«Wir sprechen von wirklich gewaltigen Dimensionen»
Die Alpengletscher werden bis Ende Jahrhundert auf zehn Prozent ihrer Fläche schrumpfen, sagt der Glaziologe Matthias Huss von der ETH Zürich im Gespräch. Stoppen lässt sich der Schwund nicht.
Veröffentlicht am 17. August 2015 - 17:05 Uhr
Zur Person
Matthias Huss, 35, ist promovierter Glaziologe und arbeitet als Oberassistent an der ETH Zürich sowie der Universität Freiburg. Er ist leidenschaftlicher Bergsteiger.
Beobachter: Das Wort Gletscherschwund ist zurzeit in aller Munde. Ist die Lage tatsächlich so dramatisch?
Matthias Huss: Ja, im Moment ist es sehr schlimm. Das spürt man ja auch täglich hier unten bei uns, wenn es so heiss ist. Klar, dass dann die Gletscher sozusagen auch schwitzen und ihr gespeichertes Wasser verlieren.
Beobachter: Nur ein momentanes Problem?
Huss: Seit 1985 verzeichnen wir einen durchgehenden und starken Gletscherrückgang. Vorher, während des ganzen Mittelalters und darüber hinaus, wuchsen die Gletscher bis zum Ende der Kleinen Eiszeit um 1850. Vermutlich bereitete die Industrialisierung dem Wachstum ein Ende. Seither schmelzen die Gletscher, aber nicht linear. Zwischendurch wuchsen sie wieder, etwa zwischen 1910 und 1920 sowie 1970 und 1980. Das letzte Zulegen ist also erst etwa 30 Jahre her.
Beobachter: Werden sie weiter schrumpfen?
Huss: Bestimmt. Das Klima wird sich weiter erwärmen, wie stark, darüber sind sich die Experten uneinig, aber alle Szenarien belegen eine Erwärmung. Wenn man das Klima auf dem Niveau anhalten würde, auf dem wir heute sind, würden alle Gletscher weiter zurückgehen, denn sie sind aus dem Gleichgewicht geraten.
Beobachter: Was heisst das?
Huss: Durch die Erwärmung schmelzen sie schneller und ziehen sich in höhere Lagen zurück. Die grossen Gletscher, wie der Aletsch mit gut 800 Meter Eis an der dicksten Stelle, hinken durch ihre Mächtigkeit dieser Entwicklung hinterher, schmelzen also verzögert. Anhand einer Modellstudie haben wir berechnet, dass sich, wenn man die Temperatur auf dem Niveau von 1990 bis 2010 stabilisieren würde, die Zunge des Aletsch bis Ende Jahrhundert um sechs Kilometer zurückziehen würde. Das ist doppelt so viel wie von 1880 bis heute. Wir sprechen also wirklich von gewaltigen Dimensionen.
Im Bild sehen Sie den Morteratsch-Gletscher im bündnerischen Bernina-Gebiet in den Jahren 1900 und 2012. Bewegen Sie den Slider nach links oder rechts, um den Gletscherschwund zu vergleichen.
Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Swiss Educ. Auf dem Gletscher-Portal der beiden Geologen Jürg Alean und Michael Hambrey finden Sie noch zahlreiche andere Gletscher-Vergleiche sowie eine Liste aller Gletscher dieser Welt.
Beobachter: Der Juli war dieses Jahr fünf Grad wärmer als im langjährigen Mittel. Bisher sieht es im August ähnlich aus. Droht ein Hitzesommer wie 2003?
Huss: Es ist schon jetzt klar, dass 2015 für die Gletscher sehr schlimm wird. Ob ähnlich krass wie 2003 – damals verloren sie im Schnitt drei Meter an Dicke –, das lässt sich noch nicht sagen. Aber schon seit Anfang August ist praktisch die gesamte Schneedecke weg. Das heisst: Die Gletscher liegen blank da, ohne Schutz, und die Hitze greift das Eis direkt an. Wir haben im August bereits so wenig Schnee wie letztes Jahr im Oktober – zwei Monate früher.
Beobachter: Welche Gletscher sind am stärksten betroffen?
Huss: Grosse, flache Gletscher wie der Plaine Morte in den Berner Alpen oder der Aletsch gehen stärker zurück als kleinere an steilen Bergflanken.
Beobachter: Warum?
Huss: Kleine Gletscher mit steilen Zungen, wie der Allalin im Wallis, können sich schneller anpassen. Denn steile Zungen sind relativ dünn, und wenn sie schmelzen, ziehen sich die Gletscher schnell in höhere Lagen zurück, wo sie näher bei ihrer Komfortzone liegen.
«Selbst der Aletsch, der grösste Gletscher der Alpen, wird nur noch als kleiner Rest fortbestehen.»
Matthias Huss, Glaziologe
Beobachter: Wird es Ende Jahrhundert noch Gletscher in den Alpen geben?
Huss: Gemäss unseren Prognosen werden nur noch zehn Prozent da sein, also 90 Prozent des Eisvolumens verschwunden sein. Leider ändert daran auch eine starke Eindämmung der CO2-Emissionen nur relativ wenig.
Beobachter: Die Gletscher schwinden also auch beim besten Klimaszenario?
Huss: Ja, selbst der Aletsch, der grösste Gletscher der Alpen, wird nur noch als kleiner Rest fortbestehen.
Beobachter: Was hat das für Auswirkungen?
Huss: Die Gletscher sind für den Wasserhaushalt der Schweiz entscheidend. Über 50 Prozent der Elektrizität stammen in unserem Land aus Wasserkraftwerken. Diese Kraftwerke stehen in Regionen, die durch Gletscherwasser gespeist werden. Gletscher sind riesige Wasserspeicher in grosser Höhe, ihre wichtigste Funktion ist es, das Wasser zurückzuhalten und erst dann abzugeben, wenn wir es brauchen. Sie speichern es im Winter in Form von Schnee und geben es im Sommer wieder ab. Wenn wir keine Gletscher mehr haben, fehlt das Wasser im Sommer, wenn wir es am dringendsten benötigen.
Beobachter: Was lässt sich dagegen tun?
Huss: Es müssen zusätzliche Staudämme gebaut werden, um das Wasser zurückzuhalten, oder andere Speicher eröffnet werden, um über die trockenen Perioden hinwegzukommen. In der Schweiz ist es aber momentan nicht einfach, neue Stauseen zu bauen.
Beobachter: Drohen zusätzliche Gefahren?
Huss: Gletscher stützen Felswände. Wenn sie wegschmelzen, werden die Felsen erodieren. Ähnlich in den Permafrostgebieten. Das heisst, es wird vermehrt zu Murgängen kommen. Die Übergangsphase von jetzt bis ins Jahr 2100, in der die Gletscher zurückgehen, ist die gefährlichste. Wenn das ganze Material mal unten ist, wird sich die Lage stabilisieren, und die Vegetation wird das Land zurückerobern.
«Im heutigen Aletschgebiet werden sich wohl Seen bilden, und es wird ein schönes, grünes Tal entstehen.»
Matthias Huss, Glaziologe
Beobachter: Was hat das für Auswirkungen auf den Tourismus?
Huss: Im Hochgebirge wird es noch lange genug Schnee haben, um dort Ski zu fahren. Schwierig wird es längerfristig für Skigebiete in tiefen und mittleren Lagen. In Gletscherskigebieten ist zurzeit das Abdecken gewisser Bereiche eine gute Lösung, doch nur sehr punktuell. Lange wird das nicht mehr möglich sein. Vor allem kann man keine ganzen Gletscher damit retten. Die Alpen werden dennoch schön bleiben, auch ohne oder nur mit kleineren Gletschern. Das Säntisgebiet zum Beispiel ist heute ein Tourismusmagnet – ganz ohne Gletscher. Es wird anders werden, aber ich sehe die touristische Zukunft nicht so düster. Im heutigen Aletschgebiet werden sich wohl Seen bilden, und es wird ein schönes, grünes Tal entstehen.
Beobachter: Wie wird es die Wirtschaft treffen?
Huss: Im Hitzesommer 2003 kam es bei den Atomkraftwerken zu Schwierigkeiten, weil das Wasser der Flüsse für die Kühlung der Anlagen zu warm geworden war. Die Flüsse werden ja von Gletscherwasser gespeist. Wenn es das nur noch in geringem Mass oder gar nicht mehr gibt, trägt das zu einer weiteren Erwärmung bei. 2003 schnellte wegen dieser Probleme der Strompreis stark in die Höhe. Auch die Flussschifffahrt wird leiden, die Flüsse könnten in gewissen Perioden zu wenig Wasser führen. Das wird grosse Probleme schaffen.
Beobachter: Und was können wir dagegen tun?
Huss: Die Gletscherschmelze in der Schweiz können wir nicht aufhalten, das ist unmöglich. Aber wir müssen die Klimaerwärmung so weit wie möglich einschränken, also den CO2-Ausstoss mindern, damit wenigstens alles etwas weniger schnell passiert. Das muss überall auf der Welt geschehen. Wenn alle Gletscher weltweit schmelzen, wird der Meeresspiegel um rund 40 Zentimeter ansteigen. Wenn die beiden Eisschilde in Grönland und in der Antarktis auch noch schmelzen, wären wir bei rund 70 Metern – dies dauert aber mehrere tausend Jahre. Nur schon ein Meter Anstieg bis 2100 wäre desaströs für viele Küstenregionen, davon wären Millionen von Menschen betroffen, ganze Landstriche würden unbewohnbar.