändern: die Anhänger des «effektiven Altruismus». «Earning to give» heisst eines seiner Hauptkonzepte – möglichst viel Geld verdienen, um es zu spenden.
Statt in einer Suppenküche zu helfen oder als Freiwillige in ein Krisengebiet zu reisen, wollen die neuen Altruisten die Welt durch Finanzspritzen gerechter machen. So schlüpfen Börsenmaklerinnen oder Investmentbanker in die Rolle von Philanthropen – indem sie mit ihrem Geld Leben retten. Einer der wichtigsten Vertreter des effektiven Altruismus ist der australische Philosoph Peter Singer. Er schreibt, alle Menschen sollten gemeinnützigen Organisationen Geld geben, wenn sie im Gegenzug «nichts vergleichbar Wichtiges» aufgeben müssten. Fünf bis zehn Prozent des Lohns erachtet Singer dafür als eine sinnvolle Grösse. Genug, um zu helfen, zu wenig, um die Einbusse im Portemonnaie wirklich zu spüren.
Wichtig ist den «effektiven Altruisten» nicht nur, dass, sondern auch wie gespendet wird. Das Geld sollte dorthin fliessen, wo der Einfluss jedes eingesetzten Frankens am grössten ist. Forscher der US-Gesellschaft Give-Well haben wohltätige Organisationen unter die Lupe genommen und errechnet, dass einige von ihnen Hunderte oder gar Tausende Mal effektiver sind als andere. Am meisten Leben pro gespendeten Franken können laut Give-Well unter anderem mit Moskitonetzen und Entwurmungstabletten verbessert werden: Sie sind billig, nutzen nachhaltig und können in Entwicklungsländern einfach verteilt werden. Schwerer haben es bei dieser Bewertung teurere Projekte, deren Wirkung nicht klar nachweisbar ist – etwa solche im Bereich Krebshilfe.
Kritiker der Bewegung bemängeln, dass diese Vorgaben zu rigid seien. Spenden sei immer mit Emotionen verbunden: So ist es vielleicht weniger effektiv, einer Blindenhundorganisation zu spenden, wenn man mit dem gleichen Geld Tausende Kinder entwurmen könnte. Aber möglicherweise bedeute diese Organisation dem Spender aus persönlichen Gründen mehr.
Die Zentren der Bewegung liegen vor allem in der englischen Universitätsstadt Oxford und in San Francisco. Laut Jonas Vollmer von der Stiftung für Effektiven Altruismus gibt es die drittgrössten Gemeinschaften in der Schweiz sowie in Melbourne, Australien.
Letztes Jahr spendeten hierzulande rund 1000 Leute über eine Million Franken «effektiv» – 2014 war es noch die Hälfte davon gewesen. Die meisten effektiven Altruisten sind jung, in der Regel Studierende oder Berufseinsteiger. Die Bewegung ist weder politisch noch religiös – auch wenn sie das Anliegen vieler Weltreligionen teilt, einen bestimmten Prozentsatz des Lohns für Wohltätigkeit auszugeben.
So sieht kein professioneller Pokerspieler aus. Das ist der erste Gedanke, wenn man Steff Huber, 29, vor sich hat. Feingliedrig, etwas scheu, mit schlichtem schwarzem Pulli und dünnen Armbändeln aus Stoff. Dabei ist Huber einer der wenigen Poker-Profis in der Schweiz. Jährlich gewinnt er im Internet und an Turnieren rund um die Welt 500'000 bis 600'000 Franken, nach den Verlusten bleiben ihm durchschnittlich zwischen 80'000 und 100'000 Franken. Zum Leben viel mehr als nötig, sagt er. Zwischen 30 und 50 Prozent seines Einkommens spendet er.
«Ich war noch nie jemand, der viel Geld braucht», sagt Huber. Im Gegenteil: Für ihn war schon als Kind logisch, dass man anderen Menschen helfen müsse. Zuerst wollte er Entwicklungshelfer werden – nach Afrika gehen, Schulen errichten, Brunnen bauen, Nahrung verteilen. Aber nachdem er sich zu Beginn seines Studiums in Politikwissenschaften mit dem «effektiven Altruismus» auseinandergesetzt hatte, merkte er, dass er mit Spenden ebenso viel bewirken kann. Denn um vor Ort überhaupt Hilfe leisten zu können, brauchen Organisationen Geld. «Und aus einer ethischen Sichtweise ist es irrelevant, ob ich jemandem direkt vor Ort oder indirekt über eine Finanzspritze helfe.»
Diese Erkenntnis kam ihm gerade recht: Er hatte sich während der Studienzeit in Poker vertieft und beim Spielen gemerkt, dass er ein Talent dafür hat.
Seit er 2012 sein Studium abgeschlossen hatte, wurde ihm das Spenden immer wichtiger. Der Höhepunkt war 2014: Huber war so fokussiert darauf, möglichst hohe Beträge spenden zu können, dass er nächtelang online durchzockte. 40 bis 60 Stunden pro Woche setzte er sich zum Ziel, vor seinen Augen immer das Geld und die Menschen, denen er damit helfen konnte. Irgendwann machte sein Körper nicht mehr mit. Er musste die Notbremse ziehen, sich vom Computer distanzieren. «Ich zwinge mich mittlerweile, nicht mehr zu spielen, nur weil ich spenden will», sagt er. «Es ist wichtig, dass ich auch sonst glücklich bin.»
Glücklich fühlt sich Huber auch, weil er geübt hat, selber mit wenig Geld auszukommen. «Viele Bedürfnisse minimiert man, nur um zu merken, dass sie gar keine echten Bedürfnisse waren», sagt er. Zu Beginn seiner Pokerkarriere gab er noch Geld für luxuriöse Hotels und Reisen aus, ass bei Turnieren in Las Vegas in teuren Restaurants. Dinge, sagt er, die für sein Glück nicht wesentlich waren. Es ist ihm deshalb wichtig, den Altruismus aus der Ecke der Askese zu holen. Er geniesse sein Leben, habe nie das Gefühl, wirklich auf etwas Wichtiges zu verzichten. Heute lebt er in einer WG, braucht rund 35'000 Franken im Jahr – «und damit bin ich immer noch reicher als 95 Prozent der restlichen Welt».
Steff Huber hinterfragt sein Handeln stets kritisch. Besonders ein Punkt habe ihn immer wieder beschäftigt: dass er anderen, die möglicherweise vom Pokern nicht loskommen, Geld abknöpft. Auf den Online-Tischen spielt er nämlich vorzugsweise in der Nacht, weil das Niveau dann tiefer ist: weniger Profis, mehr Spielsüchtige.
Nach reiflicher Überlegung hat er dieses Dilemma für sich lösen können. «Auch wenn ich nicht spielen würde, verlören Spielsüchtige immer noch», sagt er. «Einfach gegen einen anderen.» Bei ihm werde das Geld wenigstens für einen guten Zweck eingesetzt.
Es war ein Gedankenexperiment, das Jonas Müller bei seiner Lebensplanung aus dem Konzept brachte. «Würden Sie ein Kind retten, das vor Ihnen in einem Teich ertrinkt, auch wenn Sie damit Ihren 500 Franken teuren Anzug ruinieren würden?», fragt der australische Philosoph Peter Singer. Müller, wie wohl die meisten, bejahte.
Doch Singer geht weiter: «Wieso spenden Sie dann nicht 500 Franken, um ein hungerndes Kind in einem Entwicklungsland vor dem Tod zu retten?» In beiden Fällen, schreibt der Philosoph, werde ein Kind gerettet, in beiden Fällen koste es den Leser 500 Franken. «Ich grübelte echt lange darüber nach», sagt Jonas Müller, 29. «Am Schluss musste ich eingestehen, dass ich keinen Unterschied sehe.»
Damals, mit 25, hatte Müller noch wenig Geld. Er arbeitete bei einer Nichtregierungsorganisation in Schweden, entwickelte Software. Bald merkte er, dass er damit bei einer Bank ein Vielfaches verdienen würde – und das zusätzliche Geld spenden könnte. Dann machte ihm eine Schweizer Firma ein Angebot. Mit einem Lohn, der 50 Prozent höher lag als der in Schweden.
Er entschied sich deshalb für den Schritt ins Ausland, liess Eltern und Verwandtschaft zurück: «So konnte ich deutlich mehr Geld abgeben», erklärt er. «Auch wenn ich ursprünglich nicht vorhatte, in der Schweiz zu leben.»
Seither spendet Müller rund die Hälfte seines Lohns, unter anderem an besonders effektive Tierschutzorganisationen. Nicht jeden Monat in fixer Höhe, sondern immer wieder grössere Summen. Er lacht, als er vom einzigen schwierigen Moment erzählt: Kurz vor dem Mausklick, wenn er per E-Banking mehrere zehntausend Franken spenden will. «Egal, wie sicher ich mir bin, geht mir dann durch den Kopf: Verdammt, will ich wirklich so viel Geld abgeben?» Länger als ein paar Sekunden habe er aber nie gezögert. Zu logisch sei ihm das Helfen.
Jonas Müller spricht bedacht, formuliert präzise. Nur kurz flackert eine Spur Gereiztheit auf – als er vom Umgang der Menschheit mit Glück spricht. Die Forschung beweise, dass man ab einem gewissen Wohlstandsniveau das Glück durch neue Einkäufe kaum erhöhen könne. Ein teurer BMW bereite zwar kurzfristig Freude, verbessere aber längerfristig kein Leben.
Viel wichtiger seien etwa gute Freunde oder die Familie. «Dass Luxusgüter dennoch einen so hohen Stellenwert haben in unserem westlichen Leben, ist einfach nicht rational.» Er lebt bescheiden. Kein Auto, keine Luxusferien, keine mächtige Uhr am Handgelenk. Und keine teuren Take-aways auf dem Nachhauseweg, wenn er ohnehin in zehn Minuten zu Hause ist und kochen kann.
Mit seinem Spendeverhalten stösst Jonas Müller oft auf Unverständnis: «Viele Leute wollen einen Grund finden, weshalb mein Spenden keinen Sinn macht.» Ein Wort, das ihm dann immer wieder an den Kopf geworfen wird, ist «Gutmensch». Er zuckt die Schultern, lächelt. «Irgendwie scheint es total akzeptiert, ein bisschen Geld wegzugeben. Aber sobald ein normaler Mensch höhere Beträge spendet, hat das für viele einen negativen Beigeschmack.» Warum, weiss er nicht. «Ich glaube, das sind einfach die Normen unser heutigen Gesellschaft.»
An Familientreffen bekommt Tobias Pulver manchmal die Frage zu hören: «Verdienst du denn eigentlich genug?» Wenn er dann den Betrag nennt, fallen sie aus allen Wolken. Das gehe doch nicht, heisst es. Damit könne man sich ja gar nichts leisten. Pulver winkt jeweils lächelnd ab. Er arbeitet derzeit bei der Stiftung für Effektiven Altruismus in Basel. Und er spendet statt Geld seine Zeit: Er verzichtet bewusst auf mehr Lohn, damit die Stiftung ihre Arbeit vorantreiben kann. Pro Monat braucht Pulver rund 2500 Franken zum Leben. «Würde ich mehr verdienen, würde ich es spenden.»
Tobias Pulver ist seit vier Jahren in der Bewegung in der Schweiz aktiv und gehört mittlerweile zu deren treibenden Kräften. Für seine Überzeugung hat der 25-Jährige sein Leben verändert: Er lebt aus ethischen Gründen vegetarisch, obwohl er Fleisch liebt, und ist vor zwei Jahren nach Basel gezogen. «Als ich noch in Bern wohnte, haben wir am Abend in der WG primär Serien geschaut», erinnert er sich. Es sei eine super Zeit mit tollen Leuten gewesen. «Aber ich hatte oft das Gefühl, dass mein Leben erfüllender sein sollte. Ich wollte etwas zur Lösung globaler Probleme beitragen.»
In Basel wohnt er nun mit anderen «effektiven Altruisten» zusammen. Statt Serien zu schauen, liest er Bücher über Ethik und Werte, diskutiert darüber und kocht mit seinen WG-Kollegen. Denn auswärts essen ist teuer.
Pulver musste lernen, dem effektiven Altruismus den richtigen Stellenwert in seinem Leben zu geben: genug zu spenden, ohne die eigenen Bedürfnisse zu ignorieren. Er las etwa, dass eine Entwurmungstablette für ein Kind in Afrika 50 Rappen kostete. Statt einen Kaffee an der Uni zu trinken, könnte er also drei Kinder entwurmen lassen. Für den Preis einer Tafel Schokolade schon vier. Bald richtete er alle Konsumgewohnheiten danach aus, konnte nicht mehr Kleider kaufen gehen, ohne sich zu fragen: «Brauche ich das wirklich?» Heute versucht er, das zu vermeiden. «Es ist nicht gesund, sich immer solche Fragen zu stellen. Man muss auch eine gewisse Entspanntheit haben und zu sich selber schauen.»
Bis heute ist es für den ehemaligen Studenten der Politikwissenschaft aber selbstverständlich, unnötige Ausgaben zu vermeiden. Gern würde er für ein halbes Jahr durch Südostasien reisen. Bislang blieb der Wunsch unerfüllt. «Auf einer rationalen Ebene», sagt er, «bin ich mit dem Verzicht einverstanden.» Weil es ihm auch ohne Aufenthalt in Laos und Kambodscha sehr gut gehe. Und weil er das Geld spenden könnte, statt es für eine Reise zu verpulvern. «Möglichst wenig auszugeben etabliert sich bald als Gewohnheit. Und man merkt überraschend schnell, wie wenig man braucht, um glücklich zu sein.» Daher empfindet er den Verzicht auch nicht als Aufopferung.
Wäre der «effektive» Altruismus eine Sportart, dann wäre Tobias Pulver ein Extremsportler. Fokussiert, engagiert, diszipliniert. Er betont aber, er erwarte das nicht von anderen: «Auch Breitensport ist super.» Er fordert von keinem, die Hälfte des Lohns abzugeben. Viel wäre schon getan, sagt er, wenn man ein paar Prozent spenden würde. Oder das, was man schon spendet, effektiveren Organisationen gäbe.
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