IV-Gutachter haben enormen Einfluss auf das Leben von Menschen. Sie beurteilen, wie stark jemand durch sein gesundheitliches Problem daran gehindert wird, seinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen – und damit, ob und in welchem Rahmen die Person eine IV-Rente bekommt. Beauftragt werden die Gutachter von den kantonalen IV-Stellen. Eine Invalidenrente wird nur zugesprochen, wenn zuerst sämtliche Möglichkeiten einer Eingliederung geprüft wurden. 

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Der Luzerner Arzt Christian Fricke hat im Jahr 2022 genau 150 solcher Gutachten angefertigt. Das geht aus einer öffentlich zugänglichen Liste des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) hervor. Hauptberuflich arbeitet Fricke in einem 70-Prozent-Pensum als Versicherungsmediziner bei der Suva. Die Gutachten im Auftrag der kantonalen IV-Stellen erledigte er nebenbei.

Der Bundesrat will nicht untersuchen

Wenn man bei diesem Pensum von einer verbleibenden freien Zeit von 80 Arbeitstagen ausgeht, so hat Fricke pro Gutachten gerade mal einen halben Tag aufgewendet. Finanziell hat sich das für ihn gelohnt: Insgesamt kassierte er 2022 für seine nebenerwerbliche Gutachtertätigkeit  568’650 Franken. So steht es in der oben erwähnten BSV-Liste. 

Der hohe Betrag ist dem Solothurner SVP-Nationalrat Rémy Wyssmann aufgefallen. Er wollte im Dezember in der Fragestunde des Parlaments wissen, ob der Bundesrat Anlass sehe, diese Sache genauer abzuklären. Die Antwort fiel kurz aus: «Der Bundesrat sieht aufgrund der derzeit vorliegenden Informationen keine Veranlassung für eine Untersuchung.» Der «Blick» hat Ende Jahr berichtet. 

Auch das Bundesamt sieht keinen Handlungsbedarf

Bei seiner Antwort stützte sich der Bundesrat auf die Einschätzung des BSV. Das Amt sieht keinen Handlungsbedarf. «Bei einer guten, professionellen Organisation der Begutachtungen und einer entsprechenden Berufserfahrung ist davon auszugehen, dass fachlich korrekte und den massgeblichen Anforderungen entsprechende Gutachten erstellt werden könnten», schreibt ein BSV-Sprecher.

Doch nun tut sich doch etwas in dieser Angelegenheit. Die Zuger Grünen-Nationalrätin Manuela Weichelt will die Gutachtertätigkeit von Fricke in der nächsten Sitzung der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) thematisieren: «Dieser Fall wirft Fragen auf. Es gibt bei Nebenbeschäftigungen immer wieder Sachverhalte, die schwierig zu beurteilen sind. Ich möchte, dass die Suva sich hier erklärt, und verlange direkt vom Verwaltungsrat Antworten. Denn leider untersteht die Suva nicht der Prüfung durch die Eidgenössische Finanzkontrolle», sagt Weichelt. 

Teils mehrere Bundesordner pro Fall

SVP-Nationalrat Wyssmann, ebenfalls SGK-Mitglied, begrüsst zielführende Massnahmen zur Qualitätssicherung. Nur so liessen sich teure Folgekosten wie Mehrfachbegutachtungen und langwierige Gerichtsverfahren vermeiden.

Der Solothurner Anwalt vertritt als Haftpflicht- und Versicherungsrechtsspezialist auch Klientinnen und Klienten in IV-Verfahren. «Die Fallakten umfassen heute teilweise mehrere Bundesordner. Eine durchschnittliche monodisziplinäre Begutachtung braucht inklusive Aktenprüfung, Vorbereitung, Exploration, Fremdanamnese, Verlaufsuntersuchung und Gutachtenerstellung mindestens zehn Stunden», sagt Wyssmann. Es sei für ihn schwer vorstellbar, wie man auffallend hohe Arbeitsvolumen ohne Einbussen an der Qualität bewältigen könne. 

«Gut koordiniertes Team»

Arzt Fricke begründet seine enorme Arbeitsleistung mit einer optimalen Organisation: «Meine Gutachtertätigkeit basiert auf einem gut koordinierten Team, klaren Arbeitsprozessen und meinem persönlichen Engagement für die Qualität meiner Arbeit», schreibt er dem Beobachter. «So ist es mir möglich, qualitativ hochwertige medizinische Gutachten zu erstellen.» Ein grosser Teil der Entschädigung verwende er für den Betrieb der eigenen Praxis. Dazu gehören gemäss Fricke etwa die Entlöhnung der Hilfspersonen, die Praxisinfrastruktur und Versicherungen.