«Männer müssen verstehen, dass das Leben Krieg ist. Es ist ein Krieg um die Frau, die sie wollen. Es ist ein Krieg um das Auto, das sie wollen. Es ist ein Krieg um das Geld, das sie wollen. Es ist ein Krieg um Status. Männliches Leben ist Krieg.»

Andrew Tate, antifeministischer Influencer

«Ein Schüler kam nach den Sommerferien auf mich zu und wollte wissen, was ich von Andrew Tate halte», erinnert sich Tobias Kaul. Kaul, der wie alle anderen Lehrpersonen in diesem Artikel nur anonym zitiert werden will, unterrichtet die Sekundarstufe in einem Zürcher Aussenbezirk. Von Tate hält er nicht viel, was er dem Schüler auch sagt. «Als Antwort bekam ich zurück: ‹Ja, Sie finden ihn halt nicht gut, weil Sie ein schlechteres Auto fahren.›»

Diese Antwort hätte auch von Andrew Tate stammen können. Kritik an seiner Person wies der 36-jährige Ex-Kickboxer schon zurück mit «Und welche Farbe hat dein Bugatti?». Wer die Ansichten des Antifeministen nicht teilt, ist wahlweise neidisch oder falsch gepolt. Allein auf Tiktok Plötzlich nur noch Verzweiflung, Trauer, Einsamkeit Gefangen im Tiktok-Algorithmus generieren Videos des frauenfeindlichen Multimillionärs Klicks im zweistelligen Milliardenbereich, seine Tweets erreichen Hunderttausende.

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Auf Facebook, Instagram und Youtube wurden die Kanäle von Andrew Tate zwar gesperrt, doch Abertausende von Nachahmern und Fanseiten verbreiten seine Inhalte ungebremst weiter. Über die Plattform «The Real World» bietet der ehemalige Teilnehmer von Big Brother UK zudem kostenpflichtige Kurse an, bei denen Männer lernen sollen, an «Geld, Reichtum, Glück, schnelle Autos und schöne, unterwürfige Frauen» zu kommen. Die Kursinhalte basieren auf den eigenen Glaubenssätzen, die der amerikanisch-britische Influencer in Form von 41 Geboten weiterverbreitet.

«Ich glaube, dass Männer die heilige Pflicht haben, starke, fähige und ehrenhafte Söhne grosszuziehen. Ich glaube, dass Männer die heilige Pflicht haben, freundliche, weibliche und tugendhafte Töchter grosszuziehen.» (Gebote 7 und 8)

Andrew Tate

Immer wieder gibt es kultige Personen, Sprüche oder Trends aus den sozialen Medien, die ihren Widerhall in den Klassenzimmern finden. Die wenigsten hinterlassen bleibende Spuren. Auch in der Klasse von Tobias Kaul fing die Sache mit Andrew Tate harmlos an. 

«Zuerst fielen immer mehr Sprüche über teure Autos. Dann Witze über ‹dicke und hässliche Frauen› Unangenehme Situation Wie reagieren bei frauenfeindlichen Sprüchen? . Dann Sprüche zur generellen Überlegenheit des Mannes», erinnert sich Kaul. «Und dann relativierten die Buben plötzlich Dinge wie Menschenhandel.» Tate, so erklärten es ein paar Jungs dem verdutzten Lehrer, sei eben einfach ein geschickter Businessmann. Im Klassenzimmer von Tobias Kaul endete die Situation schliesslich damit, dass eine junge Frau die Schule auf eigenen Wunsch hin für mehrere Wochen verliess; sie fühlte sich gemobbt.

«Einstiegsdroge zum Antifeminismus»

«Frauen tun bestimmte Dinge und Männer tun bestimmte Dinge. […] Wir leben in einer Welt, in der es heisst, dass ich verdammt sexistisch bin, wenn ich sage, dass Frauen besser mit Kindern umgehen können und Männer besser im Kämpfen sind, was eindeutig wahr ist.»

Andrew Tate

In Grossbritannien, so hat die britische NGO Hope not hate ermittelt, haben rund 45 Prozent der männlichen Teenager eine positive oder eher positive Meinung zu Andrew Tate, aber nur ein Prozent der Frauen. Wie präsent der Frauenfeind in den Köpfen der Heranwachsenden ist, verdeutlicht auch die Tatsache, dass in Grossbritannien mehr männliche Jugendliche schon etwas von Andrew Tate gehört haben als von Rishi Sunak, dem amtierenden Premierminister. Und dieses Missverhältnis führt in den Schulen zunehmend zu Problemen, auch dies zeigten die Untersuchungen von Hope not hate. Etwa weil Knaben in den Klassenzimmern wiederholen, was Tate ihnen eingeflüstert hat, oder weil sie die Mitschülerinnen und Lehrkräfte beleidigen, bedrängen oder diskriminieren. 

Jessica Aiston untersucht an der Universität von Lancaster die Auswirkungen frauenfeindlicher Influencer innerhalb der sogenannten Manosphäre. Diese bezeichnet den männlich dominierten Teil des Internets und umfasst Foren, Accounts, Blogs und Websites. Innerhalb der Manosphäre sind männliche Selbstoptimierung und die Aufrechterhaltung männlicher Herrschaft, die Kontrolle und Abwertung weiblicher Sexualität und die Verteufelung des Feminismus die bestimmenden Themen.

Männer wie Tate, so Aiston, würden einfache Lösungsansätze für komplexe gesellschaftliche Probleme bieten. Für sie ist Andrew Tate eine «Einstiegsdroge zum Antifeminismus»: «Er gibt sich als Lifestyle-Coach und probiert Männern zu vermitteln, wie sie sich bessern können, indem er ihnen vermeintliche Business- und Trainingstipps gibt und zugleich den Feminismus für alles verantwortlich macht, was auf der Welt schiefläuft.»

«Die Mädchen sind verstummt»

Anders als in Grossbritannien fehlen in der Schweiz bisher Zahlen zu antifeministischen Tendenzen unter Jugendlichen. Lehrpersonen, aber auch Männlichkeitsexperten wie der Psychologe und Vordenker der progressiven Schweizer Männerbewegung, Markus Theunert, bestätigen jedoch: Mit seinen Schilderungen ist Tobias Kaul kein Einzelfall. «In den letzten Jahren sind Meinungen und Ansichten schleichend wieder salonfähig geworden, von denen wir lange glaubten, sie hinter uns gelassen zu haben», sagt Theunert.

«Ich werde meine Kinder nicht in die Schule schicken, ich glaube nicht, dass sie [dort] etwas lernen werden.»

Andrew Tate

Michèle Weidmann ist eine gestandene Gymnasiallehrerin, unterrichtet seit bald 30 Jahren. In einer Zeitung las sie zum ersten Mal von Andrew Tate und wollte das Thema in einer ihrer Maturaklassen thematisieren. «Eine Schülerin warnte mich, es sei keine gute Idee.» Weidmann sprach das Thema im Kollegium an, auch die anderen Lehrkräfte rieten ihr, die Finger davon zu lassen. Seit einigen Monaten schon hatte die weibliche Lehrerschaft an Weidmanns Gymnasium mit einer vierköpfigen Gruppe zu kämpfen. Die jungen Männer hörten den Lehrerinnen nicht zu, unterbrachen sie oder «erklärten» ihnen in herablassendem Ton ihren eigenen Unterrichtsstoff. Unter dem zunehmend frauenfeindlichen Klima leidet bis heute nicht nur die Lehrerschaft. Michèle Weidmann sagt: «Viele der anderen Buben machen mit, um nicht ausgeschlossen zu werden, und die Mädchen in der betroffenen Klasse sind verstummt.» 

Themen wie die Frauenbewegung können in dieser Klasse kaum behandelt werden. «Vor drei Jahren war es ein normales provokatives Teenagerverhalten», sagt Weidmann, «aber mittlerweile steckt eine grosse Portion Sexismus dahinter.» Als die Lehrerin mit der Klasse einen Zeitungsartikel zum Thema aggressive Maskulinität lesen wollte, verweigerten sich einige der jungen Männer so lautstark, dass Weidmann einlenken musste. «Dabei ging es in dem Artikel doch darum, wie schädlich manche Formen von Maskulinität gerade für die Psyche junger Männer sind.» 

Rote Pille, blaue Pille

«Wir haben in den vergangenen Jahren erlebt, dass Männlichkeit innerhalb der Gesellschaft problematisiert wird. Gleichzeitig fehlt politisch die Bereitschaft, Männer dabei zu unterstützen, ihren Weg aus schädlichen Männlichkeitsmustern hinauszufinden», sagt Männlichkeitsexperte Markus Theunert. Medienwirksame Kritik an toxischer Männlichkeit bei gleichzeitigem institutionellem Desinteresse und professioneller Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen und Verletzlichkeiten von Buben und Männern führe zu einem Orientierungs- und Unterstützungsvakuum. «Darauf gibt es im Grunde drei Reaktionen», erklärt Theunert. «Die Ersten nehmen das als Herausforderung an, die Zweiten schalten auf Durchzug und hoffen, dass der Gegenwind verebbt, und die Dritten gehen in den passiven oder aktiven Widerstand.» Dieser Widerstand, der vielleicht nur als undefinierte innere Spannung beginnt, trifft in der Manosphäre des Internets dann auf tausende von toxischen Multiplikatoren. 

«Es gibt schon länger keine Grenze mehr zwischen Internetkultur und Offlinekultur», resümiert die englische Wissenschaftlerin Jessica Aiston. Entsprechend gebe es auch immer mehr Forschung, die belegt, dass die Manosphäre beeinflusst, wie sich junge Männer im Alltag verhalten. 

Eine verbreitete Ideologie innerhalb der Manosphäre ist der Glaube an eine Art «Matrix». Auch Andrew Tate bedient sich dieser Symbolik des Films aus den Neunzigerjahren und ruft seine Zuschauer immer wieder dazu auf, «aus der Simulation auszubrechen» und «die Augen zu öffnen!». Weil der Verschwörungsglaube so stark mit den restlichen Inhalten verbunden ist, ist es so gut wie unmöglich, dagegen zu argumentieren, erklärt Jessica Aiston: «Dann heisst es eben, die Feministinnen und die schwachen Männer in der Schule versuchen uns zu indoktrinieren, und die Lehrer, die sagen, Andrew Tate sei schlecht, bestätigen damit eigentlich nur, dass er mit allem recht hat.»

«Die Matrix ist überall: […] die Nachrichten, die du schaust, in der Art zu denken, die sie dir beibrachten, im Bildungssystem.» / «Die Matrix verschleiert die Wahrheit […]. Sie haben dein Bewusstsein gestohlen.»

Andrew Tate

Statt sich dann in fruchtlosen Diskussionen zu verlieren, empfiehlt Jessica Aiston, kritische Gegenfragen zu stellen, etwa danach, was «Feministinnen» oder «die Schule» davon hätten, diese oder jene Lüge zu verbreiten. Markus Theunert fordert vor allem klare Grenzen, was in einem Klassenzimmer gesagt werden darf: «Sexismus ist keine schützenswerte Meinung. Es ist unsere Pflicht, Sexismus und Misogynie zu bekämpfen.» An die Stelle von «Ich sehe das anders» müsse ein «dieses Verhalten, diese Einstellung ist nicht okay» treten. Ergänzt durch das Beziehungsangebot: «Ich bin da, wenn du dich mit der Thematik auseinandersetzen willst.» Beides, so betont Theunert, setze eine klare pädagogische Haltung voraus wie auch die Bereitschaft zur Auseinandersetzung und entsprechende Ressourcen, damit Lehrkräfte diese überhaupt führen können.

Damit solche Bemühungen nicht verpuffen, wäre eine klare Haltung auch zu Hause gefragt. Schliesslich haben auch das Weltbild, der kulturelle Hintergrund und die politischen Vorstellungen der Eltern oder anderer naher Verwandter Einfluss auf Jugendliche. Sowohl Internetforscherin Jessica Aiston als auch Männlichkeitsexperte Markus Theunert lehnen es jedoch dezidiert ab, hier einzelne Gruppen in die Verantwortung zu nehmen.

Sexistische Denkmuster finden sich in unterschiedlichen Ausprägungen quer durch die Gesellschaft wieder. Entsprechend sagt Markus Theunert: «Mir ist es wirklich wichtig, nicht auf diese Buben als Individuen zu zeigen.» Oftmals heisse es, das Problem seien die Jungs mit diesem oder jenem Hintergrund, oder jene aus sogenannten bildungsfernen Haushalten. Dann werde angebracht, die Dynamiken könnten aufgelöst werden, indem man sich dieser «Problemjungs» entledige. «Das ist weder angemessen noch fair. Das Problem ist gesamtgesellschaftlicher und nicht individueller Natur.»

Realistische Männlichkeiten

Langfristig, so Theunert, brauche es aber andere pädagogische Rahmenbedingungen: «Im Kita-Bereich sind wir bei einem Männeranteil von 5 Prozent, im Kindergarten ebenfalls, und in der Primarschule bei 17 Prozent. Der durchschnittliche Bub hat während seiner Schulzeit sehr wenig alltagsnahen Kontakt mit Männern.» Mit der Schulstufe steige zwar auch der Männeranteil, doch fehle es dann oftmals an der Zeit und an der nötigen Kompetenz. Laut Theunert füllen Andrew Tate und Co. eine Orientierungslücke, die andere Männer hinterlassen in der Erfahrungswelt von Buben und Jugendlichen, die sich in einer Auseinandersetzung mit ihrer eigenen (Geschlechts-)Identität befinden. Und dies in Zeiten, in denen von Männern generell eine Auseinandersetzung mit ihrem Geschlecht und ihren Privilegien gefordert wird, was zusätzliche Unsicherheiten schafft. «Auch junge Männer haben Anspruch darauf, eine sichere Identität entwickeln zu können», sagt Markus Theunert. «Dafür braucht es vielfältige und realistische Modelle von Männlichkeit in all seinen Facetten.» Sprich: dass Männer, Väter und andere Vorbilder, die Unsicherheiten zeigen, auch mal traurig sind, niedergeschlagen. 

«Ein Andrew Tate wird auf Tiktok nie zeigen, wie er gerade weint, sich jemandem emotional zuwendet oder an sich zweifelt», erklärt Theunert.

«Trauer ist eine Warnung. Du fühlst sie aus einem Grund. Deine Psyche sagt dir [damit], dass du härter arbeiten musst.» / «Lehne Schwäche in jeder Form ab!»

Andrew Tate

Alle Lehrpersonen, die im Rahmen dieser Recherche nach ihren Erfahrungen befragt wurden, gaben an, dass sie sich mehr Rückendeckung von übergeordneter Stelle im Umgang mit antifeministischen Tendenzen wünschen würden, aber auch klare Handlungsanweisungen. Zudem würden sie zusätzliche Ressourcen benötigen, um sich vertieft mit der Thematik auseinandersetzen zu können. Nur dann könnten sie letztlich auch angemessen reagieren.

Jessica Aiston pflichtet dem bei: Lehrpersonen und Schulleitungen sollten sich darüber informieren können, was im Internet angesagt ist, was konsumiert und reproduziert wird Youtube Was gucken Jugendliche da ständig? , meint die Internetforscherin: «Die Zeiten, als man sagen konnte, dieses oder jenes übersetze sich nicht in den Alltag, sind längst vorbei.»