Es ist dieser eine Satz, der Fragen aufwirft: «Den Akten und Ihren Aussagen zufolge gibt es keine Vollzugshindernisse für die Wegweisung nach Russland.» So begründet das SEM seinen Entscheid gegen eine 40-jährige Russin und ihren zwölfjährigen Sohn. Sie sind im Frühling aus der Ukraine geflüchtet, wo sie die letzten 13 Jahre gelebt haben.

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) glaubt den beiden offenbar nicht, dass sie in Russland gefährdet sind, und verweigert ihnen nach einer Kurzbefragung den Schutzstatus S. Es leitet kein ordentliches Asylverfahren ein, sondern ordnet eine Wegweisung der beiden nach Russland an. Ein Vorgehen, das im Widerspruch zu einem rechtskräftigen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts steht. In einem ähnlich gelagerten Fall hat es genau dieses Vorgehen für rechtswidrig erklärt.

«Unverständlich» sei dieser Entscheid, sagt Alicia Giraudel. Die Asylexpertin von Amnesty International Schweiz kennt den Fall. «Die Mutter und ihr Kind wären bei einer allfälligen Wegweisung nach Russland klar gefährdet, da sie als Regierungs- oder Kriegsgegner verfolgt werden könnten.» In Russland drohen dafür mehrjährige Haftstrafen. Diese Einschätzung teilen weitere angefragte Menschenrechtsorganisationen.

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Deutschland machts anders

In Deutschland wäre eine solche Ausweisung nicht möglich. Das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schreibt auf Anfrage: «Bei Personen, die sich mit einem unbefristeten Aufenthaltstitel in der Ukraine aufgehalten haben, ist davon auszugehen, dass sie nicht in der Lage sind, sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland zurückzukehren, weil eine engere Bindung zur Ukraine besteht als zum Herkunftsstaat.»

Die Geschichte der beiden Geflüchteten beginnt 2009. Aus Angst vor dem russischen Geheimdienst wollen sie anonym bleiben. Wir nennen sie hier Irina Iwanowa und Alexander Iwanow. Die frisch promovierte Psychologin Iwanowa hatte sich in einen Ukrainer verliebt und zog von Sankt Petersburg nach Kiew. Ein Jahr später kam ihr Sohn Alexander zur Welt. 2013 erhielt sie die ukrainische Niederlassungsbewilligung.

Als Russland 2014 die Krim annektierte, habe sie «wahnsinnige Angst gehabt, dass die Gewalt auf weitere Gebiete der Ukraine überschwappt». Sie habe beobachtet, wie bezahlte Demonstranten Ukrainer auf dem Maidan verprügelten, und begann, sich mit der Ukraine zu solidarisieren. Auch nach der Scheidung blieb sie mit ihrem Sohn in Kiew. Nach Sankt Petersburg reisten die beiden nur noch in den Ferien, um Iwanowas Bruder zu besuchen. Das letzte Mal über Neujahr – zwei Monate vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Damals habe sie gemerkt, wie die russische Propaganda bei ihren Verwandten verfing. Die Spannungen in der Familie nahmen zu. 

Am 24. Februar wurde sie um fünf Uhr früh von russischen Raketen aus dem Schlaf gerissen.  Russische Truppen beschossen einen nahegelegenen Militärstützpunkt. «Was Russland an diesem Tag gemacht hat, war die grösste Enttäuschung meines Lebens», sagt Iwanowa. In der Folge engagierte sie sich in einem Hilfskomitee, sammelte Kleider und Lebensmittel für die ukrainische Armee und spendete selbst. Auf Facebook postete sie ukrainefreundliche Beiträge. Im März flüchtete sie mit ihrem Sohn und fand bei einer Gastfamilie im Kanton Basel-Landschaft Unterschlupf.

Harte Strafen drohen

Nach dem Überfall auf die Ukraine erliess Putin harte Gesetze gegen Regimekritiker. Wer für Frieden protestiert, den Krieg kritisiert und ihn nicht als «militärische Spezialoperation» bezeichnet, riskiert eine Gefängnisstrafe von bis zu 15 Jahren. Tausende wurden bis heute inhaftiert.

Iwanowa stellte Ende März ein Gesuch um den Schutzstatus S. Anfang Juni wurde sie vom SEM zu einer sogenannten Kurzbefragung aufgeboten. «Ich dachte, das sei reine Formalität. Ich kam nicht einmal auf die Idee, dass man mich und meinen Sohn nach Russland ausschaffen könnte», sagt sie heute.

Im Gespräch wies sie laut Befragungsprotokoll nur am Rand darauf hin, dass sie in Russland vielleicht gefährdet sei. Heute sagt sie, sie sei eingeschüchtert gewesen, habe während der Befragung geweint. Man habe sie verhört wie eine Verbrecherin. «Ich hatte das Gefühl, dass der Beamte gegen uns war.»

Einen Monat später erhielt sie den Entscheid des SEM. Sie sei entsetzt gewesen. Ihr Sohn habe gesagt: «Mama, Putin ist doch der Feind. Wir können unmöglich nach Russland.»

Bereits in 20 Fällen hat die Schweiz russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern den Schutzstatus S verweigert.

Das SEM schreibt auf Anfrage, man gewähre Menschen aus der Ukraine ohne ukrainischen Pass Schutz, wenn sie belegen könnten, dass sie vor dem 24. Februar über eine gültige Aufenthaltsgenehmigung für die Ukraine verfügten und nicht sicher und dauerhaft in ihre Heimatländer zurückkehren könnten. Ob eine Rückkehr zumutbar sei, beurteile man im Einzelfall. Der Bund lehnte in der Anfangsphase des Kriegs nur wenige Gesuche von Personen aus Drittstaaten ab. Die Zahl hat nun aber deutlich zugenommen, wie die «NZZ» kürzlich berichtete. Bei russischen Staatsbürgerinnen verweigerte das SEM in 20 Fällen den Status S. In 420 wurde er gewährt (Stand Ende August).

Man sei sich der schwierigen Situation in Russland bewusst und beobachte die aktuellen Entwicklungen genau, schreibt das SEM. «Diese laufende Analyse fliesst in die Beurteilung der Situation der individuellen Schutzsuchenden ein.»

Gerichtsurteil ignoriert

Recherchen des Beobachters zeigen nun: Fünf Tage vor dem Entscheid gegen Iwanowa hat das Bundesverwaltungsgericht das SEM wegen des Vorgehens in einem ähnlichen Fall gerügt. Dabei ging es um einen türkischen Staatsangehörigen, der aus der Ukraine geflüchtet war und den das SEM in die Türkei wegweisen wollte – und das, obwohl er angegeben hatte, dass er dort wegen seiner politischen Arbeit verfolgt werde.

Das SEM hätte zwingend ein ordentliches Asylverfahren eröffnen müssen, urteilte das Bundesverwaltungsgericht am 6. Juli. Eine Kurzbefragung genüge in solchen Fällen nicht, um eine Ausweisung zu rechtfertigen. Der Gesuchsteller habe «keine Gelegenheit erhalten», sich ausführlich zu seinen Fluchtgründen zu äussern. Man habe nicht genügend geprüft, «ob ihm bei einer Rückkehr in den Heimatstaat Konsequenzen drohen würden»; in der Kurzbefragung seien auch «kaum konkrete Nachfragen hierzu gestellt worden».

Die Prüfung ist «komplex»

Spätestens nach diesem Urteil hätte das SEM seine Praxis ändern müssen, sagt die Schweizerische Flüchtlingshilfe. Aber selbst Mitte August, einen Monat später, hat das Staatssekretariat offenbar keine Kenntnis von dem Urteil. Auf entsprechende Fragen des Beobachters schreibt es: «Es wird leider nicht möglich sein, innert nützlicher Frist eine seriöse Antwort auf Ihre Frage zu geben, da unsere Experten noch daran sind, das Urteil eingehend zu analysieren. Erst wenn diese Prüfung abgeschlossen ist, wird sich weisen, ob und inwiefern das Verfahren zum Schutzstatus anzupassen ist.»

Kurz vor Redaktionsschluss schreibt das SEM, die Analyse des Urteils dauere noch an. «Die Prüfung allenfalls nötiger Massnahmen aufgrund des Entscheides des Bundesverwaltungsgerichts ist komplex.» Der Beobachter wird über die neusten Entwicklungen im Fall informieren.

Für Irina Iwanowa und ihren Sohn Alexander wird das aber keine Bedeutung mehr haben. Sie haben rekurriert und ihren Fall vor das Bundesverwaltungsgericht gezogen. Ihr Anwalt ist zuversichtlich, dass sich so ihre Wegweisung verhindern lässt.

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