Lucia W.* treibt alle zur Verzweiflung: die Erwachsenenschutzbehörde (Kesb), ihren Beistand, Nachbarn, die Polizei, Richter. Alle sind mit ihr überfordert. Offiziell würde das so niemand sagen. Stattdessen heisst es: «Lucia W. ist ein komplexer Fall.»

«Komplex» ist beschönigend und untertrieben zugleich. Eigentlich ist Lucia W., 79, eine von Tausenden Betroffenen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Genauso wie Verdingkinder, Fremdplatzierte, administrativ Versorgte, Zwangssterilisierte oder Zwangsadoptierte, die aufgrund eines angeblichen «liederlichen Lebenswandels», wegen «Trunksucht» oder «Arbeitsscheu» weggesperrt wurden. Sie entsprachen aus der Sicht der Behörden nicht der gesellschaftlichen Norm. Bei Lucia W. war es ein «krankhafter Liebeswahn», der ihr zum Verhängnis wurde.

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1966 geriet sie in die Mühlen der Psychiatrie – und fand nie mehr heraus. Sie hat den allergrössten Teil ihres Lebens in geschlossenen Anstalten verbracht, weil sie mit ihrer Art aus Sicht der Behörden der Gesellschaft nicht zugemutet werden kann. Sie war nicht verwahrt im juristischen Sinn, keine Gefahr für ihre Mitmenschen. Aber sie hatte ihren Klavierlehrer gestalkt, damals, vor über 50 Jahren, im «krankhaften Liebeswahn».

Sie spielt das «Burghölzli-Lied»

Heute könnte Lucia W. als Beispiel dafür dienen, wie die Gesellschaft mit «schwierigen» Menschen umgeht. Die letzten drei Jahre lebte sie mehr oder weniger in Freiheit. Immer mal wieder kurz in der Psychiatrie, aber doch grundsätzlich in einer eigenen Wohnung. Besser gesagt: in den eigenen vier Wänden, mit WC und Dusche auf dem Gang. Wer sich durch die schmale Tür quetscht, steht vor einem Kühlschrank, eingepfercht zwischen einem Bett, einem Regal – und ihrem Elektropiano. Wenn sie Chopin spielt – oder das selber komponierte «Burghölzli-Lied» –, strahlt sie mit ihrem schlohweissen Haar in den Spiegel, der hinter dem Klavier an der Wand steht. Der eine oder andere Ton klingt schief. Aber das Piano ist ihre Welt.

Die letzten paar Jahre brachten ihr aber nur theoretisch ein freies Leben. Lucia W. wird nach Jahrzehnten in geschlossenen Institutionen mit Zwangsmedikation weder begleitet noch betreut. Man überlässt sie weitgehend sich selbst, obschon sie umfassend verbeiständet ist. Sie wird behördlich «geführt», erhält Auflagen, Betretungsverbote, Vorladungen, Verfügungen.

Bis zu 100-mal pro Tag ruft sie an

Das Bezirksgericht Zürich bezeichnete sie kürzlich als schuldunfähige Person und ordnete eine stationäre Massnahme an. Grund: Kaum war sie nicht mehr in der Psychiatrie, machte sie ihrem einstigen Pfleger das Leben zur Hölle. Bis zu 100-mal täglich rief sie ihn auf sein Handy an, besuchte ihn zu unmöglichsten Tages- und Nachtzeiten an Arbeitsplatz und Wohnort. Sie deponierte ein Päckli in seinem Briefkasten und teilte ihm mit, es handle sich um eine Bombe. Weil sie für schuldunfähig erklärt wurde, konnte sie nicht bestraft werden – und landete wieder in der Psychiatrie. Wie lange Lucia W. stationär «behandelt» wird, ist nicht klar. Ihre Pflichtverteidigerin wehrte sich vor Gericht gegen eine erneute Einweisung. Noch ist der Entscheid nicht rechtskräftig.

Es war ein Abend im Januar 1966, als die Odyssee durch die psychiatrischen Kliniken ihren Anfang nahm. Lucia W. ruft ihren Klavierlehrer in Genf an, der sie wöchentlich unterrichtet. Sie glaubt, sie habe mit ihm eine Beziehung, nachdem es zuvor zu amourösen Annäherungen gekommen sein soll. Doch nicht «ihre Liebe» ist am anderen Ende, sondern eine Frau. Die eröffnet ihr, sie sei seit einigen Tagen mit dem Klavierlehrer verheiratet. Für Lucia W. bricht eine Welt zusammen. Sie klagt ihr Leid ihrer Schwester. Die schickt sie zu einem Psychiater. Der will ihr Valium verschreiben. Doch Lucia W. nimmt Reissaus, sucht Hilfe bei der Polizei. Der Abend endet in einer privaten Zürcher Psychiatrieklinik. Die Eltern der bald 30-Jährigen liefern sie gleich selber ein.

Das Piano ist Lucia W.s Welt

Quelle: Andreas Gefe
Angstzustände, Wahnvorstellungen und Liebeswahn

Lucia W. stammt aus einer deutschen Musikerfamilie, die nach dem Krieg in die Schweiz gezogen war. Ihr Vater wollte aus den Kindern ein Trio formen. Anfang der fünfziger Jahre traten sie auf. Die Schwester am Cello, der Bruder mit der Geige, sie am Klavier. In den Augen des Vaters waren die anderen talentierter als Lucia. Doch sie schaffte das Konservatorium 1958 und unterrichtete an einer Jugendmusikschule im Zürcher Oberland.

Zwei Jahre nach dem ersten Klinikaufenthalt verfasste Assistenzärztin S. in der «Heilanstalt Burghölzli» ein Gutachten, das dem Leben von Lucia W. fortan den Stempel aufdrücken sollte: Lucia W. sei «für jeden Laien offensichtlich schwer geisteskrank». Die Ärztin sprach von Angstzuständen, Wahnvorstellungen und «krankhaftem Liebeswahn». Das Fazit des Gutachtens liest sich 50 Jahre später als erschütternde Prophezeiung: «Eine Fortsetzung der Klinikbehandlung ist zu empfehlen, bis eine weitere Beruhigung und Besserung auftritt.» Ein halbes Jahr später taucht in einem Ergänzungsgutachten erstmals die Diagnose «chronische paranoide Schizophrenie» auf, die sie nie mehr loswurde. Bald darauf bevormundete man sie.

Ein Loch wird in den Schädel gebohrt. Dann zerstört ein Arzt das Gewebe des sogenannten Gehirnbalkens.

Es folgten alle erdenklichen Therapien – über Jahre hinweg. Dämmerkuren, Elektroschocks und ab 1968 das Versuchsmedikament HF-1854. Ein Wirkstoff, der erst 1972 unter dem Namen Leponex zugelassen wurde. Das Medikament wurde ihr vier Jahre lang experimentell verabreicht. Ob sie Teil einer Studie war, ist nicht klar. Aktenkundig sind aber Nebenwirkungen. Lucia W. hatte Fieberschübe und musste erbrechen. Heute sagt sie: «Leponex hat mich kaputt gemacht. Sie haben mich regelrecht versenkt.»

In den Akten sind mindestens zwölf verschiedene Psychopharmaka dokumentiert, die sie einnehmen musste. Ein stetiger Medikamentencocktail, ständige Spritzen. Wenn sie erregt reagiert, heisst es, sie sei manisch. Ist sie resigniert, heisst es, sie sei depressiv – worauf man ihr das nächste Medikament verabreicht. Sie protestiert mit Hungerstreiks, worauf sie in eine andere Klinik versetzt oder per Magensonde ernährt wird.

Die «moderne» Form der Lobotomie

Die Tortur gipfelt am 9. November 1972 in einem sogenannten psychochirurgischen Eingriff. Sie wird von der Klinik Littenheid SG in die Neurochirurgische Klinik des Unispitals Zürich gebracht. An ihrem Kopf wird eine Art Vermessungsgestell befestigt, um wenige Zentimeter über dem Auge die Stelle zu markieren, wo anschliessend ein Loch in den Schädel gebohrt wird. Ein Arzt führt ein Instrument ein und zerstört mit Strom Gewebe des sogenannten Gehirnbalkens, der die beiden Hirnhälften verbindet. Eine Elektrokogulation im Corpus Callosum und Gyrus Cynguli. In den Akten wird die Operation als «stereotaktischer Eingriff» bezeichnet, auch Mikroleukotomie genannt – sie löste die zuvor während Jahrzehnten durchgeführten Lobotomien ab. Von 1946 bis 1971 wurden in der Schweiz über 1200 psychochirurgische Eingriffe vorgenommen, schreibt die Zürcher Psychiatriehistorikerin Marietta Meier. Anfangs gehäuft, ab Mitte der fünfziger Jahre ging die Zahl stark zurück.

Jahrzehntelang waren die Verfechter solcher Hirnoperationen überzeugt, mit Lobotomien den Zustand von Schizophrenen, Depressiven und Zwangsneurotikern verbessern zu können. Als Massstab für den medizinischen Erfolg diente die «soziale Heilung». Entscheidend war also, ob Patienten später imstande waren, sich an die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu halten. Burghölzli-Direktor Eugen Bleuler betonte Angehörigen gegenüber jeweils, es könne keine «völlige Heilung» erzielt werden, aber «eine weitgehende Beruhigung und Erleichterung». Heftig diskutiert wurden unter Spezialisten die Persönlichkeitsveränderungen durch die Operation.

«Hochbegabt, sensibel, humorvoll»

Bei Lucia W. zeigte der Eingriff keine direkte Wirkung, ausser dass sie 16 Kilo zunahm. Aber die Operation hinterliess tiefe seelische Wunden – bis heute. Wenn sie wieder mal auf einer Amtsstelle, am Postschalter oder im Hausflur in Rage gerät, glaubt sie, sich gegen alles und jeden wehren zu müssen. Dann erzählt sie enerviert, wie man sie chirurgisch im Hirn traktiert habe. Wer den Fall nicht näher kennt, denkt nur: Was für eine Spinnerin!

1997 dann ein kurzer Lichtblick. Eine Psychiaterin der Klinik Rheinau begutachtete Lucia W. im Auftrag der Vormundschaftsbehörde Zürich und kam zum Schluss, die Patientin sei verletzlich und reagiere auf «schmerzliche Erlebnisse oder Ungerechtigkeiten psychotisch». Doch eine Schizophrenie im eigentlichen Sinn liege nicht vor. Die Gutachterin kam gar zum Schluss, Lucia W. sei «eine hochbegabte, intelligente, sensible und humorvolle Frau, allseits selbständig».

Lucia W. singt: «Bist du einmal im Krankenhaus, kommst du lebend nicht heraus...»

Die Psychiaterin regte an, die Patientin zu entlassen und die Bevormundung aufzuheben. Doch es sollte noch Jahre dauern, bis Lucia W. tatsächlich aus der Klinik austreten durfte. Erst nachdem der Basler Psychiater Piet Westdijk im Auftrag der umstrittenen Organisation Psychex 2013 ebenfalls zum Schluss kommt, sie sei willkürlich weggesperrt worden, darf Lucia W. in Freiheit leben. Westdijk spricht von einem «tragischen Fall» und wegen der zahllosen Zwangsmassnahmen und Zwangsmedikationen von einer «schweren Traumatisierung». Und sagt zur Leukotomie: «Es ist schwer vorstellbar, dass der Eingriff keinen Dauerschaden zurückgelassen hat.»

Lucia W. hat mit 79 Jahren ihren Platz in der Gesellschaft noch immer nicht gefunden. Ein normales Leben wird sie wohl nie mehr führen. Früher oder später eckt sie irgendwo an – und wird wieder für ein paar Wochen oder Monate in einer Klinik versorgt. Im Alltag nehmen viele sie schlicht nicht ernst. Neulich fragte sie in der Klinik einen Pfleger, ob sie Klavier spielen dürfe. Der Pfleger lächelte mild, und seine Augen zeigten, was er dachte: «Ach, was fabuliert diese Frau jetzt von Klavierspielen?»

Doch Lucia W. könnte ihm Chopin vorspielen. Oder ihr «Burghölzli-Lied»: «Bist du einmal im Krankenhaus, kommst du lebend nicht heraus.» Oder ihr «Alibaba und die 50 Räuber». «Für die mir geraubten 50 Lebensjahre», erklärt Lucia W.

* Name geändert