Weniger ist mehr
Alan Frei hält vieles für unnötig, was andere zuhauf zu Hause stehen haben. Er ist einer der neuen Minimalisten.
Veröffentlicht am 3. Februar 2014 - 10:50 Uhr
«Bist du eben erst eingezogen?» Diesen Satz hört Alan Frei oft, wenn jemand zum ersten Mal seine Wohnung betritt. Die Frage stellt sich nicht, weil Zügelkisten herumstehen. Nein. Es steht und liegt eben fast nichts herum.
Ein Bettsofa und ein Tischchen. Ein Regal. Ein Bildschirm. Am Fenster ein Stuhl, eine Lampe, ein einfacher Tisch. Darauf Laptop, Drucker und zwei Stempel. «Mehr wäre unnötig», sagt Alan Frei über sein Wohnzimmer, in dem er auch schläft und arbeitet.
Bilder an den Wänden? Braucht es nicht. Bücher? Hat er elektronisch auf dem Handy. Kleider? Haben in einem Spind Platz: drei Paar Hosen, sechs Hemden («noch zu viele»), Krawatten («noch viel zu viele»), Unterwäsche und Socken. Frei ist 31-jährig, leitet die Startup-Plattform der Universität Zürich und bringt mit seiner eigenen Firma Innovationen auf den Markt. Er könnte sich viel Unnötiges leisten – will er aber nicht.
Es begann vor etwa einem Jahr mit «Phase eins», wie Frei sie nennt. Er las einen Artikel über Nicolas Berggruen, den «heimatlosen Milliardär». Berggruen verkaufte nahezu all sein Hab und Gut, reist seither für seine Geschäfte in der Welt herum und wohnt in Hotels. Der Milliardär sagt, es lebe sich einfacher mit weniger Besitz.
Die Geschichte faszinierte Frei. Es war eine Zeit, in der der junge Ökonom sehr viel arbeitete – und sich fragte, wie flexibel er wäre. Wenn er plötzlich im Ausland arbeiten sollte. Wenn er plötzlich ohne Job dastünde. «Ich wollte mehr Freiheit», sagt der Zürcher rückblickend. «Mehr Freiheit, um mich auf das Wichtige konzentrieren zu können, auf neue Ideen, auf die Arbeit, auf Zeit mit Freunden.» All die herumstehenden Dinge lenkten ihn ab, schienen das Fokussieren zu erschweren. Die Amerikanerin Francine Jay, die ein Buch über «die Freude am Weniger» geschrieben hat, kennt dieses Gefühl von Schwere und Lethargie, die einen in überfüllten Zimmern befallen kann, ebenfalls: «Zu viel Durcheinander kann unsere Stimmung belasten», ist sie überzeugt.
Frei begann auszumisten. Zuerst kam das Nutzlose an die Reihe. Zwei Paar Skier, die er nie brauchte. Ein Helm, in den sich Biergläser stellen liessen. Er hatte ihn mit 18 während seines ersten USA-Aufenthalts gekauft. Ein Erinnerungsstück, ja. Aber unnütz. Also raus. Sein zweites und drittes Paar Handschuhe liess Frei im Tram liegen, damit sie jemand mitnehmen konnte.
Nicht bei allem fiel ihm die Trennung leicht. Diese Dinge packte er in eine Tasche und stellte sie mehrere Monate in den Keller. «Sollte ich sie vermissen, könnte ich sie jederzeit zurückholen», sagt Frei. Er vermisste sie nicht und gab die Sachen seinem Bruder. Die Tasche im Keller stehen zu lassen war keine Option für Frei: «Im Hinterkopf trägt man diese Dinge immer mit sich rum, weiss, da ist etwas, das man eigentlich aufräumen muss.»
Alan Frei fühlte sich gut bei dem, was er tat, und machte weiter. «Das Reduzieren von Besitztümern hat Suchtpotenzial», gesteht er. «Es ist unglaublich befreiend.» Letzten Sommer ging er darum zu «Phase zwei» über: «Verdichtung». Er gab den Spaghetti-Kochtopf weg, denn da standen ja noch zwei weitere Pfannen im Schrank. Ebenfalls bleiben durften zwei Tassen, zwei Gläser, zwei Teller, je zweimal Messer, Gabel, Löffel und zwei Tupperware-Behälter. «Ich hatte festgestellt, dass ich in 90 Prozent der Fälle allein esse, in etwa sieben Prozent koche ich für zwei. Für die restlichen wenigen Gelegenheiten eine ganze Küchenausstattung zu behalten war unnötig.» Die Sprüche seiner Freunde konterte Frei mit einer Einladung zu einem Essen, für das die Gäste weder Wein noch Dessert mitbringen sollten – «nur ihr eigenes Geschirr».
Ganz konsequent ist Frei allerdings nicht. Er will es auch nicht sein: Für den Notfall hat er Plastikgeschirr, und eine der wenigen benutzten Schubladen in der Küche beherbergt einige Flaschen Alkohol für Besuch. Ansonsten stehen da noch eine Kaffeemaschine und eine Mikrowelle, «die den März wohl nicht erleben wird. Ich brauche sie nie.»
Freis Lebensstil hat einen Namen: digitaler Minimalismus. Im Internet berichten die Anhänger von ihren Erfahrungen. Das Phänomen wird durch das Internet und Smartphones erst möglich (siehe Interview «Angehäufter Besitz wird zum Ballast»). Denn Alan Frei hat recht, wenn er sagt: «Wenig besitzen heisst nicht unbedingt verzichten.» Die Musik, die er hört, kommt nicht von CDs, die viel Platz brauchen, sondern vom Handy via Bluetooth über ein kleines Gerät, das die Stereoanlage mit grossen Boxen ersetzt. Selbst auf den Laptop könnte der Geschäftsmann verzichten – «alles in der Cloud gespeichert und mit dem Handy oder von einem externen Computer abrufbar». Fotos, Bücher, immer öfter auch Papierkram wie Rechnungen.
Die Beweggründe für den minimalistischen Lebensstil sind so vielfältig wie seine Anhänger. Die einen haben einfach genug von überfüllten Zimmern und Kellern. Andere wollen Ressourcen oder ihr Portemonnaie schonen. Und die Dritten widersetzen sich den ständigen Verlockungen des Konsums.
Alan Frei sagt, er kaufe heute bewusster ein, versuche Ressourcen zu schonen. Aber das sei damals nicht ausschlaggebend für den Entscheid gewesen, seinen Alltag zu entschlacken. Als Konsumkritik will er seine Art zu leben auch nicht verstanden wissen. Sein Tun sei, wenn schon, eher ökonomisch geleitet. Er gebe heute viel weniger Geld aus als früher. Vieles lohne es sich auch gar nicht zu kaufen und zu besitzen, sagt er. «Ich könnte mir vorstellen, für ein Wochenende einen Aston Martin zu mieten. Kaufen hingegen würde ich ihn nie, weil das Auto die meiste Zeit herumstehen und nur Kosten verursachen würde.»
Dass Kritiker den Lebensstil als dekadente Ausgeburt des Überflusses in der westlichen Welt bezeichnen, nimmt Frei gelassen. «Ich schade mit meinem Verhalten niemandem», entgegnet er. Ob er vom Minimalismus abkäme, wenn er Familie hätte, weiss er nicht. «Möglich.» Jedenfalls sei er heute ein zufriedener Mensch. Denn im Fahrwasser der Wohnungsentrümpelung hat Frei sein ganzes Leben zu vereinfachen versucht. Er reist nur noch mit Handgepäck, einem Rucksack, für den er eine spezielle Innenmatte gekauft hat, auf der alles fein säuberlich befestigt ist, was er braucht: Ladekabel, ein Gerät, um Bankzahlungen machen zu können, Ohropax, Haargel und ein kleines Parfum – denn: «Nur weil man wenig besitzt, muss man nicht schmuddelig sein.»
Er arbeite nicht nur konzentrierter, auch das Reisen sei leichter geworden. Zudem habe er mehr Zeit. «Keine unnötige Zeitverschwendung, weil man sich im Laden oder vor dem Kleiderschrank für dieses oder jenes entscheiden muss. Ich kann über einen grossen Teil meiner Zeit selbst entscheiden. Wenn ich in einem Café sitze, schalte ich das Handy ab und kann den Moment wirklich geniessen.» Er hat hinter sich gelassen, was «Miss Minimalist» Francine Jay in ihrem Buch beschreibt mit: «Wir sind so sehr beschäftigt damit, uns mit Kram zu befassen, rennen hin und her, kaufen dieses und jenes, dass wir wenig Zeit finden, innezuhalten und herauszufinden, was uns wirklich antreibt.»
Noch etwa 230 Gegenstände besitze er, sagt Alan Frei. Da sei noch viel Luft drin: die Mikrowelle eben, die Krawatten und die sieben Paar Schuhe. «Unnötig.»
Materieller Besitz verliert an Bedeutung, sagt der Trendforscher David Bosshart vom Gottlieb-Duttweiler-Institut. Oft genüge tauschen oder mieten.
Beobachter: Weder Auto noch Bücher, kaum Kleider: Ist wenig Besitz plötzlich salonfähig, oder wollen nur ein paar wenige ausmisten?
David Bosshart: Ich würde im Moment nicht von einem Massentrend sprechen, aber die Gesellschaft verändert sich. Die zwei Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg erarbeiteten sich Wohlstand und waren entsprechend stolz auf ihren Besitz, der auch Fortschritt symbolisierte. Bei der jungen Generation sind Autos und andere frühere Statussymbole hingegen selbstverständlich. Unsere Beziehung zu den Dingen scheint sich zu verändern. Persönlicher Besitz ist ein weniger dominantes Motiv und wird nicht zwangsläufig mit Status verbunden.
Beobachter: Welche Rolle spielt die Digitalisierung bei dieser Entwicklung?
Bosshart: Digitalisierung erzieht uns und beeinflusst unser Verhalten – positiv wie negativ. Wir lernen Dinge zu teilen – vom Wissen über Bilder und Essen bis Autos. In einer schnelllebigen Welt, für die Mobilität und Flexibilität immer wichtiger werden, wird angehäufter Besitz eher zum Ballast als zum anhaltenden Glücksfaktor. Je grösser die Wohnfläche, desto mehr Dinge werden gestapelt, die man gar nie benutzt oder beachtet. Die junge Generation scheint zu realisieren: Es lässt sich leicht viel sparen. Kaufen, aufbewahren, warten, entsorgen ist viel zu mühsam. Viel wichtiger ist Verfügbarkeit zur richtigen Zeit. Oft genügt daher tauschen, mieten, benutzen. Damit kann man ohne Verzicht Fixkosten tief halten. Das heisst beispielsweise Carsharing statt Auto.
Beobachter: Wollen vor allem Junge wenig besitzen?
Bosshart: Die Erfahrungen aus der Jugend prägen und verleihen Identität. Daher wird das Wissen darum bleiben, dass es sich auch mit weniger Besitz gut leben lässt. Denn man muss ja nicht verzichten. Wer also als junger Mensch kein Buch besitzt, weil er alles auf dem smarten Gerät liest, der wird später vielleicht eine Erstausgabe von Karl May oder Thomas Mann erben und sie als Ausstellungsobjekt behalten. Aber seine Wohnung wird vermutlich nie einer Bibliothek gleichen.
Beobachter: Was bedeutet die Tendenz zu weniger Besitz längerfristig?
Bosshart: Wie weit sich diese Entwicklung durchsetzt, werden wir sehen. Es ist sicherlich eine kluge Strategie in einer Welt, in der Raum, Zeit und Geld als knapp erlebt werden. Positive Nebeneffekte sind dabei unter anderem weniger Abfall, weniger überflüssiger Ressourcenverschleiss und weniger Abhängigkeiten.
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