Siham Theimer vergisst zu blinzeln, so angestrengt starrt sie auf den Bildschirm ihres Laptops. Der grüne Balken hat sich seit gestern nicht gross bewegt. 8864 Euro sind bis jetzt beim Crowdfunding Spinale Muskelatrophie Leben dank Crowdfunding zusammengekommen. 250 Euro von Anonym, 100 Euro von einer Monika Schenk. Beiträge, die helfen, aber nicht reichen. Um das Leben ihrer Tochter zu retten, braucht sie eine halbe Million Franken. Denn die sechsjährige Sara aus Romanshorn TG ist krank. Todkrank.

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Ihre einzige Hoffnung ist ein kleines Lausanner Start-up, das ein Medikament für das Mädchen entwickeln will. Aber der Firma fehlt das Geld. Wenn beim Crowdfunding nicht genug zusammenkommt, wird das Projekt Ende Mai eingestellt. Für Sara wäre das ein Todesurteil, sagt die Mutter. 

GM1-Gangliosidose, teilte man der Mutter telefonisch mit

Sara wird am Valentinstag 2013 geboren und entwickelt sich wie jedes andere Kind. Sie beginnt zu krabbeln, zu brabbeln, steht auf und macht erste Schritte. Doch dann kann sie Gelerntes nicht mehr tun. Immer wieder stürzt sie, verletzt sich am Kopf. Dann fällt ihr das Sprechen schwerer Sprachentwicklung Warten auf die ersten Wörter . Sara lernt keine neuen Wörter mehr, verstummt zusehends.

Es folgt eine Odyssee durch Arztpraxen. Die Mediziner beruhigen: Jedes Kind entwickle sich unterschiedlich. Erst eine Spezialklinik des Zürcher Unispitals stellt die Diagnose: GM1-Gangliosidose, eine seltene Stoffwechselkrankheit, teilt die Praxisassistentin am Telefon mit. Eine Behandlung gebe es nicht, «wenige Jahre zu leben », hört Mutter Siham Theimer noch. Ihre Ohren sausen. Bis heute könne sie den Namen der Krankheit nicht aussprechen, sagt die Mutter dreier Töchter. Doch sie gebe nicht auf.

GM1-Gangliosidose ist genetisch bedingt

GM1-Gangliosidose zählt zu den seltenen Krankheiten Seltene Krankheiten Krank und alleingelassen . Selten heisst, dass höchstens fünf von 10'000 Personen betroffen sind. Oft werden diese Leiden allerdings nicht diagnostiziert, weil viele Ärzte die Symptome nicht einordnen können. Weltweit sind rund 7000 seltene Krankheiten bekannt. In der Schweiz leiden bis zu einer halben Million Menschen an einer solchen Erkrankung, schätzt die Universität Lausanne.

Wie viele seltene Krankheiten hat auch GM1-Gangliosidose einen genetischen Ursprung. Ein Enzym, das Teile von Zucker und Fett in den Nervenzellen abbaut, funktioniert nicht richtig. Schadstoffe werden nicht abgetragen. Das lässt die motorischen Fähigkeiten schwinden. Viele Patienten erblinden Fast blind «Mein Bauchgefühl ist ja nicht sehbehindert» , werden taub, können nicht mehr selbständig essen.

Ein Löffel Joghurt an die Lippen – für den Geschmack

Das kann auch Sara nicht mehr. «Früher mochte sie mein Essen so gern», seufzt die Mutter. «Besonders Guetsli.» Heute wird Sara künstlich ernährt Der Fall Der Kampf um den letzten Finger . Der Tropf mit Flüssignahrung steht neben dem Sofa, auf dem Sara auf einem Stapel von Decken und Matratzen liegt. Über einen Schlauch wird eine dickflüssige rosa Masse direkt in ihren Magen gepumpt.

«Früher mochte sie mein Essen so gern.»

Siham Theimer, Mutter der kranken Sara

 

Manchmal hält die Mutter Sara einen Löffel Joghurt an die Lippen – «nur für den Geschmack». Sara kann nicht mehr stehen, sitzen oder sprechen. Einzig die Augen wandern an der Decke hin und her. Aber auch die werden schlechter. Die Ärzte gehen davon aus, dass Sara maximal zehn Jahre alt werden wird.

Neben dem Tisch stehen zwei Rollstühle, auf einem Rad ein lachender Oktopus, ein Wal, ein Schwarm Fische. Am Fenster eine Stehmaschine, Sara kann darin eingespannt werden und sich aufrichten. Das Gerät passt nicht richtig. «Das Kopfteil ist zu klein», sagt die Mutter. Trotz Krankheit wächst das Mädchen weiter. «Einen Meter zwanzig gross ist sie heute», fügt sie stolz an.

Hektische Suche nach Heilung

Auf der Küchenablage ein Arsenal an Arzneimitteln: Pillen gegen Magensäure, Spritzen, Saugapparate, um Schleim aus Saras Lungen zu pumpen. Das Atmen fällt ihr schwer. Die Familie verbringt immer mehr Zeit in den Notaufnahmen Kranke Kinder «Die Hälfte gehört nicht in die Notaufnahme» der Spitäler. Krämpfe und Infektionen mehren sich: Lungen- und Blasenentzündungen, Leberprobleme. Im Winter ist es schlimmer. 

Als die Diagnose da ist, fängt Siham Theimer an zu googeln, tagelang, nächtelang. Es muss einen Weg geben, die Krankheit ihrer Tochter zu stoppen. Sie vernetzt sich mit anderen betroffenen Eltern, kontaktiert Spezialkliniken in Frankreich und den USA, übersetzt japanische Medizinblogs, amerikanische Studien. Und findet heraus: In den USA gibt es zwar vielversprechende Ansätze in der Genforschung, ein marktreifes Medikament existiert aber noch nicht. Obwohl sich die Pharmaindustrie auf seltene Krankheiten stürzt.

Seltene Krankheiten werden zum lukrativen Geschäft

Lange galten sie als wenig interessant für die Branche. Zu teuer war die Forschung für ein paar wenige Patienten. Das hat sich geändert. 1983 führten die USA den Orphan Drug Act ein (Orphan: englisch für «Waise»). Das Gesetz sollte Anreize für Pharmafirmen schaffen, seltene Krankheiten zu erforschen. Die EU zog im Jahr 2000 nach. Wenn Firmen heute für ein Mittel den Orphan-Drug-Status erhalten, spricht ihnen die EU bei einer Zulassung eine zehnjährige Exklusivität auf dem Markt zu. Auch die Schweiz hat die Zulassung vereinfacht und gewährt seit Anfang Jahr besseren Schutz für Forschungsresultate.

Mit den neuen Gesetzen sind seltene Krankheiten für die Pharma zum lukrativen Geschäft Hepatitis C «Die Zweiklassenmedizin ist schon Realität» geworden. Die Umsätze mit entsprechenden Medikamenten sollen bis 2024 jedes Jahr um 11 Prozent wachsen – auf 262 Milliarden Dollar, doppelt so viel wie heute. Das prophezeien die Marktforscher von Evaluate Pharma. Der gesamte Pharmamarkt werde nur halb so schnell wachsen.

Die Basler Pharmariesen Novartis und Roche sind Weltmarktführer bei Medikamenten für seltene Krankheiten. Novartis machte laut Evaluate Pharma 2017 bereits 12,4 Milliarden Dollar Umsatz, Roche folgte mit 10,3 Milliarden. Die Konzerne werden dafür immer wieder scharf kritisiert. Denn sie verkaufen die Mittel zu exorbitanten Preisen.

Sind die hohen Medikamentenpreise gerechtfertigt?

Novartis hat zuletzt etwa für Kymriah, ein Mittel gegen Blutkrebs, die Marktzulassung erhalten. Eine Infusion kostet in der Schweiz rund 370'000 Franken. Der Konzern hat zudem eine Gentherapie gegen eine schwere Form von Muskelschwund entwickelt. Sie soll dieses Jahr auf den Markt kommen und könnte bis zu 4 Millionen Franken kosten. Roche zog nach und krallte sich die US-Biotechfirma Spark. Deren einzige Therapie Luxturna gegen erbliches Erblinden kostet 850'000 Franken pro Patient.

Die hohen Preise erklären die Pharmagiganten mit hohen Entwicklungskosten. Ob das zutrifft, ist unklar, sie lassen sich nicht in die Bücher blicken. In vielen Fällen ist auch nicht geklärt, wer die Behandlungskosten übernehmen soll. US-Patientenschützer nannten Novartis’ Heilmittel Kymriah «wild überteuert». Die hohen Kosten für solche Medikamente seien wohl nur bedingt mit hohen Herstellungs- und Entwicklungskosten zu rechtfertigen, sagt Caroline Henggeler von der Stiftung für Menschen mit seltenen Krankheiten. 

Krebsmedikamente sind lukrativer

Die Entwicklung erfolge häufig durch ein kleines Start-up-Unternehmen, das anschliessend aufgekauft werde. Ausserdem sei die Zulassung bei solchen Medikamenten weniger streng, und klinische Studien dürften günstiger sein, weil sie mit einer geringeren Anzahl Personen durchgeführt werden.

Für Unmut sorgt auch, dass nur für wenige seltene Leiden Behandlungen erforscht werden. «Grosse Pharmafirmen kümmern sich vor allem um Krebsstudien Krebs Wundermittel mit Nebenwirkungen », kritisiert Matthias Baumgartner, Leiter der Abteilung für Stoffwechselkrankheiten am Kinderspital Zürich. Dort sei es lukrativer, für ein Mittel den Status «seltene Krankheit» zu erhalten und so die staatlich verordneten Marktvorteile zu erlangen. «Die überwiegende Mehrheit von Patienten mit seltenen Krankheiten wird dabei nicht berücksichtigt – weder mit Geld noch mit Aufmerksamkeit.»

Wenig Forschung bei seltenen Stoffwechselkrankheiten

Die Pharma forscht bei Medikamenten gegen seltene Krankheiten am meisten. Anzahl Medikamente der Kategorie «Orphan Drugs», die 2016 in Entwicklung waren:

Anzahl Medikamente, die 2016 in Entwicklung waren.
Quelle: Infografik: Andrea Klaiber | Quelle: Verband der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz
Weniger wirksam – dafür schnellere Hilfe

Auch GM1-Gangliosidose, an der Sara aus Romanshorn leidet, hat bisher keine grosse Pharmafirma erforscht. Saras Mutter ist bei Recherchen aber auf das Lausanner Start-up Dorphan gestossen, das an einem vielversprechenden Mittel arbeitet. Sie kontaktierte den Gründer Stéphane Demotz. Er setzt auf kleine Moleküle statt auf Gentherapie, um GM1-Gangliosidose zu behandeln. Damit könne man einen Teil der Enzymaktivität wieder herstellen. Das führe dazu, dass sich weniger Schadstoffe ansammeln, so Demotz.

Der Forscher war zuvor für diverse Pharmafirmen tätig und sagt, dass seine Methode vielleicht nicht so effektiv sei wie eine Gentherapie. Er könne aber viel schneller eine klinische Studie starten – womöglich innert Monaten. Er hofft, dass die Behandlung den Zustand von Patienten wie Sara stabilisiert.

Kurz vor dem Ziel die Krise

Potenzial in Dorphans Ansatz sieht auch der Arzt Matthias Baumgartner, der den klinischen Forschungsschwerpunkt über seltene Krankheiten an der Uni Zürich leitet. «Man könnte damit aus einem schweren Verlauf der Krankheit einen milderen machen.» Das Problem: Dem Start-up fehlt für die weitere Entwicklung des Medikaments das Geld.

«Es ist schwierig, Investoren zu überzeugen.»

Stéphane Demotz, Forscher

 

Seit sieben Jahren forscht Demotz im Bereich GM1-Gangliosidose. 4 Millionen Franken hat er bereits ausgegeben. Jetzt, kurz vor dem Ziel, kommt er nicht weiter. Rund eine halbe Million Franken wären nötig, um eine klinische Studie zu starten, bei der auch Sara mitmachen könnte. Allein 75'000 brauche es, um die entsprechenden Dokumente für die Gesundheitsbehörden vorzubereiten. Doch das Geld hat Demotz nicht.

«Es ist schwierig, Investoren zu überzeugen», sagt der Forscher. «Obwohl wir eine geringe Summe suchen im Vergleich zu den Beträgen, die sonst in der Pharmaindustrie für Studien ausgegeben werden.» Viele Investoren würden sein Projekt als zu riskant einstufen – denn Dorphan konzentriere sich auf einen Medikamentenkandidaten für eine Krankheit. Zudem sei das Molekül, auf das er setze, nicht neu. Es wurde bereits für eine andere Krankheit getestet. Darum sei es schwierig, einen Patentschutz zu erhalten. «Wenn wir Erfolg haben mit der Studie, könnten alle unser Produkt kopieren», so Demotz. «Das hassen Investoren.»

Mutter sammelt Geld, damit Medikament entwickelt werden kann

Saras Mutter glaubt an Demotz und sein Projekt. Um ihm zu helfen, setzt sie auf ein ungewöhnliches Mittel: Sie hat ein Crowdfunding gestartet, um das Geld für die klinische Studie zu sammeln. Bis jetzt ist allerdings erst ein Bruchteil zusammengekommen.

Theimer ist mit ihrer Aktion nicht allein, viele sammeln im Internet Geld für kranke Angehörige. Auf Gofundme, der grössten Crowdfunding-Plattform, ist «Medizinisches» die beliebteste Kategorie. «Ich finde es tragisch, dass Angehörige ein Crowdfunding durchführen müssen, damit eine Studie für ein Medikament überhaupt stattfinden kann», sagt Caroline Henggeler von der Stiftung für Menschen mit seltenen Krankheiten.

«Zwei Millionen Franken für ein Medikament sind überrissen.»

Caroline Henggeler, stellvertretende Geschäftsleiterin Stiftung für Menschen mit seltenen Krankheiten

 

Der Fall von Sara sei allerdings eher ungewöhnlich. Meistens sammelten Patienten Geld, weil sie sich eine Behandlung nicht leisten könnten, die bereits zugelassen ist. Etwa wenn teure Therapien von den Krankenkassen nicht übernommen werden. «Diese Medikamente werden spezifisch für Patienten mit seltenen Krankheiten entwickelt. Dann haben sie aber gar keinen Zugang dazu.»

Die Lösung sei nicht, dass die Krankenkassen mehr zahlen. Sondern dass die Pharmaindustrie sich ethischer verhalten und eine angemessenere Preispolitik einführen müsste. «Zwei Millionen Franken für ein Medikament sind überrissen.» Es müsse ein Gewinndach für Medikamentenpreise geben – das müsste aber die Politik beschliessen. «Ich hoffe, dass das weniger Zeit braucht, als ein Medikament zu entwickeln.»

Zeit bis Ende Mai, um das Geld aufzutreiben

Sara erhielt kürzlich eine gute Nachricht aus Lausanne. Studien an Mäusen waren erfolgreich, teilte GM1-Forscher Demotz mit. Die Laborarbeit sei damit abgeschlossen. Er wende sich jetzt voll und ganz der Finanzierung zu. «Ich bin fest entschlossen, das Geld aufzutreiben», sagt der Lausanner.

«Ich kann nicht hier sitzen und zusehen, wie mein Kind zerfällt.»

Siham Theimer, Mutter von Sara

 

Allerdings hat er nur bis Ende Mai Zeit: «Irgendwann muss man aufhören, wenn es kein Interesse an diesem Projekt gibt.» Das Datum ist auch eine Deadline für Saras Familie. Die Mutter gibt sich kämpferisch. «Ich kann nicht hier sitzen und zusehen, wie mein Kind zerfällt», sagt sie.

Sara röchelt, gibt gurgelnde Geräusche von sich. Siham Theimer springt auf und dreht ihre Tochter liebevoll auf die Seite. Saras Haar ist zu Zöpfen zusammengebunden, sie trägt einen rosa Haarreif. Für den Besuch hat sie ein Glitzertutu an, dazu passende Glitzerschuhe. Über dem Sofa hängt ein Bild aus glücklicheren Zeiten. Sara als Säugling in Weiss, umrahmt von Eltern und Geschwistern. Alle strahlen.

Crowdfunding für Sara

Informationen zum Crowdfunding, bei dem Geld für die Entwicklung eines Medikaments für GM1-Gangliosidose-Patienten gesammelt wird: www.gofundme.com/cure4sara

Wissen, was dem Körper guttut.
«Wissen, was dem Körper guttut.»
Chantal Hebeisen, Redaktorin
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