Im Sommer fällt es besonders auf. In den Badis tragen schon die ganz Kleinen zu viel Gewicht mit sich herum. In der Schweiz ist rund jedes sechste Schulkind übergewichtig oder sogar adipös. Ein WHO-Bericht zeigte, dass in der Schweiz bei den Fünf- bis Neunjährigen bereits 23 Prozent Übergewicht haben.

Der Konsumentenschutz sieht eine Mitschuld bei der Industrie. Denn 94 Prozent der Produkte auf dem Schweizer Markt, die sich direkt an Kinder richteten, seien zu süss, zu salzig oder zu fettig. Damit gefährde die Lebensmittelindustrie die Gesundheit der jüngsten Konsumentinnen und Konsumenten. Welche Folgen das hat, weiss die Ernährungsberaterin Andrea Cramer.

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Beobachter: Andrea Cramer, Sie behandeln Kinder mit Übergewicht. Sind die ungesunden Industriesnacks dabei Thema?
Andrea Cramer: Kindersnacks mit lustigen Tier- oder Fantasiefiguren auf der Verpackung sind omnipräsent. Kinder erkennen die Produkte im Laden und fragen danach. Wir sehen Kinder, die kaum noch Obst und Gemüse als Zwischenmahlzeit essen. Stattdessen lutschen sie an Quetschies, konzentriertem Fruchtpüree aus dem Beutel. Das macht mehr Spass, als an einem angelaufenen Apfelschnitz zu kauen. Ist aber deutlich ungesünder.


Wieso?
Kinder essen in konzentrierter Form viel mehr von den süssen Früchten, als wenn sie einfach einen Apfel essen würden. Auch Fruchtsäfte und Süssgetränke haben sich bei vielen Kindern als Durstlöscher durchgesetzt. Dabei haben die Säfte oft gleich viel oder sogar mehr Kalorien und Zucker als Cola.


Viele Kindersnacks haben Aufschriften wie «Kein Zuckerzusatz» oder Auszeichnungen wie «Natürlich» oder «Mit Extra-Vitaminen». Viele Eltern haben deshalb das Gefühl, ihren Kindern etwas Gutes zu tun, wenn sie ihnen diese speziellen Snacks geben.
Genau. Nicht alle Zuckerarten werden auf der Verpackung explizit als solche ausgewiesen. Eltern denken also, ein Produkt sei gesund, wenn es Fruchtsaft als Inhaltsstoff aufweist. Dabei handelt es sich um konzentrierten Fruchtzucker. Mais- oder Reiswaffeln für Kinder sind etwa häufig mit Fruchtkonzentrat gesüsst. Dieses muss nicht ausdrücklich als Zucker ausgewiesen werden und sieht daher auf der Inhaltstabelle nicht so schlimm aus. Andere Produkte haben einen Joghurtbezug, was aber kein Joghurt meint, sondern eine Art Fettgemisch wie Schoggi. Wie die Industrie ihre Produkte deklariert, grenzt teilweise an Täuschung.


Die meisten Kindersnacks enthalten also nicht, was Kinder brauchen?
Das ist so. Die meisten Produkte sind verarbeitet, obwohl das gar nicht nötig wäre. Die einzigen Kinderprodukte, die okay sind, sind solche, bei denen an der Grösse geschraubt wird: kleinere Kinderäpfel, -gurken, -chäsli. Man kann an ihrer Stelle aber genauso gut die regulären Produkte nehmen und portionieren. Es braucht gar keine speziellen Kinderprodukte. Zwischenmahlzeiten sollten aus Früchten und Gemüse bestehen, aus Vollkorn- und Milchprodukten, am besten nature, ohne Zucker. Man kann getrost einen Bogen um die Regale mit den Kindersnacks machen.

«Es kommt aufs Elternhaus an, ob Kinder über­gewichtig werden. Meist hat die ganze Familie ­damit zu kämpfen.»

Andrea Cramer, Ernährungsberaterin

Was geschieht, wenn Kinder die ungesunden Snacks essen?
Viele bekommen wegen der zuckrigen Produkte Karies. Gerade Quetschies, die viel Säure und Zucker enthalten, sind problematisch. Weil die Kinder nicht mehr kauen, kann sich kein natürliches Sättigungsgefühl einstellen. Sie essen zu viel.


Haben diese Kindersnacks noch andere negative Auswirkungen auf die Gesundheit?
Kinder, die zu viel von den falschen Sachen snacken, haben oft zu den Hauptmahlzeiten keinen Appetit mehr. Sie essen dann wenig und stillen den Hunger später wieder mit einem Snack. Oft haben sie so keine Möglichkeit, genügend Nahrungsfasern und Nährstoffe zu sich zu nehmen. Die wären aber wichtig fürs Immunsystem und für den Knochen- und den Muskelaufbau. Viele haben dann Verdauungsprobleme; manchmal müssen schon kleine Kinder Abführmittel nehmen.


Überall gibt es Take-aways und Food-Lieferservices. Was für einen Einfluss hat das?
Es gibt Eltern, die kaum noch selber kochen können. Bei einigen Familien fehlen schlicht das Wissen und die Erfahrung. Andere wiederum sind extrem Food-affin, gärtnern selber, ziehen Tomaten auf dem Balkon. Es kommt aufs Elternhaus an, ob Kinder übergewichtig werden. Meist hat die ganze Familie damit zu kämpfen.

«Wenn Kinder die Grundsätze von gesunder Ernährung zu Hause erlebt haben, werden sie sie später mitnehmen.»

Andrea Cramer, Ernährungsberaterin

Wie gehen Sie bei Beratungen vor?
Weil es ein Problem des Familiensystems ist, analysiert man das Ernährungsverhalten der ganzen Familie und versucht, es umzustellen. Beim Essen ist es wie bei anderen Erziehungsthemen: Die Eltern sind das wichtigste Vorbild. Wenn sie zwischendurch Chips und Guetsli essen, dem Kind aber einen Apfel geben, wird es diesen mit grosser Wahrscheinlichkeit ablehnen. Daher schulen wir die Eltern, gesunde Mahlzeiten anzubieten. Was isst man zwischendurch? Wie gross sollten Desserts sein? Schwierig wird es, wenn das Übergewicht eher eine Folge eines Betreuungsproblems ist.


Warum?
Wenn die Eltern sehr viel arbeiten und die Kinder viel allein sind, kann das problematisch werden. Genauso wichtig wie die Ernährung ist die Bewegung. Sitzt ein Kind nur zu Hause rum und spielt Videospiele, kann das genauso ungesund sein.


Kann man es mit der Kinderernährung auch zu gut meinen?
Ja, man muss einen Weg finden, der nicht zu rigide ist und Ausnahmen erlaubt. Denn zu strikte Essensregeln können zum Gegenteil führen: zu überkontrolliertem Essverhalten und Essstörungen. Aber wenn Kinder die Grundsätze von gesunder Ernährung zu Hause erlebt haben, werden sie sie später mitnehmen.


Der Konsumentenschutz fordert einen obligatorischen Nutri-Score für alle Kinderprodukte. Zudem soll Kinderwerbung nur für Produkte erlaubt sein, die die WHO-Richtlinien einhalten, und auf Auszeichnungen wie «Weniger Fett» oder «Mit Vitaminen» soll verzichtet werden, wenn sie den WHO-Vorgaben nicht entsprechen. Ist das sinnvoll?
Wir wollen eher Wissen vermitteln, damit Eltern und grössere Kinder Produkte und Zutatenlisten besser beurteilen können. Nutri-Scores sind teilweise schwierig einzuschätzen. Auch wenn ein Produkt eine schlechte Bewertung hat, darf man ja trotzdem in kleinen Mengen davon essen. Gleichzeitig kann es ungesund werden, wenn man sehr viel von einem Produkt mit einem super Nutri-Score isst. Auch hier gibt es Manipulationen von Seiten der Industrie. Ausserdem werden ideale Lebensmittel wie Früchte oder Gemüse nicht mit dem Nutri-Score versehen.

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