Je langweiliger, desto besser
Langeweile mag eine nervige Sache sein. Für Forscher ist aber klar: Sie macht uns kreativ und klüger. Bloss steuern lässt sich das nicht.
Veröffentlicht am 4. Februar 2016 - 11:44 Uhr
Fünfzehn Minuten lang nichts tun – oder sich selbst schmerzhafte Stromstösse versetzen: Was ziehen Sie vor? Das wollte der US-Psychologe Timothy Wilson von Freiwilligen wissen. Verblüfft beobachtete der Forscher, dass zwei Drittel der Männer und ein Viertel der Frauen im Alter zwischen 18 und 77 tatsächlich die Stromstösse wählten. Frei nach dem Motto: lieber Schmerz als Langeweile.
Die meisten von uns tun sich zwar nicht weh, um der Monotonie zu entkommen. Aber auch wir lassen uns gar nicht erst auf sie ein. Sobald wir einen Anflug von Eintönigkeit verspüren, greifen wir lieber zum Smartphone und tauchen ins Web ab oder lassen uns vom Fernseher berieseln.
Dabei ist die Langeweile besser als ihr Ruf. In den letzten Jahren beobachten vor allem Kognitionspsychologen und Hirnforscher: Langeweile hat einen Zweck – und zwar einen positiven.
Was genau aber ist Langeweile? Die Wissenschaft definiert sie als «unerfüllten Wunsch nach befriedigender Tätigkeit». Allerdings täuscht das Gefühl der gähnenden Leere darüber hinweg, dass unser Verstand auf einzigartige Weise aktiv wird, wenn wir uns langweilen: Neurowissenschaftler verzeichnen eine verblüffend intensive Gehirnaktivität bei Testpersonen, denen bei langwierigen Experimenten öde wird.
Wenn sich die Probanden auf eine bestimmte Tätigkeit konzentrieren, leuchten im bildgebenden Verfahren für gewöhnlich bloss vereinzelte Hirnregionen auf. Das signalisiert, dass diese Areale für die Ausführung der jeweiligen Aufgabe zuständig sind und gerade viel Sauerstoff und Nährstoffe verbrauchen. Wenn den Probanden aber langweilig wird, sind nicht mehr nur einzelne Hirnregionen beschäftigt – plötzlich leuchten sowohl hintere und mittlere als auch vordere Teile des Gehirns auf dem Monitor auf. Kurzum: Wir mögen zwar gelangweilt vor uns hin dämmern, doch die Denkzentrale hat Hochbetrieb.
«Langeweile ist jene unangenehme ‹Windstille› der Seele, die glücklicher Fahrt und lustigen Winden vorangeht.»
Friedrich Nietzsche, Philosoph
Der US-Neurologe Marcus Raichle war der Erste, der dieses Zusammenspiel der verschiedenen Gehirnteile beobachtete. Er taufte es das Default-Mode-Netzwerk. Im Deutschen spricht man vom Ruhezustands- oder Leerlaufnetzwerk. In diesen Modus kehrt das Gehirn immer wieder zurück, etwa wenn uns langweilig ist, wenn wir faul auf der Couch liegen oder gedankenverloren aus dem Fenster starren. Was dann passiert, zeigt sich am Beispiel des Precuneus, eines Teils des Hirnmantels am oberen Hinterkopf, ungefähr so gross wie ein Kolibri: Wenn Langeweile einsetzt, wird der Precuneus zur Region mit der höchsten Stoffwechselrate im Gehirn. «Er verschlingt Glukose wie ein durchgeknallter Kolibri», witzelt der in Basel tätige Kognitionswissenschaftler und Autor Andrew Smart. Was er dabei anstellt? «Er scheint an der Selbstbetrachtung beteiligt zu sein.»
Direkt nutzen lässt sich dieser Vorgang allerdings nicht. Das Leerlaufnetzwerk arbeitet zwar in Momenten des Nichtstuns fleissig vor sich hin und stellt neue Verbindungen zwischen unseren Gedächtnisinhalten her. Dadurch können durchaus neue Einsichten rund um die Selbstwahrnehmung aufkommen – bloss arbeitet das Netzwerk, ohne dass wir uns dessen bewusst sind oder es steuern könnten. «Und dann – aus Gründen, die wir noch nicht ganz verstehen – dringen diese Gedanken manchmal in unser Bewusstsein», sagt Smart.
Was wir mit Hilfe der Langeweile jedoch bewusst kontrollieren und fördern können, ist unsere Kreativität. Je fader es um uns ist, desto fantasievoller wird es im Kopf. So lautete das Fazit der britischen Psychologinnen Sandi Mann und Rebekah Cadman. Ihre Versuchspersonen schrieben eine Viertelstunde lang Nummern aus dem Telefonbuch ab. Dann sollten sie sich Verwendungszwecke für zwei Kunststoffbecher einfallen lassen. Diese durften so ausgefallen, unpraktisch und albern sein, wie es den Teilnehmern beliebte. Überraschend: Gerade der grossen Leere entkommen, zeigten sich die Freiwilligen besonders einfallsreich. Ihnen fiel deutlich mehr ein als der Kontrollgruppe, die zuvor keiner stupiden Aufgabe nachgegangen war.
Im zweiten Versuch durfte eine Gruppe erneut Telefonnummern herausschreiben, während der zweiten nicht einmal das gestattet war – die Teilnehmer durften lediglich im Telefonbuch blättern. Das Resultat: Die Telefonbuchleser ersannen noch mehr Einfälle für die zwei Plastikbecher als die Gruppe der Abschreiber. Kurzum: Je öder die Aufgabe, desto kreativer sind wir anschliessend.
Arbeitspsychologen auf beiden Seiten des Atlantiks ergründen momentan, ob man diese Beobachtungen auf den Büroalltag übertragen könnte. Wie liesse sich Langeweile bestmöglich stiften, um die optimale Kreativität der Mitarbeiter zu schüren? Die Antwort bleibt abzuwarten. Noch wissen Wissenschaftler zu wenig darüber, auf welche Weise die Monotonie unseren Einfallsreichtum stimuliert.
Was auch immer Langeweile hier mit dem menschlichen Verstand anstellt – wir können von ihr profitieren. Bereits der junge Goethe wusste, dass der Leerlauf das schöpferische Potenzial wachrufen kann. In einem Gedicht von 1772 nannte er die Langeweile «Tatenschwangerste der Götter». Später taufte er sie «Mutter der Musen». Auch Nietzsche hielt das fade Nichtstun für einen wertvollen Ideeninkubator: «Für den Denker und für alle erfindsamen Geister ist Langeweile jene unangenehme ‹Windstille› der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht; er muss sie ertragen, muss ihre Wirkung bei sich abwarten.»
Langeweile vermag noch mehr, sagen Hirnforscher. Sie glauben, dass der Zustand auch unserem Gedächtnis nützlich sein kann. Während uns öde ist, können sowohl Dinge, die wir neu gelernt haben, als auch aktuelle persönliche Erfahrungen verarbeitet und ins Langzeitgedächtnis übertragen werden. Man spricht von Gedächtniskonsolidierung: Sie setzt ein, wenn wir eine Weile nichts tun, uns nicht auf eine konkrete Aufgabe konzentrieren.
«Langeweile hilft uns, uns zu entwickeln und zu wachsen.»
Peter Toohey, Altphilologe
Es mag schwerfallen, sich ausgerechnet Langeweile als Antriebskraft für Neues vorzustellen. Doch Langeweile kann zur starken Motivationskraft werden, betont der kanadische Forscher Peter Toohey: Wie bei anderen unangenehmen Emotionen – etwa Schmerz – fühlen wir uns durch die unschöne Monotonie aufgefordert, etwas an unserem aktuellen Zustand zu ändern. «Langeweile hilft uns, uns zu entwickeln und zu wachsen», so Toohey.
Langeweile könnte der Menschheit sogar entscheidend bei ihrer Entwicklung helfen: Sie motiviert uns im evolutionären Sinn. Diese Ansicht vertritt die in Schottland tätige Evolutionsforscherin Françoise Wemelsfelder. Langeweile soll unseren Vorfahren den Anstoss gegeben haben, sich nicht mit dem Alltäglichen und Vertrauten zufriedenzugeben, sondern Neues zu entdecken. Wozu vielleicht sonst der Einfallsreichtum oder auch der Mut gefehlt hätte, dazu konnte die Langeweile animieren. Angefangen bei kleinen Dingen, etwa dem Ausprobieren einer unbekannten Frucht – bis hin zur Erkundung ganzer Kontinente und der wissenschaftlichen Beschäftigung mit unserer Psyche.