Kinder brauchen Vorbilder! Wie oft hören Eltern diesen Satz. An jedem Vortrag wird er heruntergebetet, in jedem Erziehungsratgeber trifft man auf ihn, und auch die Medien beklagen regelmässig den Niedergang einer Jugend, die sich mangels männlicher Vorbilder zu Botellóns zusammenrottet, Gewaltorgien feiert oder bekifft den Anschluss an die Arbeitswelt verpasst.

Es stimmt ja auch: Kinder beobachten Mutter und Vater mit Argusaugen – und sie imitieren alles, gnadenlos. Gestik, Mimik, die Tonlage beim Sprechen, die Art und Weise, wie gestritten wird, sogar der beleidigte Rückzug wird minutiös nachgestellt. Wie sehr sich der Nachwuchs am Beispiel der Eltern orientiert, realisieren Mütter oder Väter oft erst, wenn sie den eigenen Worten und Verhaltensmustern im kindlichen Rollenspiel begegnen. Vorab den negativen. Wenn die kleine Tochter ihre Puppe anherrscht, jetzt endlich anständig zu essen, sonst… Oder wenn der grössere Sohn die Mutter mit den Worten «Du schreist Papa auch dauernd an» abfertigt. Denn Kinder kopieren auch das, was nicht als Vorlage gedacht war.

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Eltern sind also auch ein Vorbild, wenn sie gerade keines sind. Bedeutet das nun, dass der gelegentliche Joint tabu ist, sobald das Kind das Licht der Welt erblickt? Und jeder elterliche Streit auf Zeiten verschoben werden muss, wenn der Nachwuchs schläft? Oder anders gefragt: Wie viele Schwächen darf ein Vorbild haben? Keine Erziehungsbibel und kein Elternkurs kann diese Fragen beantworten. Denn Mutter- oder Vatersein und damit auch das Vorleben von Werten und Normen ist keine exakte Wissenschaft mit klaren Regeln, sondern ein natürliches Unterfangen, das erst noch Modeströmungen unterliegt. Was gestern als vorbildlich galt, ist heute schon wieder überholt.

Gelassenheit schadet nicht

Eine allgemeingültige Anleitung zur perfekten Elternschaft gibt es deshalb nicht: «Praktisches Wissen über Gesundheitsfragen oder die kindliche Entwicklung kann man erwerben», schreibt der britische Soziologe Frank Furedi in seiner ebenso klugen wie vielbeachteten Abhandlung «Die Elternparanoia», «doch wie man die Beziehung zu den eigenen Kindern gestaltet, was und wie man ihnen etwas vorlebt, das lernt man nur durch eigene Erfahrung.»

Dabei plädiert er für eine gute Portion Gelassenheit. Eltern könnten sich durchaus ein paar Fehler leisten, ohne dass der Nachwuchs darob gleich Schaden nehme, ist er überzeugt. Und sie seien nicht an allem schuld, was trotzdem schiefgehe. Oder um es mit den Worten des renommierten Kinderarztes Remo Largo zu sagen: «Die Natur rechnet nicht mit perfekten Eltern.»

Quelle: Erik Sandberg
Quelle: Erik Sandberg

Andreas Bender*, 43, Ingenieur, Zürich, geschieden; Kinder: Anna, 14, und die Zwillinge Jakob und Meret, 12

«Ehrlich gesagt habe ich mir früher über meine Vorbildfunktion als Vater wenig Gedanken gemacht. Aber im Alltag war ich stets präsent. Seit der Geburt meiner ältesten Tochter arbeite ich Teilzeit, seit der Scheidung leben die Kinder die Hälfte der Woche bei mir.

Ich ging immer davon aus, dass ich als Vater vor dem Nachwuchs zu meinen Schwächen stehen darf. Schliesslich bin ich wie alle Menschen nicht perfekt. In der Wohnung habe ich zwar auf das Rauchen verzichtet, aber meinen Zigarettenkonsum habe ich nie versteckt. Sie wussten auch, dass ich mir ab und zu einen Joint drehe.

Aber nun, wo die Kinder Teenager sind, muss ich mir viel genauer überlegen, was ich vorlebe. Sie sind in einem Alter, in dem sie nicht nur die Schule und die Welt hinterfragen, sondern auch den Papa. Und eins hab ich gelernt: Was ich von meinen Kindern fordere, fordern sie von mir.

Es klingt vielleicht paradox, aber letztlich waren es meine Kinder, die mich dazu gezwungen haben, als Vater in Sachen Vorbild Stellung zu beziehen: Meine Tochter Anna hat sich zum zwölften Geburtstag gewünscht, dass ich aufhöre zu rauchen. Das gab mir zu denken. Einerseits weil mir erstmals richtig bewusst wurde, wie sehr sie der Rauch störte und wie sehr sie sich um die Gesundheit ihres Vaters ängstigte. Anderseits weil mir klarwurde, dass ich, egal, wie ich mich verhalten würde, als Vater etwas vorlebte: dass man ein Laster besiegen kann oder der Sucht stärker ausgeliefert ist, als man behauptet hat. Ich hörte mit dem Rauchen auf – bis heute. Kiffen tue ich noch ab und zu, meist wenn die Kinder im Bett sind. Was nicht heisst, dass sie es nicht wissen.

Abstinenz kann ich als Vater mit einem gewissen Suchtpotential von meinen Kindern nicht verlangen. Ich finde auch, dass Verbote in Sachen Nikotin- oder Alkoholkonsum kontraproduktiv sind. Natürlich wünschte ich mir, dass die Kinder nie anfangen zu rauchen. Aber ein Verbot würde nichts nützen. Ich könnte nicht einmal kontrollieren, ob sie es einhalten.

Gerade deshalb ist mir wichtig, dass sie lernen, mit Alkohol und Cannabis umzugehen. Und ich tue alles dafür, dass sie mit mir im Gespräch bleiben. Wenn ich bei einem Kind Zigarettenpapierli fände, würde ich das sofort thematisieren. Meine Eltern wussten, dass ich Cannabis konsumierte, zur Rede gestellt haben sie mich nie. «Nimm dich in Acht vor Joints», hiess es bloss. Das handhabe ich anders: Ich kläre den Nachwuchs über Gefahren von allerlei Suchtmitteln auf und erzähle ihnen auch von eigenen unangenehmen Erfahrungen.

Vor ein paar Wochen besuchte Anna mit drei Freundinnen das Stress-Konzert. Sie fragte mich, ob ich ihr nicht einen Karton Eve-Bier besorgen könne. Ich habe den Mädels zwei Flaschen Bier zum Teilen gekauft. Dass Anna das Bier nicht hinter meinem Rücken organisiert hat, gefällt mir. Ich hoffe, meine Kinder sehen in mir weiterhin eine Vertrauensperson. Dann hätte ich etwas Wichtiges richtig vorgelebt.»

Sandra Birch, 35, PR-Beraterin, und Peter Birch, 42, Informatiker, Adliswil ZH; Kinder: Alma, 4, und Moira, 2

Peter: Das Wichtigste ist, dass man als Person authentisch bleibt. Ich glaube, dass man nur als Vorbild wahrgenommen wird, wenn man sich nicht verstellen muss. Kinder picken letztlich selber heraus, was sie gut finden und was nicht.
Sandra: Authentisch ja, doch einige Seiten an mir würde ich am liebsten verstecken, damit die Kinder sie nicht kopieren. Etwa wenn ich ungeduldig und laut werde. Und dann gibt es Seiten, die ich ihnen bewusst vorlebe: dass man zur Natur Sorge trägt, dass man Abfall nicht einfach auf den Boden wirft.
Peter: Das Einzige, was ich meinen Töchtern wirklich bewusst beibringen will, ist, dass der Satz «Das kann ich nicht» keine gute Maxime ist. Sie sollen mit der Einstellung durchs Leben gehen, dass man alles probieren kann und auch mal scheitern darf.
Sandra: Das lebst du auch vor. Alma sieht dich oft über einem Gerät sitzen und rumbasteln, bis es wieder funktioniert.
Peter: Was ich vorlebe, ist meine Sicht auf die Welt. Dazu gehört, dass man den Kindern keine heile Welt vorgaukeln soll: Das gilt auch fürs Streiten. Streit gehört zum Leben wie Versöhnung. Natürlich gebe ich mir Mühe, nicht ausfällig zu werden. Aber verstecken muss man Streit vor den Kindern nicht.
Sandra: Ich finde auch, dass Streit nicht immer warten muss, bis die Kinder im Bett sind. Aber wenn man streitet, muss man versuchen, in Sachen Streitkultur ein Vorbild zu sein. Das ist im Feuer des Gefechts schwierig. Wir haben uns auch schon im Ton vergriffen oder uns Worte an den Kopf geworfen, die uns danach leidtaten.
Peter: Wenn mich ein Streit zu sehr mitnimmt, klinke ich mich aus, gehe Velo fahren oder joggen. Das hat bisher schlimme Eskalationen verhindert. Was die Kinder mitbekommen, ist, dass auch Papa und Mama mal einen schlechten Tag haben. Sie lernen, dass man auch mal auf jemanden sauer ist, den man gernhat.
Sandra: Das stimmt. Trotzdem macht mir Streit auch Angst. Ich war acht, als meine Eltern sich scheiden liessen, und ich kann mich noch sehr gut an die heftigen Auseinandersetzungen erinnern und daran, was für ein Gefühl der Ohnmacht und Zerrissenheit sie in mir auslösten. Vor dieser Bedrohlichkeit will ich meine Kinder schützen.
Peter: Die eigenen Eltern prägen einen vielleicht gerade in Dingen, in denen sie kein Vorbild abgegeben haben. Ich etwa finde, eine Frau sollte auch als Mutter berufstätig bleiben und ein Leben ausserhalb der Familie pflegen, gerade weil mir die Welt meiner Mutter, die immer zu Hause war, zu eng wurde. Als Sandra nach der Geburt von Alma ein Jahr zu Hause blieb, stritten wir uns viel mehr als heute.
Sandra: Ich habe die Zeit zu Hause sehr genossen. Und mein Job befriedigt mich im Moment nicht so, da überlegt man sich dann schon, ob sich der Stress lohnt. Aber es stimmt schon: Ist man ständig um die Kinder, verengt sich alles – auch die Beziehung. Ausserdem will ich meinen Mädchen ja auch nicht nur die traditionelle Frauenrolle vorleben.»

Quelle: Erik Sandberg

Susanna Boler, 39, soziokulturelle Animatorin, Sursee, verheiratet, Mutter von Luca, 14, und Leonie, 11

«Dass ich als Jugendarbeiterin ein stringentes und gutes Vorbild bin, davon war ich immer überzeugt. Und bin darin auch bestärkt worden: von Eltern, mit deren Kindern ich zu tun hatte, von Jugendlichen selbst oder von Berufskollegen.

Seit ich Mutter bin, tue ich mich viel schwerer mit meiner Vorbildfunktion. Nie hatte ich bei der Arbeit Mühe, klar Position zu beziehen, Regeln durchzugeben, diese selber einzuhalten und auch durchzusetzen. Nie hatte ich Mühe, die Jugendlichen zu akzeptieren als Persönlichkeiten, mit all ihren Stärken und Schwächen. Als Mutter aber gelingt mir das bei meinen eigenen Kindern lange nicht immer. Um ehrlich zu sein: Je älter sie werden, desto schwerer fällt es mir, ein Vorbild zu sein.

Ich bin mir sicher, dass mangelnde Distanz daran schuld ist: Wenn ein 14-Jähriger zugekifft und betrunken den Jugendtreff besucht, picke ich ihn mit stoischer Ruhe heraus, gebe ihm die Hausregeln, schicke ihn nach Hause und verlange ein Gespräch, bevor er wieder Einlass erhält. Als mein Sohn sich vor kurzem einmal angetrunken in sein Zimmer schlich, bin ich total ausgeflippt, habe herumgeschrien. Und nachher selbst eine Flasche Wein geöffnet, um herunterzukommen.

Natürlich war mir im Nachhinein klar, dass er sich nach meiner Reaktion in sein Pubertäts-Schneckenhaus zurückziehen würde. Aber im entscheidenden Moment kamen mir meine mütterlichen Emotionen in die Quere. Es ist eben unendlich viel einfacher, einem fremden Kind vorurteilsfrei zu begegnen als dem eigenen. Weil man in das eigene Kind viele Erwartungen setzt, auch wenn diese unausgesprochen bleiben.

Wie oft habe ich meinen Zöglingen gepredigt, dass es viele Wege zu einem guten Beruf gibt, dass schlechte Noten nicht über Erfolg oder Nichterfolg im Leben entscheiden. Ich bin ja selbst auf Umwegen zu meinem Beruf gekommen, also diesbezüglich ein prima Vorbild. Doch bei den eigenen Kindern ist mir der Schulerfolg wichtig, so dass auch ich immer wieder Druck ausübe. Obwohl mir bewusst ist, wie fatal sich der auswirken kann.

Theoretisch weiss ich sehr genau, was für ein Vorbild ich meinen Kindern sein will: eine emanzipierte Frau, die zu ihrer Meinung steht, sich nicht nur über ihr Äusseres definiert und vor Problemen nicht davonläuft. Aber zu Hause ist das schwierig. Da sieht mich meine Tochter schon mal vor dem Spiegel über Falten grämen. Da stecke ich auch mal den Kopf in den Sand, weil ich nicht weiterweiss. Oder trinke ein Glas über den Durst. Aus Frust, nicht aus Genuss. Diesen Unterschied erkennen Kinder schnell. Und ebenso schnell übernehmen sie diese Verhaltensmuster.

Überall und immer kann man nicht vorbildlich sein – gerade deshalb finde ich es wichtig, dass meine Kinder, jetzt, wo sie herausfinden müssen, wer sie sind und wo sie stehen, auch andere Vorbilder haben. Menschen, die sie nicht geboren, gestillt und aufgezogen haben. Menschen, die nichts von ihnen erwarten und ihnen gerade deshalb viel geben können.»

* Alle Namen geändert