Die Mutter war 41, der Vater 59, als Martin Schmid* zur Welt kam. Er war das, was man im Volksmund als «Unfall» bezeichnet. Als kleiner Junge wünschte er sich jüngere Eltern. «Mir fehlten Gleichaltrige, weil die Kinder im Freundeskreis meiner Eltern alle viel älter waren als ich.» In der Schule kam dann die Scham dazu. «Besuchstage waren für mich purer Stress», sagt der heute 31-Jährige. «Alle hielten meinen Vater für meinen Grossvater.» In der fünften Klasse legte er sich eine Story zurecht: «Ich erzählte allen, mein Vater sei früher Minenarbeiter gewesen und sehe deshalb so verlebt aus.»

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Vor einem Jahr starb Schmids Vater 88-jährig. «Wenn ich an ihn denke, denke ich eher an einen Intellektuellen, der mich inspirieren konnte, und nicht an einen normalen Vater. Es gab vieles, was er nie mit mir machte, Fussball spielen zum Beispiel.»

Der Zürcher Eric Breitinger, ein Adoptivkind von Eltern im fortgeschrittenen Alter, hat mit «Späte Kinder» das erste Schweizer Buch zum Thema geschrieben – und zwar aus der Perspektive der Kinder. «Familienstrukturen sind extrem prägend fürs spätere Leben», sagt er. Die Frage ist bloss: Sind alte Eltern gut oder nicht? Antworten hat man rasch zur Hand: Als die italienische Sängerin Gianna Nannini sich im Alter von 54 mit dickem Babybauch für ein CD-Cover ablichten liess, sagten viele: «Die ist grandios egoistisch.»

Ältere Eltern sind oft cooler

Der Zürcher Psychologe Moritz Daum sagt dazu: «Familiensysteme sind dynamisch und haben eine ganze Reihe von Einflussfaktoren. Das Alter der Eltern ist dabei nur einer von vielen. Alte Eltern zu haben kann positive wie negative Auswirkungen haben.» Negativ sei die abnehmende Agilität, unter der auch Martin Schmid litt: Die Eltern können oder wollen nicht mehr mit dem Kind herumtollen. Der Sohn kann auch die üblichen Prahlspiele nicht mitmachen: «Mein Vater rennt schneller als deiner!» zieht kaum, wenn der Papa des Schulkollegen 42 ist, der eigene aber 62.

Späte Kinder sind oft Nachzügler oder bleiben Einzelkinder, weil sie als «Unfall» entstanden sind – zu einem Zeitpunkt, als die Eltern davon ausgingen, die Familienplanung sei beendet. Eine Einschränkung könnte das Fehlen von Grosseltern sein. «Wenn die Eltern älter sind, ist die Wahrscheinlichkeit grösser, dass die Grosseltern schon verstorben sind oder ihrerseits die Hilfe ihrer Kinder beanspruchen. Dann müssen die Jüngsten die Aufmerksamkeit der Eltern mit den Grosseltern teilen», sagt Daum.

Es kann aber auch sein, dass späte Eltern deutlich mehr Zeit für ihre Kinder haben. Weil sie im Beruf gefestigt sind und gut verdienen, reicht oft ein Lohn zum Leben. Das war bei Johann Fischer*, Jahrgang 1965, so: Sein Papa, Jahrgang 1916, war pensioniert, als er sein Studium aufnahm. «Ich erinnere mich an einen sehr entspannten Vater, mit dem ich stundenlang diskutieren konnte, der mich ernst nahm und meine Meinung gelten liess.»

«Es gibt keine Limite, ab der man zu alt ist für Kinder. Das ist Quatsch.»

Eric Breitinger, Buchautor

Der Vater habe oft sehr viel cooler reagiert als die deutlich jüngere Mutter: «Als ich nach ein paar Tagen vorzeitig aus der Rekrutenschule heimkam, zählte meine Mutter ängstlich alle Nachteile auf, die mir das bringen könnte. Mein Vater wertete nicht – er erzählte mir eine Geschichte aus seiner eigenen, furchtbaren Militärzeit.»

Ältere Eltern sind entspannter, bestätigt Peter Müller, Leiter des Schulpsychologischen Dienstes des Kantons Zug. «Kinder brauchen Geborgenheit, Sicherheit, Verständnis für ihre Bedürfnisse, Geduld und Ausdauer. Ältere Eltern können ihnen genau das sehr gut bieten.» Sie seien abgeklärter, lebenserfahrener. Fatal für Kinder sei es erst, wenn ein Kind die Karriere der Eltern krönen müsse. «Das ist eine Hypothek für die Entwicklung des Kindes, weil es tendenziell unbedingt schön, gut, intelligent sein muss. Dabei sollte es einfach Kind sein dürfen – und Kinder sind halt häufig mühsam, schwierig und oft anders, als die Eltern es gern hätten.»

Eine glückliche Jugend? Jein

In seinem Buch «Späte Kinder» lässt Eric Breitinger die Sprösslinge alter Eltern erzählen. Und er selber? Wuchs er glücklich auf? «Jein. Ich war glücklich, weil ich viel Aufmerksamkeit bekam. Aber ich habe das Gefühl, bei Grosseltern aufgewachsen zu sein. Ich bin bis heute fast krankhaft sparsam. Das ist kein Zufall. Mein Vater, Jahrgang 1916, war von der Wirtschaftskrise und vom Zweiten Weltkrieg geprägt. Meine Eltern lebten mir einen haushälterischen Umgang mit Geld vor, der weder zur Zeit noch zu ihren Verhältnissen passte. Vermutlich gebe ich diese teils unangemessene Sparsamkeit an meine Kinder weiter.»

Breitinger warnt aber davor, zu werten oder zu verallgemeinern: «Es gibt keine Limite, ab der man zu alt ist für Kinder. Das ist Quatsch.»

Allerdings weisen Statistiker darauf hin, dass Kinder älterer Eltern öfter an einem Geburtsfehler leiden. Doch das sei nur die eine Seite, sagt Psychologe Daum: «Die aufgeschobene Familienplanung ist oft die Folge einer langen Ausbildung der Eltern. Und das heisst wiederum bessere Bildung und mehr Ressourcen.» Kinder später Eltern seien statistisch gesehen gesünder. Daum sagt: «Man weiss, wie man gesund lebt – das ist für das Kind gut, und man kann es sich auch leisten.» Doch das hilft Kindern nicht über den Altersunterschied hinweg. «Er birgt nicht nur Konfliktpotenzial zwischen Eltern und Kind, sondern auch zwischen Mann und Frau», sagt Moritz Daum. Ein 55-jähriger Vater wünscht sich vielleicht erholsame Wanderferien, die 35-jährige Mutter würde lieber segeln gehen. Der 13-jährige Sohn schlägt sich auf die Seite der Mutter.

«Die Konstellation ‹älterer Vater und jüngere, aber auch nicht mehr junge Mutter› kommt häufig vor», sagt Autor Eric Breitinger. «Frauen, die die Familienplanung zugunsten von Ausbildung und Job aufgeschoben haben, suchen um die 35 einen Mann, um eine Familie zu gründen. Die Gleichaltrigen sind oft vergeben, die älteren aber wieder auf dem Markt.»

Der Vater ist 55, die Lehrerin 25

«Es kommt vor, dass ein Elternteil deutlich älter, meist sogar doppelt so alt ist wie die Lehrpersonen», sagt Psychologe Peter Müller. Da sei es oft gar nicht einfach, wenn die 25-jährige Primarlehrerin frisch ab Ausbildung mit dem 55-jährigen Papa in gehobener Position über dessen Kind diskutieren solle. «Die Eltern stehen an einem ganz anderen Ort im Leben.»

Das weiss auch Martin Schmid, dessen Vater 59 Jahre älter war als er. «Wir bekamen die Hausaufgabe, Gott zu zeichnen. Beim Abendessen diskutierten wir das. Mein Vater sagte: ‹Woher willst du wissen, dass Gott aussieht wie ein Mensch?›» Der Primarschüler lag die ganze Nacht wach und gab am Morgen ein Blatt Papier mit einem roten Kreis darauf ab. «Rot schien mir mächtig, der Kreis stand für ein unbekanntes Geschöpf.» Alle anderen Kinder hatten bärtige, wohlwollende Männergesichter gezeichnet.

Martins Vater wurde zu einer Unterredung gebeten, weil der Sohn angeblich die Hausaufgaben nicht korrekt gemacht hatte. Doch statt Rüge erntete der Vater Respekt: «Nach dem Gespräch hatte mein Vater einen viel höheren Stellenwert bei der Lehrerin. Das hat mich sehr beeindruckt.»

* Name geändert

Buchtipp:

  • Eric Breitinger: «Späte Kinder. Vom Aufwachsen mit älteren Eltern»; Verlag Christoph Links, 2015, 232 Seiten, CHF 27.90