Es geschah in einer Nacht im Oktober. Tobias Keller* wachte auf. Nicht im Bett, sondern auf der Strasse vor dem Haus seiner Eltern in Weggis. Der 21-Jährige hatte wieder schlafgewandelt. «Ich habe gefroren. Das hat mich wohl aufgeweckt», erinnert er sich. Keller schlafwandelt seit seiner Kindheit. Das ist keine Seltenheit: Forschende gehen davon aus, dass bis zu 30 Prozent aller Kinder im Alter von vier bis zwölf Jahren ab und an nachts umherirren. Drei bis vier Prozent schlafwandeln sogar regelmässig.

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Schlafwandeln ist eine Form der Parasomnie, so der medizinische Begriff für auffällige Verhaltensweisen im oder in Verbindung mit Schlaf. Wenn sie im Tiefschlaf auftritt, kann sie unter anderem verwirrtes Erwachen oder einen sogenannten Nachtschreck auslösen. «Vor allem Kinder sind davon betroffen Schlafstörungen bei Kindern «Guter Schlaf hängt davon ab, was wir erwarten» . Sie fangen dann mitten in der Nacht an, panisch zu schreien und zu weinen», erklärt Neurologe Philipp Valko, Leiter des Zentrums für Schlaf- und Stressmedizin Seefeld in Zürich. Obschon die Augen der Kinder in dieser Situation meist weit aufgerissen sind, reagieren sie nicht auf Ansprache. «Es kann vor allem für die Eltern ein traumatisches Erlebnis sein, ihre Kinder so zu sehen.» Doch er gibt Entwarnung: «Die Kleinen haben in der Regel bis am Morgen alles wieder vergessen.»

Betroffene können sich nicht erinnern

Ähnlich wie beim verwirrten Erwachen oder beim Nachtschreck befindet sich das Gehirn während des Schlafwandelns im Halbschlaf. Im Rahmen verschiedener Studien hat man die Hirnaktivitäten gemessen. Man kam zum Schluss, dass diejenigen Bereiche im Gehirn, die für die Bewegung zuständig sind, gleich aktiv sind wie üblicherweise im Wachzustand. Diejenigen Teile des Gehirns, die Erinnerungen speichern oder für die Interaktion mit der Umwelt zuständig sind, verhalten sich derweil wie bei jeder anderen schlafenden Person. «Daher können sich Schlafwandler zwar bewegen, reagieren aber nur eingeschränkt auf äussere Reize und können sich meistens auch an nichts erinnern», sagt Neurologe Valko.

«Was, wenn ich mal eine doofe SMS-Nachricht an die falsche Person verschicke?»

Tobias Keller* (21), betroffener Schlafwandler

Warum es überhaupt zum Schlafwandeln kommt, darauf hat die Wissenschaft keine eindeutige Antwort. Klar ist, dass der Übergang vom Wach- zum Schlafzustand ein komplexer Prozess ist, der verschiedene Hirnregionen aktiviert oder deaktiviert. «Jahrhundertelang glaubte man, der Schlaf sei der kleine Bruder vom Tod. Das ist völlig falsch. Das Gehirn ist während des Schlafs teils gleich aktiv Wissen 10 Fragen zum Schlaf wie im Wachzustand, aber eben anders», so Valko. Eigentlich ist es überraschend, dass der Übergang vom Schlaf zur Wachheit meist so reibungslos verläuft; Parasomnien wie Schlafwandeln zeigen, dass das keineswegs selbstverständlich ist. Immerhin: Oft nimmt das Schlafwandeln mit dem Alter ab und kommt im Erwachsenenalter nur noch bei rund 1,5 Prozent der Bevölkerung vor.

Ganz anders bei Tobias Keller. Sein Schlafwandeln nimmt seit der Pubertät zu. «Ich verlasse offenbar fast jede Nacht mein Bett. Häufig mache ich mich dann mit Kissen und Decke auf den Weg durchs Haus, und manchmal ziehe ich mir im Schlaf sogar die Kleider an», erzählt er. Wirklich Sorgen macht er sich deswegen nicht. Nur dass er seiner Mutter mal im Schlaf eine SMS geschrieben hat, beunruhigt ihn ein wenig: «Ich kann offenbar im Schlaf mein Handy entsperren und Mitteilungen verschicken. Was, wenn ich mal was Doofes an die falsche Person schicke?»

Während des Schlafwandelns zum Mörder werden

Eine merkwürdige SMS im Schlaf ist die kleinste aller Sorgen, die seine Mutter Katja Keller* hat. Sie und ihr Mann sind jede Nacht in Alarmbereitschaft, wachen bei jedem Geräusch sofort auf und führen ihren Sohn seit Jahren bis zu dreimal pro Nacht zurück in sein Bett. «Es ist wirklich nicht einfach für uns. Wir haben riesige Angst, dass er sich im Schlaf was tut», erzählt Katja Keller. Sie fürchtet sich schon heute vor dem Tag, an dem ihr Sohn aus dem Elternhaus auszieht: «Was passiert, wenn seine WG-Mitbewohner nicht so schnell reagieren wie wir oder überhaupt nicht? Ich will es mir gar nicht ausmalen.»

Selbstverletzung muss nicht einmal die grösste Gefahr für Schlafwandler sein. Immer wieder wird von Fällen berichtet, in denen sie nicht nur auf die Strasse laufen, sondern sogar Auto fahren. «Im schlimmsten Fall kann Schlafwandeln zum Tod führen», sagt Neurologe Valko. Und zwar nicht nur zum eigenen, sondern auch zu dem von Dritten. So machte der Kanadier Kenneth Parks Ende der Achtzigerjahre Schlagzeilen, weil er im Schlaf die geliebte Schwiegermutter ermordet hatte. Obschon er eindeutig der Täter war, argumentierte ein medizinisches Gutachten, dass Parks zur Tatzeit wahrscheinlich schlafgewandelt hatte und somit unzurechnungsfähig war. Das Gericht sprach ihn frei.

Schlafwandelrisiko verkleinern

Schlafwandeln ist nicht heilbar. Die meisten Empfehlungen drehen sich deshalb um die Frage, wie Schlafwandler das Verletzungsrisiko minimieren. Dazu zählt etwa, Fenster und Türen abzuschliessen oder mit Möbeln zu verbarrikadieren, Treppen zu blockieren und sämtliche Gefahrenquellen ums Bett und im Schlafzimmer zu eliminieren.

Auch Warnsignale wie Glöckchen an der Tür oder am Fenster, um das Umfeld zu alarmieren, können eine Lösung sein. Doch auch das kann im Alltag problematisch sein. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich die künftigen Mitbewohner von Tobias freuen, wenn sie jede Nacht durch klingelnde Glöckchen aus dem Schlaf gerissen werden. Es ist wirklich eine schwierige Situation», so Katja Keller.

«Medikamente wie Benzodiazepine und Antidepressiva können die Schlafstruktur verändern und so das Schlafwandeln eindämmen.»

Philipp Valko, Neurologe, Leiter Zentrums für Schlaf- und Stress­medizin Seefeld (ZH)

Besser ist es deshalb, verschiedene Trigger zu reduzieren – Stress und Schlafmangel etwa. «Aufgrund von Schlafmangel schläft man anschliessend tiefer. Das wiederum erhöht das Schlafwandelrisiko. Ähnlich verhält es sich beim Konsum von Alkohol, der die Schlaftiefe in der ersten Nachthälfte intensiviert», sagt Neurologe Valko.

Kognitive Verhaltenstherapien wie Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen können ebenfalls hilfreich sein. Bei ausgeprägten Fällen verschreibt der Neurologe auch einmal Medikamente: «Es gibt zwar bislang keine kontrollierte Studie dazu, aber wir wissen, dass gewisse Medikamente wie Benzodiazepine und Antidepressiva die Schlafstruktur verändern und so das Schlafwandeln eindämmen.»

Schlafwandler Tobias hofft, dass er auch künftig keine Medikamente nehmen muss, zumal er meistens ausgeruht und ohne Erinnerungen an seine nächtlichen Ausflüge in den Tag startet. Seine Mutter lacht und sagt: «Ja, Tobias ist tatsächlich meistens ausgeschlafen. Nur mein Mann und ich sind total fertig von der Nacht.»


*Name geändert

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