Zuzugeben, dass man heimlich nach anderen schielt, ist äusserst schwierig. Und es tut weh, sich einzugestehen, dass man blass, gelb oder grün vor Neid ist, weil andere über Eigenschaften oder Dinge verfügen, die wir selber gerne hätten. Tatsächlich zählt Neid zu den schamvollsten Gefühlen. Deshalb wollen wir ihn verstecken. Niemand ist gern argwöhnisch und will diesen Stachel in sich wahrhaben. Noch weniger wollen wir von anderen als Neider entlarvt werden.

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Das Leugnen und die Scham, die mit dem Neid verbunden sind, bergen eine grosse Zerstörungskraft. Denn so unterschätzen wir die konstruktiven Kräfte des Neids oder nehmen sie nur verzerrt wahr. Nicht das Gefühl, neidisch zu sein, ist destruktiv, sondern erst unser Handeln und Verhalten, das von verstecktem Neid und Missgunst beherrscht wird.

Bleibt der Neid in uns verschlossen, beginnt er, zu wuchern und zu lodern wie ein verzehrendes Feuer. Er lässt uns Dinge denken und tun, vor denen wir erschrecken. Neidgefühle können in offene Feindseligkeit umschlagen. Man denke nur an Mobbingszenen am Arbeitsplatz oder im Sportverein.

Es lohnt sich, die Gefühle zu betrachten

Deshalb ist es wichtig, Neidgefühle nicht einfach zu verdrängen. Bleiben sie unreflektiert, können wir nicht erkennen, dass wir unzufrieden sind mit dem, was wir sind und haben. Wir verpassen es, den Schritt zu machen, zu dem uns der Neid eigentlich zwingt: entweder mehr aus unserem Leben oder uns zu machen oder die Vorstellung von uns selbst und dem zu ändern, was wir begehren.

Der Neid gibt Auskunft über unsere Wünsche, über Lebensumstände, die wir als ungerecht erleben, wie auch über unsere fehlerhafte Selbsteinschätzung. Nehmen wir ihn ernst, zwingt er uns zu einer Korrektur unseres Selbstbilds. Er kann uns auch helfen, Missstände und Ungerechtigkeiten zu erkennen und uns dagegen zu wehren. Der Neid gibt uns also die Chance, unsere Wünsche zu realisieren und unser Leben zu korrigieren.

Natürlich ist es nicht immer einfach, eine Verbesserung in Angriff zu nehmen – etwa uns mit unserem Aussehen auszusöhnen. Aber meist gilt unser Neid sowieso Menschen und Umständen in unserer Nähe: der Freundin, die gerade befördert wurde, oder dem Nachbarn, der drei Monate unbezahlten Urlaub nimmt, um Papua-Neuguinea zu erkunden. Und glücklicherweise streben die wenigsten ernsthaft Status und Nimbus von ohnehin unerreichbaren Zeitgenossen wie Filmstars oder Blaublütern an.

Gegen den Stillstand

Für Immanuel Kant gehörte Neid fest zur menschlichen Natur. Und Sigmund Freud meinte, unser frühester Neid, der Geschwisterneid, trage wesentlich dazu bei, uns zu sozialisieren. Das befähige uns letztlich, in einer Gemeinschaft zu leben. Die Weltreligionen dagegen unternehmen durchwegs grosse Anstrengungen, den Neid im Keim zu ersticken.

Ein Problem. Denn Gesellschaften, in denen Neid tabu ist, haben Schwierigkeiten, sich weiterzuentwickeln, stellen Soziologen fest. Wenn Bessersein und Extravaganz gesellschaftlich geächtet würden und jeder sich hüte, etwas anderes zu sein oder mehr zu haben als die anderen, führe dies letztlich zum Stillstand. Das Entwicklungspotential und die Kreativität, die durch den konstruktiven Umgang mit Neid ausgelöst werden und die viel zur Spannung und Farbigkeit unseres Lebens beitragen, liegen dann brach.

Umgekehrt lassen forcierter Neid und hemmungslose Gier auf eine Gesellschaft schliessen, in der Status eng mit Erfolg und Besitz verknüpft ist, den beiden Götzen unseres Wirtschaftssystems.

Zur Person

Andrea Karger ist Fachpsychologin für Psychotherapie und klinische Psychologie FSP.