«Solche Aufnahmen sind daneben»
Fast überall läuft eine Kamera mit: Handyfilme mit echten Todesfällen, Sex und Verbrechen häufen sich im Netz. Vier Jugendliche über den Umgang mit Bildern, Videos und Internet.
Veröffentlicht am 10. April 2012 - 09:18 Uhr
Die Online-Medien wollen sie: Aufnahmen, die «einen Unfall» («Blick»), «dramatische Ereignisse» («20 Minuten») oder «Aussergewöhnliches» («Der Bund»), dokumentieren. «Fackeln Sie nicht lange.Zücken Sie Ihr Smartphone, fotografieren oder filmen Sie und schicken Sie uns das Sujet»: Mit diesen Worten schickt zum Beispiel der «Blick» seine Leser auf Bilderjagd. Für «das Wahnsinns-Foto, von dem die Schweiz reden wird», winken bis zu 3000 Franken. Allfällige Rechte der Beteiligten oder das Leid der Betroffenen werden dabei ausgeblendet, wie aktuelle Beispiele zeigen.
In gleicher Manier werden Bilder mit weniger Nachrichtenwert auch auf Plattformen wie Youtube und Facebook hochgeladen oder von Handy zu Handy weitergesendet. Das sei zwar falsch, sagen Lina, 14, Ines, 13, Dario, 16, und Chris, 15 – aber einfach ein Teil der Realität.
Beobachter: Kürzlich kursierte im Internet ein Video, in dem ein 13-jähriges Mädchen vom Dach eines Gebäudes in Zürich springt. Hat jemand von euch die Aufnahme gesehen?
Chris: Ja, ich habs auf Facebook gesehen.
Ines: Ich auf dem Handy eines Kollegen.
Dario: Ich habs noch nicht gesehen, aber ich schaus mir heut noch an.
Lina: Echt?
Dario: Ich finde halt, man muss wissen, worum es geht.
Lina: Nein, solche Aufnahmen sind so daneben.
Beobachter: Wenn ihr beobachtet hättet, wie das Mädchen dort oben stand – was hättet ihr getan?
Chris: Versucht, mit ihr zu sprechen.
Ines: Oder sonst irgendwie zu helfen. Die hatte sicher Probleme.
Beobachter: Nicht das Handy gezückt?
Ines: Nein, sicher nicht.
Dario: Das ist schon krass, wenn man das sieht, wie die da runterfällt und man weiss, die ist jetzt tot.
Ines: Sie ist nicht tot, sie hat überlebt.
Chris: Echt? Trotzdem.
Beobachter: «Blick Online» zeigte nach einem Verkehrsunfall Aufnahmen des betrunkenen und verletzten Fahrers, der den Tod einer Beifahrerin verschuldet hat – war das okay oder nicht?
Chris: Nicht okay, auch wenn der Fahrer schuld war. Für die Eltern, die wissen, in dem Auto stirbt gerade meine Tochter, ist das furchtbar.
Ines: Dass so was veröffentlicht wird, ist beschämend.
Lina: Aber da sind dann auch die Medien schuld, die das bringen.
Beobachter: Ihr findet diese Dinge furchtbar, und trotzdem habt ihr euch alle diese Videos angeschaut.
Dario: Man schaut das automatisch.
Chris: Es zieht einen halt irgendwie an.
Lina: Ich finde es schon mega krass, was auf der Welt alles passiert. Als Kind weisst du nichts von solchen Sachen, und dann siehst du auf einmal diese Todesfälle und Unglücke.
Beobachter: Bist du deswegen ängstlicher?
Lina: Ja, schon.
Dario: Man sieht halt, was alles passieren kann. Manchmal wird zwar auch darüber gelacht. Oder irgendjemand behauptet, es sei nicht echt. Manche Sachen gehen eindeutig zu weit. Habt ihr «Split Face» gesehen?
Chris: Oh, ja. Voll krass.
Beobachter: Was ist das?
Dario: Da springt einer von einer Mauer ins Wasser. Er rutscht ab, schlägt auf einer Kante auf und spaltet sich dabei das Gesicht. Man sieht, wie sich das Blut im Wasser ausdehnt.
Chris: Der hat kein Gesicht, keinen Kiefer mehr. Nur noch ein Loch. Und ein Sanitäter hält ihm so mit beiden Händen den Kopf zusammen.
Ines: Uuaah – schlimm!
Dario: Es gibt viele solche Videos.
Chris: In einem Video aus China sieht man, wie ein kleines Mädchen überfahren wird, und mehrere Passanten gehen einfach daran vorbei, ohne sich um das Kind zu kümmern.
Dario: Ja, oder eines, wo eine Frau einer kleinen Katze auf den Kopf steht – voll mit dem Absatz.
Lina: Oder die Frau, die junge Hunde in einen Fluss schmeisst, einen nach dem anderen.
Beobachter: Warum werden solche Sachen überhaupt ins Netz gestellt?
Ines: Es geht um Aufmerksamkeit. Aber es ist echt armselig.
Dario: Man will Kommentare oder «Likes» auf seinem Profil.
Beobachter: Kommen euch Beispiele in den Sinn, bei denen Filmaufnahmen auch hilfreich sein könnten?
Ines: Na ja, als Beweis bei einem Verbrechen, wenn jemand verprügelt wird oder so.
Chris: Da sollte man nicht filmen, sondern dazwischengehen.
Lina: Dann wirst du auch noch verprügelt.
Beobachter: Wenn ihr selbst Filmaufnahmen macht und ins Internet stellt – was sind denn das für Videos?
Ines: Wie wir abhängen oder rumblödeln.
Dario: Und Hobbys. Ich habe ein paar Clips ins Netz gestellt, in denen ich Klavier spiele. Oder vom Fünfmeter springe.
Beobachter: Kennt ihr Regeln oder Gesetze, wenns um Filme im Netz geht?
Lina: Pornographie ist verboten.
Ines: Und Gewalt.
Chris: Nein, Gewalt ist nicht verboten.
Beobachter: Sind von jemandem von euch schon einmal Bilder oder Filmaufnahmen ins Internet gelangt, ohne dass ihr einverstanden wart?
Ines: Ja, meine Gotte hat Fotos von meinem achten Geburtstag hochgeladen – das ist voll peinlich!
Lina: Eine Kollegin hat Fotos online gestellt, auf denen ich komisch aussehe, das gab dann viele negative Kommentare. Also bat ich sie, die Bilder wieder wegzunehmen. Und einmal haben zwei Kolleginnen von mir in der Badi ein Mädchen gefilmt, das ein bisschen dick ist. Sie haben fiese Sachen gesagt und den Film ins Internet gestellt. Das Mädchen traute sich dann wochenlang nicht mehr in die Schule.
Chris: Das ist Mobbing.
Lina: Die Eltern von denen haben das dann irgendwie geregelt.
Beobachter: Wie verhindert ihr, dass euch selbst so was passiert?
Ines: Das kann man eigentlich nicht verhindern.
Lina: Ich versuche, möglichst nicht peinlich zu sein – was mir leider oft misslingt.
Dario: Man muss halt versuchen, möglichst keine Dummheiten zu machen.
Ines: Einige sind auch selber schuld. Jungs verschicken manchmal Bilder von sich mit nacktem Oberkörper – das ist ja auch nicht schlimm. Aber manche Mädchen schicken dann als «Gegenleistung» Oben-ohne-Bilder von sich.
Lina: Oder sie zeigen noch mehr. Und diese Bilder werden dann verbreitet. Eine Kollegin hat ihrem Freund Nacktaufnahmen von sich geschickt, und der hat sie dann an halb Zürich weiterversendet. Ist ja klar, dass Jungs in dem Alter das machen.
Chris: Ich habe die Aufnahmen gelöscht.
Ines: Du hast die auch bekommen?
Chris: Ja, als ich gerade im Unterricht sass. Aber eben, ich habe sie gelöscht.
Ines: Du vielleicht, aber trotzdem wurden die mittlerweile in der ganzen Schweiz verbreitet.