Es sind Vorfälle, wie sie jeden wütend machen: Ein Familienvater wird im Tram von Jugendlichen mit Bier übergossen, als «Judennase» beschimpft, aus dem Fahrzeug gezerrt und bewusstlos geschlagen. Wiederholt fleht er um Hilfe, doch der Tramchauffeur sowie ein Dutzend Passagiere schauen lieber weg. So geschehen vor ein paar Jahren in Zürich Zivilcourage «Es schauten einfach alle weg» .

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«Zivilcourage braucht Mut, Aufmerksamkeit und einen kühlen Kopf», sagt Julia Dubois von Amnesty International Schweiz. Sie lehrt in Kursen, wie man hinsieht und handelt statt wegschaut und schweigt – in heiklen, vor allem aber in weniger heiklen Situationen.

«Um Zivilcourage zu zeigen, braucht es nicht die Ausnahmesituation. Sie ist vor allem im Alltag nötig», sagt Dubois. Wer zudem im Kleinen Haltung bewiesen habe, schaffe das eher auch in schwierigen Situationen. Und wenn einer vorangeht, folgen ihm andere. «Wenn hingegen niemand eingreift, spielt oft der Bystander-Effekt», sagt Dubois. Alle denken, die Umstehenden seien besser qualifiziert zu handeln – und nehmen sich so aus der Verantwortung.

Für den Beobachter analysiert die Zivilcourage-Trainerin neun Situationen, die man im Alltag antreffen kann – und sagt, wie man sich dabei verhalten sollte.

Frau wird im Zug belästigt

Ich sitze abends um halb elf allein im Zug, im Waggon hat es nur wenig Mitreisende. Im Abteil vis-à-vis sitzt eine junge Frau. Drei junge Männer setzen sich zu ihr, hörbar angetrunken. Sie stellen der Frau anzügliche Fragen und machen Sprüche über ihre Figur. Ihr ist sichtlich unwohl, sie bleibt aber sitzen.


Das rät Zivilcourage-Trainerin Julia Dubois:
Solche Situationen lösen in uns immer Stress aus. Einige fliehen, andere stürzen sich Hals über Kopf in den Konflikt hinein. Beides kann gefährlich sein.

Bevor ich eingreife, atme ich kurz durch und verschaffe mir einen Überblick: Wie gefährlich ist es für mich? Sind die Männer aggressiv und vielleicht schon handgreiflich, ist es wichtig, mich selbst zu schützen. Das heisst: Ich rufe die Bahnpolizei oder drücke die Notruftaste.

Falls ich mich entscheide einzugreifen Zivilcourage Das Experiment , stelle ich sicher, dass ich nicht alleine in die Situation hineingehe. Am besten hole ich mir Hilfe von anderen Mitreisenden.

Wir raten immer, die Situation zu deeskalieren und den oder die Angegriffene in Sicherheit zu bringen. Wenn ich wütend bin und die Täter anbrülle, eskaliere ich die Situation. Deeskalierender wirkt es, wenn ich zu der Frau hingehe und sie frage, ob alles okay sei und ob sie sich zu mir setzen möchte. Höflich, aber bestimmt bleiben und auf keinen Fall die Täter anfassen, sind grundsätzliche Regeln zur Deeskalation.

 

Jungs am Prügeln

Spät nachts am Busbahnhof unseres Dorfes, das letzte Postauto ist schon weg. Ich bin zu Fuss auf dem Heimweg. Eine Gruppe von sechs jungen Männern umringt zwei weitere, die heftig aufeinander einschlagen. Obwohl der eine blutet und immer klarer unterlegen ist, lässt der andere nicht von ihm ab. Die anderen feuern beide weiter an.


Das rät Zivilcourage-Trainerin Julia Dubois:
Diese Situation ist gefährlich und so wie hier beschreiben, habe ich kaum eine Möglichkeit, Hilfe von Passanten zu bekommen. Hier empfehle ich, sofort die Polizei zu rufen.

Wenn es wirklich eilt und ich das Gefühl habe, die Polizei komme nicht schnell genug, gibt es noch einen «Notfallplan». Täter scheuen die drei L’s: Licht, Leute und Lärm. Falls ich in einer Wohngegend bin, könnte ich nach dem Telefonat mit der Polizei aus sicherer Distanz laut «Stopp» rufen und alle Klingeln eines Wohnblocks drücken.

 

Von Security verfolgt

In der Fussgängerzone rennt ein Junge in Skater-Kleidung direkt auf mich zu, verfolgt von einem Security-Mann. Wem stelle ich mich in den Weg?


Das rät Zivilcourage-Trainerin Julia Dubois:
Da ich den Hintergrund der Situation nicht kenne, würde ich weiter beobachten, aber vorerst nicht eingreifen.

 

Chef als Chauvi

Mein Abteilungsleiter lädt mich ein, nach der Arbeit eins trinken zu gehen. In der Bar stossen der Chef der Firma und der Personalchef dazu. Ab dem zweiten Bier werden die Sprüche primitiver. Unverblümt sprechen sie abwertend und sexistisch über Mitarbeiterinnen. Mir als Mann geht das Gerede total gegen den Strich. Da ich neu in der Firma bin, kenne ich alle drei Vorgesetzen aber noch kaum.


Das rät Zivilcourage-Trainerin Julia Dubois:
Seine Meinung gegenüber Vorgesetzten zu äussern, ist für viele Menschen eine Herausforderung, gerade wenn sie neu im Team sind. Zu seiner Meinung zu stehen, ist aber der Grundstein für zivilcouragiertes Handeln. Deshalb üben wir an unseren Kursen mit den Teilnehmenden zu widersprechen, gerade dem Chef oder der Chefin.

Vorgesetzte haben die gesetzliche Pflicht, Mitarbeiter vor sexuelle Belästigung Sexuelle Belästigung Am Arbeitsplatz bedrängt – was tun? zu schützen. Mit ihrem Verhalten tun die Chefs hier genau das Gegenteil: Sie fördern ein respektloses, sexualisiertes und letztlich krankmachendes Arbeitsklima.

Sehr mutig wäre es, die Vorgesetzten auf diese Sorgfaltspflicht hinzuweisen und die eigene Betroffenheit auszudrücken. In so einer delikaten Situation empfehle ich eine Beratung durch Fachexperten. Einen Ratgeber für Arbeitnehmer sowie Ansprechstellen finden Sie hier.

 

Mobbing im Bus

Im Bus wird ein Teenager-Mädchen von drei Gleichaltrigen fertig gemacht. Sie lachen sie aus, beschimpfen sie und drohen ihr: «Irgendwänn tätschts!» Das Mädchen ist den Tränen nahe, stellt sich aber taub. Im Bus tun alle so, als würden sie nichts mitbekommen. Eine Frau sagt: «Kinder, so sind sie.»


Das rät Zivilcourage-Trainerin Julia Dubois:
Hier gilt wie beim Zugbeispiel: Hinschauen statt wegsehen! Eine Möglichkeit wäre, das Mädchen zu fragen, ob ich helfen kann und ihr so meine Unterstützung anzubieten. Viele von Ausgrenzung Betroffene erzählen, dass nicht die Demütigung durch Täter das Schlimmste sei, sondern die Ignoranz und das Nichtstun der Umstehenden Zivilcourage «Wegsehen ist bünzlig und feige» .

Meine Solidarität mit dem Mädchen kann ich auch zeigen, indem ich klar und deutlich sage, dass mir solch ein Verhalten nicht gefällt, weil ich es abwertend, verletzend und respektlos finde.

 

Rassisten in der Bar

In einer Bar treten vier Männer an einen dunkelhäutigen Mann heran, der alleine ein Bier trinkt. Er wirkt angetrunken und leicht verwahrlost, verhält sich aber ruhig. «Einer wie du hat hier nichts verloren», sagen sie zu ihm. Einer sagt: «Tschüss, Schoggichopf.» Der Mann nimmt seine Jacke und geht. Zufällig habe ich die Szene mitbekommen.


Das rät Zivilcourage-Trainerin Julia Dubois:
Ziel ist es immer, die Betroffenen zu unterstützen. Eine mögliche Intervention wäre, zum Mann hinzugehen und ihn zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Ich könnte ihm mitteilen, dass ich das Verhalten der vier Männer rassistisch und inakzeptabel finde.

Gerade in der Öffentlichkeit ist es wichtig, sich klar von rassistischen und diskriminierenden Aussagen zu distanzieren, insbesondere um den Dabeisitzenden zu zeigen: nicht alle teilen diese Meinung. Beispielsweise kann ich sagen, dass mich diese Diskriminierung zutiefst bestürzt.

Auf alle Fälle empfehle ich, den Chef oder die Chefin der Bar über die rassistischen Gäste zu informieren. Er oder sie ist verantwortlich dafür, was in der Bar geschieht.

 

Häusliche Gewalt

Ich bin bei einer Freundin eingeladen, unsere Töchter gehen zusammen in den Kindergarten. Als sie im Nebenzimmer verschwindet, bekomme ich einen Streit mit ihrem Mann mit. Zuerst schreien sie sich an, dann schlägt er sie. Später kommt sie zurück an den Küchentisch und sagt mit gequältem Lächeln: «Manchmal sind Roger und ich etwas gar temperamentvoll.» Ansonsten tut sie so, als sei nichts geschehen.


Das rät Zivilcourage-Trainerin Julia Dubois:
In dieser Situation würde ich mich schnellstmöglich an eine Opferberatungsstelle wenden: www.opferhilfe-schweiz.ch. Auch die Dargebotene Hand hilft weiter und kann an richtige Anlaufstellen verweisen.

 

Homophobie

Ein Bekannter hat mir vor kurzem anvertraut, dass er schwul ist. In unserer Männerrunde gehört es zum Spiel, uns gegenseitig homosexuelle Praktiken anzudichten. Ob das wirklich schon homophob ist, weiss ich selbst nicht genau. Er macht manchmal selber mit, um nicht aufzufallen, ich merke aber, dass er sich nicht wohl fühlt.


Das rät Zivilcourage-Trainerin Julia Dubois:
In so einer Situation würde ich den Bekannten direkt und unter vier Augen fragen, wie er über die Situation denkt und wie ich ihn unterstützen kann.

 

Verwirrte Frau

Im Tram steigt eine anscheinend verwirrte Frau ein. Sie wirkt verwahrlost, riecht streng, krakeelt herum. Abwechselnd flucht sie, beleidigt einzelne Passagiere, fleht um Hilfe, erzählt, dass man sie bestohlen habe und dass sie früher missbraucht worden sei. Alle versuchen so tun, als würden sie die Frau nicht bemerken oder ignorieren sie bewusst.


Das rät Zivilcourage-Trainerin Julia Dubois:
Hier würde ich die Situation gut beobachten. Solange niemandem mutwillig Unrecht zugefügt wird, ist direktes Eingreifen nicht unbedingt nötig. Ich empfehle, den Chauffeur oder die Chauffeurin zu informieren. Sie sind für solche Situationen geschult.

Die wichtigsten Tipps

Die Situation einschätzen und den Überblick behalten

Wenn Sie in eine brenzlige Situation kommen, rennen Sie nicht sofort hinein. Atmen Sie tief durch und versuchen Sie so gut es geht, die Situation einzuschätzen und sich einen Überblick zu verschaffen.

 

Eine Strategie wählen

Überlegen Sie zuerst, bevor Sie handeln! Was kann ich tun? Wer könnte mir helfen? Kann ich das Opfer aus der Situation bringen? Welche Fluchtwege gibt es? Kann ich die Situation selbst deeskalieren oder soll ich die Polizei rufen?

 

Aufmerksam sein

Oft ist es gar nicht so einfach, Gefahrensituationen zu erkennen. Bleiben Sie im Alltag aufmerksam, schauen Sie die Leute in Ihrer Umgebung an und übernehmen Sie Verantwortung für das, was in Ihrem Umfeld geschieht. Für die spätere Rekonstruktion ist es wichtig, dass Sie das Geschehen genau beobachten und sich später als Zeuge oder Zeugin zur Verfügung stellen.

 

Körpersprache und Stimme einsetzen

Achten Sie auf eine aufrechte, offene und ruhige Körperhaltung mit festem Stand. Seien Sie präsent und setzen Sie Ihren Blickkontakt gezielt ein. Bei Überforderung oder Nervosität kann ein tiefer Atemzug in den Bauch Wunder wirken! Nehmen Sie auch die Körpersprache Ihres Gegenübers wahr – so können Sie besser darauf reagieren. Sprechen Sie mit ruhiger, klarer Stimme, dann erhalten Sie mehr Aufmerksamkeit.

 

Höflich bleiben und deeskalieren

Gerade bei aggressivem Verhalten gilt: Bleiben Sie bestimmt, aber höflich. Wahren Sie Distanz und siezen Sie den Täter oder die Täterin. Fassen Sie den Täter oder die Täterin nicht an. Berührungen oder gar körperliche Angriffe provozieren nur noch mehr. Lassem Sie sich nicht in die Aggressionsspirale hereinziehen. Nur so können Sie die Situation deeskalieren.

 

Sich selbst schützen

Wenn Sie verletzt oder in grosser Gefahr sind, sind Sie handlungsunfähig – deshalb: Schützen Sie erst sich, damit Sie andere schützen können. In einigen Situationen ist es einfach zu gefährlich, direkt einzugreifen, also begeben Sie sich in Sicherheit und rufen so schnell wie möglich Hilfe. Hören Sie auf Ihr Bauchgefühl, Ihr Instinkt hilft Ihnen bei der Gefahreneinschätzung.

 

Die Angegriffenen unterstützen

Zielen Sie mit Ihrer Intervention darauf, die Angegriffenen zu schützen, statt auf die Täter zu fokussieren. Meist ist dies weniger gefährlich für Sie und das Opfer. Wird eine Person direkt diskriminiert oder sogar angegriffen, zeigen Sie ihr Ihre Unterstützung. Das können Sie tun, indem Sie Blickkontakt suchen, sich neben sie stellen, ein Gespräch mit ihr anfangen und sie aus der Situation bringen.

 

Alarm schlagen

Täter meiden in der Regel die drei L: Lärm, Licht, Leute. In akuten Bedrohungssituationen: Schreien Sie laut «Stopp! Lassen Sie mich in Ruhe!». Stellen Sie Öffentlichkeit her, werden Sie aktiv, statt passiv in der Opferrolle zu versinken.

 

Mithilfe fordern

Bei Konflikt- und Gewaltsituationen gilt: Bitte Sie Umstehende um Unterstützung und sprechen Sie sie gezielt an. Zum Beispiel: «Sie im gelben T-Shirt, bitte helfen Sie mir.» Oder bei weniger klaren Fällen: «Ich habe bei der Situation hinten im Bus ein ungutes Gefühl, Sie auch?». Sind viele Leute anwesend, kommt es zum Bystander-Effekt: Alle denken, die anderen Anwesenden würden eingreifen, wenn es denn wirklich ein Notfall wäre. Wird jemand persönlich um Hilfe gebeten, fällt es ihm oder ihr sehr viel schwerer, sich aus der Verantwortung zu ziehen.

 

Hilfe holen

Wenn Sie merken, dass die Situation ausser Kontrolle gerät, holen Sie sich Hilfe:

  • Polizei: 112 / 117
  • Zug: Transportpolizei 0800 117 117 – Notbremse nur im absoluten Notfall betätigen.
  • S-Bahn: SOS-Knopf an der Türe drücken.
  • Bus: Fahrer informieren, Polizei anrufen.

 

Sind Sie selbst bedroht?

Ausbrechen! Wenn Ihnen jemand direkt droht, bleiben Sie nicht sitzen, sondern brechen Sie aus der Situation aus. Rechnen Sie nicht damit, dass Ihnen jemand hilft, solange Sie still sind und das Spiel des Täters oder der Täterin mitspielen. Suchen Sie sich ein Ziel, beispielsweise eine Gruppe von Leuten und bitten Sie sie direkt um Hilfe. Verhalten Sie sich nicht unterwürfig, sondern bleiben Sie aktiv.

Zur Person

Julia Dubois

Julia Dubois ist Bildungsverantwortliche bei Amnesty International Schweiz. Sie leitet den Kurs «Zivilcourage: Hinschauen statt wegsehen».

Quelle: ZVG
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Raphael Brunner, Redaktor
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