Der ultimative Kulturschock sollte sich nicht einstellen. Zu ähnlich sind die Gepflogenheiten in der Ukraine und der Schweiz. Dennoch, es gibt kulturelle Eigenheiten, die mehr oder weniger ausgeprägt sind, je nach Bildung, sozialer Schicht, ländlicher oder städtischer Umgebung oder schlicht auch Herkunft innerhalb der Ukraine – die Ostukrainerin trennen vom Westukrainer schnell mal 1500 Kilometer. Das entspricht etwa der Distanz zwischen dem westfranzösischen Nantes und Wien.

So manche Gastfamilie wird sich aus Interesse an den Gästen im Internet kundig machen. Tatsächlich finden sich dort allerlei Stereotype. Viele stimmen nicht, sind veraltet oder beziehen sich auf andere slawische Nationalitäten. 

Klar ist: Die Ukrainerin, den Ukrainer gibt es genauso wenig wie den Schweizer, die Schweizerin. Dieser Text erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Beraten wurden wir von Pawlo Dlaboha, Musiker, Kulturvermittler und seit vielen Jahren Vorstandsmitglied des Ukrainischen Vereins in der Schweiz. Und von der ukrainischen Journalistin Kateryna Potapenko, die für den Beobachter ein Tagebuch über ihren Alltag als Geflüchtete schreibt.

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Begrüssung

Gibt es drei Küsschen zur Begrüssung?
Nein. Selbst unter besten Freundinnen ist höchstens eines üblich. Und auch das nicht immer.


Männer geben Frauen nicht die Hand.
Stimmt, die Frau reicht dem Mann die Hand zur Begrüssung, nicht umgekehrt. In dieser Konsequenz ist das alte Schule. Aber es wundert sich niemand, wenn aufs Händeschütteln sogar ganz verzichtet wird.


Die schauen einem nicht in die Augen.
Stimmt tendenziell. Das ist aber weder despektierlich gemeint, noch bedeutet es, dass die betreffende Person etwas zu verbergen hat. Dem Gegenüber offensiv in die Augen zu blicken, ist in der Ukraine nur in homöopathischen Dosen genehm. Auch im Gespräch und erst recht auf der Strasse. Man bleibt stets bei sich, und das eben auch mit den Augen.


Die sind so distanziert.
Stimmt, man hält mindestens einen Meter Abstand.

Umgang mit Behörden

Die weigern sich, ihre Personalpapiere aus der Hand zu geben.
Das ist tatsächlich eine der obersten Regeln für ukrainische Staatsbürger. Selbst wenn ein Strassenpolizist den Führerschein sehen will, wird dieser nicht überreicht, sondern lediglich hingehalten. Das hat viel mit dem tief sitzenden Misstrauen gegenüber dem Staat zu tun.


Korruption ist alltäglich.
Man liest zwar immer wieder, dass Korruption und Vetternwirtschaft in der Ukraine gang und gäbe sind. Dass Normalbürger Amtspersonen bestechen, um irgendwelche Vorteile zu erhalten, ist aber eine Mär. Vetternwirtschaft erfolgt eher über sozialen Druck: Wer jemanden kennt, der jemanden kennt, der im Amt XY arbeitet, ist im Vorteil.

Alltag

Ukrainerinnen und Ukrainer schreiben gern Listen, selbst wenn sie nur Brot einkaufen müssen.
Das stimmt.


Sie bewegen sich zwischen Schicksalsergebenheit und Planungsfreude.
Die Ukraine blickt auf eine bewegte Geschichte zurück, mit stetig ändernden Regeln und Gesetzen, einer unsicheren Wirtschaft und instabilen Regierungen. Das hat die Menschen gelehrt, sich stets an neue Gegebenheiten anzupassen und schnell auf sich bietende Gelegenheiten oder Herausforderungen zu reagieren. Zugleich planen sie voraus, wo immer es geht. Und verlassen sich am liebsten auf sich selber.


Ukrainerinnen und Ukrainer sind fleissig.
Auch das stimmt. Wenn Flüchtlinge sagen, ihr oberstes Ziel sei, möglichst bald Arbeit zu finden, darf man das glauben. Und wenn sie etwa Hilfe im Haushalt anbieten, sollte man sie dankbar entgegennehmen. Es ist ernst gemeint.


Frauen und Kinder sind zu Hause, wenn es dunkel wird.
Das stimmt. Sich allein in der Nacht draussen aufzuhalten, gilt als gefährlich. Tatsächlich hat bei einer OSCE-Studie rund ein Viertel der befragten Frauen zwischen 18 und 74 angegeben, sie hätten sexuelle Gewalt oder Belästigung durch Fremde erfahren.


Ukrainerinnen und Ukrainer fühlen sich immer schuldig.
Das ist laut unseren Fachleuten eine «Volkskrankheit». Beispiel: Wenn jemand das Fenster öffnet, um frische Luft hereinzulassen, wird der Gast aus der Ukraine automatisch annehmen, er rieche schlecht. 


Sie tun sich schwer, ohne Gegenleistung Hilfe anzunehmen.
Stimmt. Auch deshalb darf man Angebote, etwa im Haushalt mitzumachen, ruhig annehmen.


Es gelten klassische Höflichkeitsregeln wie Tür aufhalten, in den Mantel helfen.
Korrekt.

Zu Hause

Niemand läuft halbnackt herum.
Ukrainische Familien tun das tatsächlich nie. Sie wären ultimativ schockiert, wenn sie das in der Schweiz zu Gesicht bekämen.


Zu Hause trägt man nie Schuhe. 
Das liegt vor allem daran, dass in ukrainischen Haushalten Spannteppiche sehr verbreitet sind. Für Gäste hält man separate Hausschuhe parat. 


Man trinkt nie direkt vom Wasserhahn.
Was als Aberglaube verkauft wird, ist Quatsch. Gilt höchstens in Regionen mit schlechter Wasserversorgung. 


Schmutziges Geschirr darf man nicht über Nacht stehen lassen.
Hat seinen Ursprung in der für Männer alter Schule praktischen Mär, dass Dämonen die Unordnung sehen und der Frau zur Strafe einen schlechten Ehemann andienen. Der Grundsatz wird aber heute noch selbst von Feministinnen befolgt.

Aberglaube

Ukrainer sind abergläubisch. 
Stimmt teilweise. Religiöse und ältere Menschen neigen aber eher zu Aberglauben als die Matheprofessorin aus städtischem Umfeld. Wie überall auf der Welt. Dennoch halten sich einige Mythen hartnäckig, etwa die auch uns bekannten wie die kreuzende schwarze Katze.

Daneben kennt man in der Ukraine die Vorstellung, dass folgende Dinge Pech bringen: 

  • Auf der Türschwelle Hände zu schütteln oder etwas zu übergeben. Kommuniziert wird entweder im Haus oder vor dem Haus. Hat seinen Ursprung in dem uralten Brauch, die Toten unter dem Türsturz zu begraben.
     
  • Leere Flaschen auf dem Tisch stehen zu lassen, soll Pech in Gelddingen bringen. Auch im Haus zu pfeifen, soll schlechte Auswirkungen aufs Portemonnaie haben. Selbst unsere Fachleute bestätigen, dass in Häusern zu pfeifen ein absolutes No-Go ist.
     
  • Hinter jemandem herzugehen, der leere Eimer trägt. Das soll den Erfolg des eigenen Vorhabens gefährden, zu dem man auf dem Weg ist.
     
  • Man verschenkt weder Messer noch andere scharfe und spitze Gegenstände. Auch keine Taschentücher und Uhren. Falls doch, wird das Geschenk mit fünf Kopeken «gekauft» – sicherheitshalber.
Gastfreundschaft

Ukrainerinnen und Ukrainer sind gastfreundlich. 
Stimmt, auch wenn ihnen der berechtigte Ruf vorauseilt, sie seien ein eher distanzierter Menschenschlag.


Kleiner Knigge für Besuche:

  • Der Gast eines ukrainischen Hauses bringt einen Kuchen oder eine Torte, einen Blumenstrauss für die Gastgeberin und ein Souvenir für die Kinder mit – am besten gleich alles zusammen.
     
  • Die Anzahl der Blumen im Strauss sollte streng ungerade sein. Eine gerade Zahl ist nur für den Friedhof geeignet.
     
  • Erwidern Sie Einladungen mit einer Gegeneinladung. Das bedeutet auch, dass man einer Einladung von Ukrainerinnen und Ukrainern Folge leisten sollte. Es hilft ihnen, Würde zu bewahren. Oder wie es im Appenzellischen heisst: «Gegerächt isch Gott lieb.» 
     

Die Tischmanieren sind weitgehend wie bei uns. Unterschiede liegen meist an mangelnder Kinderstube.

  • Die Hände sollten stets sichtbar auf dem Tisch ruhen.
     
  • Fangen Sie nicht vor der Gastgeberin oder dem Gastgeber an zu essen.
     
  • Alle gereichten Speisen sollte man zumindest probieren. Etwas abzulehnen, gilt tendenziell als Beleidigung.
     
  • Man wird oft aufgefordert, sich erneut zu bedienen. Was man aus Höflichkeit auch tun sollte. Der Trick: nur kleine Portionen schöpfen.
     
  • Jede geöffnete Flasche muss leer getrunken werden. Allerdings: Websites, die behaupten, dass Ukrainerinnen und Ukrainer dem Alkohol insbesondere in Gesellschaft massiv zugeneigt sind, bilden eher russische Gepflogenheiten ab. Das sagen zumindest unsere ukrainischen Gewährsleute. Generell sei der Alkoholkonsum – zumindest in den Städten – deutlich zurückgegangen. 
Frauen

Wer im Internet nachschaut, wie ukrainische Frauen ticken, gerät unweigerlich auf Sites von Partnervermittlungen. Vieles, was dort steht, ist marketingtechnisch gefärbt.


Quatsch ist:

  • Sie seien sehr trinkfest und feierten gern mit ihrem Partner.
     
  • Sie seien «nicht anspruchsvoll».
     
  • Sie seien sexuell freizügig.


Einzelne Stereotype stimmen aber in vielen Fällen:

  • Sie legen mehr Wert auf ihr Äusseres als Schweizerinnen.
     
  • Sie sind eher darauf getrimmt, sich eine gute Partie zu angeln.
     
  • Sie sind fürsorglich und gute Hausfrauen.
Kinder

Kinder werden in der Ukraine autoritärer erzogen.
Stimmt. Wenn ein Schweizer Kind sich im öffentlichen Verkehr auf den Sitz stellt und die Mutter nicht reagiert, denken ukrainische Fahrgäste ungläubig: «Was, wieso tut sie nichts?» Teils siezen Kinder ihre Eltern noch.


Mütter neigen zum «Helikoptern», lassen das Kind nicht aus den Augen.
Stimmt. Dass man die siebenjährige Tochter für eine Stunde allein auf den Spielplatz gehen lässt, ist undenkbar. Und weil Kleider in der Ukraine bei tieferem Lohnniveau viel teurer sind, achten ukrainische Mütter darauf, dass die Kinder ihre Kleider beim Spielen möglichst nicht beschmutzen oder gar kaputtmachen. 


Ukrainische Kinder sind verwöhnter.
Falsch. Und Bittibätti vor dem Schoggistängeliregal oder bei den Spielsachen? Kommt nicht in Frage!


Sie werden mehr auf «Meitli» oder «Bueb» getrimmt.
In der Tendenz stimmt das. So wird Buben immer noch beigebracht, dass sie nicht weinen dürfen.


Sie werden früh auf Erfolg getrimmt.
Die Tendenz setzt sich fort.

Männer

Selbstverständlich nicht in allen Fällen, aber diese Stereotype haben durchaus eine gewisse Berechtigung:

  • Sie sind in der Regel geschlechterkonservativer als Schweizer Männer.
     
  • Das Auto als Statussymbol hat einen enorm hohen Stellenwert.
     
  • Ihr Aussehen ist ihnen nicht so wichtig (das gilt zumindest für die ältere Generation).
     
  • Witze über angeblich mangelnde Logik und emotionale Instabilität von Frauen sind weit verbreitet.
     
  • Sie erwarten, dass die Frau den Haushalt schmeisst und sich um die Kinder kümmert – selbst wenn sie ebenfalls berufstätig ist.
Arbeitswelt

Wer eine Person aus der Ukraine beschäftigen oder einstellen möchte, muss wissen:

  • Der Führungsstil ist eher autoritär.
     
  • Ukrainische Mitarbeitende erwarten genaue Anweisungen und regelmässige Kontrolle durch Vorgesetzte. 
     
  • Sich selber einzubringen, ist nicht üblich.
     
  • Entscheiden tut der Chef, dem man Gehorsamkeit entgegenbringt.
     
  • Geburtstage oder auch der Namenstag werden innerhalb einer Abteilung ausgiebig gefeiert – mit Kuchen, Sekt und allenfalls einem kleinen Buffet. 
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