Ein gefundenes Fressen
Lea ernährt sich von dem, was sie auf nächtlichen Streifzügen in den Abfallcontainern der Grossverteiler findet. Das ist legal, aber kaum akzeptiert.
Veröffentlicht am 28. November 2011 - 08:40 Uhr
Montagabend, 22 Uhr, in einer Schweizer Grossstadt. Eine junge Frau nähert sich im Hinterhof eines Grossverteilers dem Abfallcontainer. Ein Bewegungsmelder reagiert, das Licht geht an. Unbeirrt geht die Frau weiter und hebt den Deckel. Es riecht streng. Mit geübtem Griff öffnet sie Abfallsäcke. Sie findet Trutenschnitzel, eine gefüllte Kalbsbrust, Netze mit Zitronen und Zwiebeln, ganze Beutel Tomaten und Peperoni, zahlreiche Bündel Bananen sowie Joghurts en masse. Ihre flinken Hände sortieren die Ware aus.
Die 26-Jährige, nennen wir sie Lea, ist keineswegs bedürftig. Sie hat einen 80-Prozent-Job im Gesundheitswesen und könnte sich frische Lebensmittel kaufen. Sie handelt aus Überzeugung: «Es ist unglaublich, in welchem Ausmass unsere Konsumgesellschaft Ressourcen verschwendet. Da will ich Gegensteuer geben.» Natürlich ist auch eine Portion Opportunismus dabei: «Die Mülltonnen sind voll mit Essbarem. Warum sollte ich für etwas zahlen, was ich auch gratis haben kann?»
Das Verkaufsdatum der Milchprodukte und Fleischwaren ist abgelaufen, die Verpackungen aber sind intakt, und der Inhalt sieht appetitlich aus. In den Beuteln und Netzen ist meist nur eine Frucht oder ein Stück Gemüse faul oder beschädigt, der Rest ist tadellos. Die Bananen sind stellenweise braun, aber noch fest. Und der strenge Geruch stammt von den klebrigen Wänden des Containers.
Ein Drittel aller Lebensmittel landet in der Schweiz gemäss einer Studie der Uni Basel im Müll. Der grösste Abfallberg entsteht bei Bauern und Herstellern, im Verkauf selbst fällt bloss ein Bruchteil davon an. Das sind aber immer noch geschätzte 35 000 Tonnen im Jahr. Die Grossverteiler betonen zwar gern, dass sie viele Lebensmittel an wohltätige Organisationen wie «Tischlein deck dich» liefern. Aber anscheinend gibt es mehr Lebensmittelabfälle, als die Bedürftigen brauchen.
An diesem Abend füllt Lea drei Einkaufstaschen. Das Fleisch lässt sie links liegen. Nicht weil sie sich vor einer Lebensmittelvergiftung fürchtet, sondern weil sie Vegetarierin ist. Und weil sich viele in ihrer WG vegan ernähren, packt sie auch nur wenige Milchprodukte ein.
Containern, auch Mülltauchen oder Dumpstern genannt, ist längst nicht mehr nur ein Hobby für Freaks. Rein äusserlich tanzt Lea aber schon aus der Reihe. Sie fährt ein buntverziertes Fahrrad, trägt einen roten Mantel über einem gestreiften Rock und dicke Ringelstrümpfe. Dazu die Sommersprossen – wäre sie eine Romanfigur, hiesse sie Pippi Langstrumpf.
Ihre Villa Kunterbunt ist eine Fabrikhalle, die sie mit einem halben Dutzend Mitbewohnern teilt. Privatsphäre gibt es nur in selbstgezimmerten Holzkojen, die für wenig mehr als eine Matratze Platz bieten. Und wer baden will, muss über eine Leiter in die Wanne klettern, die auf wundersame Weise unter der Decke zu schweben scheint. Scheinbar geht hier alles drunter und drüber. Doch der Eindruck täuscht: Ab zehn Uhr nachts wird nur noch geflüstert, und die Lebensmittel sind fein säuberlich in Glasbehälter verpackt.
Marketingstrategen nennen Leute wie Lea und ihre Mitbewohner Lovos, was für «lifestyle of voluntary simplicity» steht. Zwar beschränkt sich die Bewegung auf alternative Kreise und die Hausbesetzerszene. Trotzdem wählen heute schon so viele die freiwillige Einfachheit, dass sich Zukunftsforscher wie David Bosshart vom Gottlieb-Duttweiler-Institut mit diesem Lebensstil auseinandersetzen: «Lovos wollen einen aktiven Beitrag zur Verbesserung einer als schädlich wahrgenommenen Situation leisten.» Obwohl sie kein Massenphänomen seien, könnten sie gesellschaftlich wertvolle Impulse geben.
Lea ist der Begriff nicht geläufig. Sie zieht einfach ihr Ding durch. Einmal in der Woche backt sie in einem Lehmofen auf einer städtischen Brache Brot. Zudem arbeitet sie in einer Textilgruppe mit, die diejenige Wolle verarbeiten will, die Schweizer Schafzüchter wegwerfen. Und demnächst will sie mit Freunden eine Food-Kooperative gründen, die Waren direkt vom Bauern an die Genossenschafter bringen soll.
«Bio ist mir nicht genug», sagt Lea. Sie wolle wissen, woher die Lebensmittel kommen, und deren Produzenten sollten faire Preise erhalten. Das Mülltauchen stehe dazu nicht im Widerspruch: «Es geht mir nicht darum, mich biologisch zu ernähren, sondern darum, möglichst naturverträglich zu leben.»
Verboten ist Containern nicht, solange man keine Schlösser knackt oder über Zäune klettert. Gesellschaftlich ist es aber nicht akzeptiert. An ihrem Arbeitsplatz erzählt Lea nichts von ihren nächtlichen Streifzügen. Ihre Familie hingegen hat kein Problem damit, und ihre Freunde lassen sich nur zu gern zum Essen einladen.
Filmtipp
Der Dokumentarfilm «Taste the Waste» des deutschen Regisseurs Valentin Thurn ist ein eindrücklicher Bericht über die Verschwendung von Lebensmitteln. Er soll 2012 in die Schweizer Kinos kommen.
www.tastethewaste.com