Am 24. Februar um fünf Uhr früh wurden Irina Iwanowa und ihr Sohn Alexander von russischen Raketen aus dem Schlaf gerissen. Truppen beschossen einen nahe gelegenen Militärstützpunkt. «Was Russland an diesem Tag gemacht hat, war die grösste Enttäuschung meines Lebens», sagt Iwanowa. Aus Angst vor dem russischen Geheimdienst möchte sie anonym bleiben. Iwanowa engagierte sich in der Folge in einem Hilfskomitee, sammelte Kleider und Lebensmittel für die ukrainische Armee und spendete selbst. Auf Facebook postete sie ukrainefreundliche Beiträge.

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Im letzten März flüchtete sie mit ihrem Sohn in die Schweiz, fand Unterschlupf bei einer Gastfamilie im Kanton Basel-Landschaft und stellte ein Gesuch um den Schutzstatus S. Anfang Juni wurde sie vom Staatssekretariat für Migration (SEM) zu einer sogenannten Kurzbefragung aufgeboten. Danach entscheidet das Amt, ob der Schutzstatus S gewährt wird.

«Mama, Putin ist doch der Feind. Wir können unmöglich nach Russland.»

Alexander Iwanow, 13 Jahre alt

«Ich dachte, das sei reine Formalität. Ich kam nicht einmal auf die Idee, dass man mich und meinen Sohn nach Russland ausschaffen könnte», sagte Iwanowa im September, als der Beobachter über ihren Fall berichtete. Die 40-Jährige war mit einem Ukrainer verheiratet und hat eine dauerhafte ukrainische Niederlassungsbewilligung. Weil sie in Russland geboren wurde, hat sie auch einen russischen Pass. Die letzten 13 Jahre lebte sie aber mit ihrem Sohn, einem russisch-ukrainischen Doppelbürger, in der Ukraine.

Doch das SEM wies ihr Gesuch ab und ordnete die Wegweisung nach Russland an. Sie sei entsetzt gewesen, sagte Iwanowa. Ihr Sohn habe gesagt: «Mama, Putin ist doch der Feind. Wir können unmöglich nach Russland.»

Eine Frage der Auslegung

Das SEM hingegen befand, «den Akten und Ihren Aussagen zufolge» gebe es keine «Vollzugshindernisse» für die Wegweisung nach Russland. Das Amt glaubte den beiden nicht, dass sie in Russland gefährdet sind. In der Kurzbefragung hätten sie ungenügend auf ihre Gefährdung in Russland hingewiesen. Iwanowa sagte, sie sei eingeschüchtert gewesen und habe während der Befragung geweint. «Ich hatte das Gefühl, dass der Beamte gegen uns war.» Sie sei verhört worden wie eine Verbrecherin. 

Alicia Giraudel, Asylexpertin von Amnesty International Schweiz, findet den Entscheid des SEM «unverständlich». Sie kennt den Fall. «Die Mutter und ihr Kind wären bei einer allfälligen Wegweisung nach Russland klar gefährdet, da sie als Regierungs- oder Kriegsgegner verfolgt werden könnten», sagt sie. In Russland drohen dafür mehrjährige Haftstrafen.

Die Schweiz hat im Gesetz definiert: Wer ohne ukrainischen Pass in der Ukraine gelebt hat, hat nur dann Anspruch auf den Schutzstatus S, wenn sie oder er eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung für die Ukraine besitzt und nicht ins Heimatland zurückkehren kann. Was das allerdings im Einzelfall bedeutet, ist in der Praxis eine Frage der Auslegung.

Wenn die schnelle Hilfe zum Albtraum wird

Die strenge Definition des SEM im vorliegenden Fall wird nun vom Bundesverwaltungsgericht gestützt. Das zeigt das kürzlich publizierte Urteil. Irina Iwanowa und ihr Sohn Alexander hatten gegen den Entscheid des SEM rekurriert und ihn vor dem obersten Gericht angefochten.

Das Bundesverwaltungsgericht gelangt «in Übereinstimmung mit der Einschätzung des SEM» zum Schluss, dass sie zum Zeitpunkt des Entscheids in ihren Heimatstaat Russland hätten zurückkehren können, heisst es im Urteil. Der Kurzbefragung sei nichts zu entnehmen, was eine Rückkehr nach Russland in Frage habe stellen können, auch «unter Berücksichtigung der kriegerischen Auseinandersetzung», so das Gericht weiter.

Für Irina Iwanowa und ihren Sohn bedeutet das: Ihr Fall geht zurück ans SEM. Das Amt leitet ein ordentliches Asylverfahren ein und soll nun vertiefter prüfen, ob Asylgründe vorliegen. Sie werden damit vorerst nicht nach Russland weggewiesen, sind allerdings – ohne den Schutzstatus S – deutlich schlechtergestellt als andere Geflüchtete aus der Ukraine. So dürfen sie beispielsweise nicht arbeiten. Für die beiden ist die von der Schweiz versprochene schnelle und unbürokratische Hilfe zum Albtraum geworden.