Esmya kann gutartige Geschwülste in der Gebärmutter heilen. Frauenärzte erkoren das Medikament zum «innovativsten Produkt» des Jahres 2015. Entsprechend oft setzten sie es ein – in den letzten fünf Jahren bei rund 8000 Frauen in der Schweiz. Doch Esmya kann schwere Leberschäden verursachen. So schwere, dass einzelne Frauen eine neue Leber brauchten.

Vor dieser Nebenwirkung warnte die Europäische Arzneimittelagentur EMA jedoch erst im Februar 2018. Sie riet, keine neuen Behandlungen mit Esmya anzufangen. Frauen, die bereits in Behandlung waren, sollten sich jeden Monat einem Lebertest unterziehen. Die Schweizer Zulassungsbehörde Swissmedic liess weitere drei Wochen verstreichen, bis sie mit einer Warnung nachzog.

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Junge Testpersonen

Esmya ist nur ein Beispiel dafür, wie lange es dauern kann, bis Behörden und Pharmafirmen vor schweren Nebenwirkungen von Arzneimitteln warnen. Die Gründe dafür liegen einerseits im Zulassungsverfahren: Die meisten Medikamente werden nur an wenigen Hundert oder Tausend Menschen getestet – in der Regel an gesunden, jüngeren Männern oder, wie im Fall von Esmya, Frauen. Schwere Schäden werden in vielen Fällen erst erkannt, wenn das Medikament bereits eingeführt ist und viele damit behandelt werden. Leute, die älter sind, ein anderes Geschlecht haben, einen zu hohen Blutdruck, Diabetes oder eine andere Krankheit. Sie reagieren empfindlicher.

Auch Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten sind bei der Zulassung nicht bekannt. Manchmal fehlen in den Unterlagen, die Pharmafirmen für die Zulassung vorlegen müssen, wichtige Angaben. Bei Esmya etwa waren die Leberwerte der Testpersonen nicht aufgeführt. 

Fehlende Kontrollen

Auch sonst harzt es. Damit Nebenwirkungen rasch entdeckt werden, sollten Ärzte sie umgehend der Aufsichtsstelle melden. Sie sind dazu gesetzlich verpflichtet.

Das Problem: Es gibt nur wenige Meldungen. Niemand kontrolliert, ob die Meldepflicht eingehalten wird. Ärzte riskieren auch keinerlei Sanktionen, wenn sie Verdachtsfälle nicht melden. Sie haben auch nichts davon, wenn sie sich die Mühe nehmen, das Formular auszufüllen. Dass das problematisch ist, wissen auch die Aufsichtsbehörden. Gemäss ihren Schätzungen melden Ärzte bloss etwa zehn Prozent der vermuteten schweren Nebenwirkungen. 

Warum? Pharmakologe Stefan Weiler vom Universitätsspital Zürich erklärt: Wenn ein verschriebenes Medikament vielleicht mehr geschadet als genützt hat, betrachteten das viele Ärzte – zu Unrecht – als persönlichen Fehler. Da sie keine spezielle pharmakologische Ausbildung haben, seien viele zurückhaltend dabei, eine blosse Vermutung Swissmedic zu melden. Zudem scheuen die meisten den Zeitaufwand, zumal sie dafür nicht entschädigt werden.

Verzögerungstaktik

Pharmafirmen, die die Meldepflichten grosszügig auslegen, haben nicht viel zu befürchten. Wenn ein Medikament einmal zugelassen ist, muss der Hersteller nur einmal jährlich einen Bericht über die international gemeldeten Nebenwirkungen an Swissmedic liefern. Der Bericht, der auch Erkenntnisse neuer Studien enthalten soll, muss erst 70 Tage nach der abgeschlossenen Jahresperiode bei Swissmedic eintreffen.

Neue «Sicherheitssignale» müssen sie nur dann «ad hoc und unverzüglich» melden, wenn sie zu einer eingeschränkten Anwendung des Medikaments führen oder auf der Packungsbeilage zusätzliche Hinweise nötig machen könnten. Falls Pharmafirmen gegen diese Regel verstossen, riskieren sie Bussen, die Höchststrafe liegt gemäss Heilmittelgesetz bei 5000 Franken. Höhere Bussen hat das Parlament abgelehnt.

Pharmafirmen haben kaum Interesse, im Ausland eingehende Meldungen schwerer Nebenwirkungen oder Resultate neuer Studien speditiv mitzuteilen. Denn das kann zu Umsatz- und Gewinneinbussen führen. Weil Nachrichten über schwere Nebenwirkungen den Aktienkurs beeinflussen, sind Pharmafirmen sogar gezwungen, zuerst die Investoren zu informieren und erst dann die Heilmittelaufsicht.

Alarmierende Studie

Swissmedic sieht darin kein Problem. Die Aufsicht stellt den Pharmafirmen sogar einen Persilschein aus: Sie meldeten Erkenntnisse von neuen schweren Nebenwirkungen jeweils rechtzeitig. Bei regelmässigen Inspektionen kontrolliere man, wie gut Hersteller Nebenwirkungen erfassen und verarbeiten. Zudem habe die Pharma ein vitales Interesse daran, mögliche Gefahren sofort zu melden – wegen der grossen Haftungsrisiken in den USA.

Eine Studie, die vor drei Jahren in der amerikanischen Ärztefachzeitschrift «Jama» veröffentlicht wurde, kam zu einem anderen Ergebnis. Pharmafirmen meldeten in vielen Fällen ernsthafte Nebenwirkungen verzögert. Besonders bedenklich: Wenn es zu Todesfällen kam, seien diese «auffallend häufig» viel zu spät angezeigt worden. Firmen hätten sich dabei so viel Zeit genommen, dass sie sogar gegen die gesetzlichen Vorgaben verstiessen, so der Bericht.

Das Risiko tragen vor allem die Patienten. Sie haben alles Interesse daran, dass gravierende Nebenwirkungen sofort und nicht erst nach Monaten bekanntgegeben werden. Oder sogar erst Jahre später wie bei Esmya.

Der Fall Vioxx

Das eklatanteste Beispiel dafür, wie fatal sich diese Praxis auswirken kann, ist Vioxx. Bei der Zulassung im Jahr 1999 wurde das Rheuma- und Schmerzmittel als Super-Aspirin gefeiert. 2004 musste es überstürzt vom Markt genommen werden, nachdem es weltweit zu zahlreichen Todesfällen gekommen war: Rund 7000 in Deutschland und rund 600 in der Schweiz.

Manchmal hat ein Medikament gar ausschliesslich unerwünschte Wirkungen. Wie das seit 2001 kassenpflichtige Antidepressivum Edronax. Eine Metastudie kam schon vor acht Jahren zum Schluss, Edronax sei «insgesamt ein unwirksames und potenziell schädliches Antidepressivum». Bekannte Nebenwirkungen sind «Selbstverletzungen», «Suizid und suizidale Gedanken» sowie eine «klinische Verschlechterung» des Gesundheitszustands, wie auch Swissmedic bestätigt.

Trotzdem ist Edronax in der Schweiz nach wie vor zugelassen – anders als in den USA. Warum Swissmedic nicht gehandelt hat, ist unbekannt. Solche Evaluationsberichte fielen unter das «Amtsgeheimnis» und das «Geschäftsgeheimnis», sagt die Aufsichtsbehörde. Sie verneint, dass es ein vorrangiges öffentliches Interesse gibt.

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Chantal Hebeisen, Redaktorin
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