Beziehungen: Goldener Mittelweg zwischen Freiheit und Bindung
«Ich bin 25 und seit sechs Jahren mit meinem Freund zusammen. Ich denke viel über meine Zukunft nach. Irgendwie habe ich Angst, dass ich im Leben etwas verpassen könnte. Ausserdem bin ich seit Beginn der Partnerschaft gegenüber meinem Freund misstrauisch. Wir haben eine gute Beziehung – und trotzdem fühle ich mich irgendwie gefangen. Allein gewohnt habe ich noch nie. Für eine Befreiung fehlt mir aber das Selbstvertrauen. Nehme ich meine Situation im Moment vielleicht einfach zu ernst?» Renata G.
Veröffentlicht am 4. Oktober 2000 - 00:00 Uhr
Keineswegs! Ungute Gefühle muss man ernst nehmen: Sie zeigen an, dass seelische Arbeit nötig ist, um in der persönlichen Entwicklung einen Schritt weiterzukommen. Zwar spüren Sie, dass Sie Ihren Lebensradius vergrössern möchten, trauen sich dies aber nicht zu. Mut und Selbstvertrauen können Sie gewinnen, indem Sie Ihren Ängsten auf den Grund gehen und deren Entstehungsgeschichte erkennen. Hilfreich ist da natürlich eine Psychotherapie. Sie können jedoch auch im Gespräch mit einem Freund oder einer Freundin diesen Themen nachgehen. Zudem ist es auch möglich, mit einem Tagebuch sich selber besser kennen zu lernen.
Beziehungen werden kürzer
Sie sind sicher nicht die Einzige, die sich mit der Spannung zwischen Freiheitsdrang und Bindungsbedürfnis herumschlägt. Seit Grossvaters Zeiten hat sich vieles gründlich verändert: Wörter wie Freiheit, Selbstentfaltung und Unabhängigkeit sind heutzutage in aller Mund. Beziehungen dauern immer seltener das ganze Leben, und auch Bindungen an einen Ort, an Gegenstände, an einen Arbeitgeber scheinen eher hinderlich geworden zu sein. Mobilität wird in unserer Wegwerfgesellschaft gross geschrieben.
Trotzdem haben wir alle gleichzeitig auch ein Bedürfnis nach Geborgenheit, nach Heimat, Nähe und vielleicht auch nach Bindung. In der Partnerschaft wird der daraus resultierende Konflikt oft besonders deutlich sichtbar – wie unter einer Lupe. Auf den ersten Blick scheinen Menschen, die ziemlich oberflächlich und gefühlsarm sind, am wenigsten Probleme damit zu haben.
Wenn Schwierigkeiten auftreten, können sie ohne Angst und Schmerzen dem Partner oder gar der ganzen Familie den Rücken drehen und mit anderen Menschen wieder neu anfangen. Der Preis dafür ist allerdings ein wenig lebendiges Gefühlsleben. Dieses wird dann oft mit Überaktivität kompensiert. Solche Menschen fühlen sich innerlich leer, wenn sie allein sind.
Das andere Extrem sind Personen, die in einer Partnerschaft unter massiven Verstrickungen, unter Abhängigkeitsgefühlen oder gar Hörigkeit leiden. In diesen Fällen sind zwar Bindungen vorhanden, aber sie sind starr und schmerzhaft geworden.
Das Thema Eifersucht gehört in dieses Kapitel, aber auch zermürbende Machtkämpfe unter den Partnern sowie Vorwürfe, die auf unerfüllten Erwartungen oder auf Besitzansprüchen gründen – als ob der Partner ein Kuscheltier oder ein Haushaltgerät wäre.
Die beste Lösung ist sicher der goldene Mittelweg. Den kann allerdings nur beschreiten, wer einerseits genügend selbstständig ist, um auch allein leben zu können – und anderseits so gefühlvoll, dass die Bedürfnisse nach Nähe wahrgenommen und ausgedrückt werden können. Beides ist lernbar: Wer nicht das Glück hat, schon als Kind in der Familie die Kombination von Wärme und Freiheit, von Verbindung und Abgrenzung erfahren zu haben, kann sich durchaus auch als Erwachsener noch das Rüstzeug dafür aneignen.
Der Rhythmus muss stimmen
Ich bin ausserdem überzeugt, dass der goldene Mittelweg nicht durch eine Ebene führt, sondern dass es im Idealfall auf und ab geht. Denn Leben bedeutet immer auch Rhythmus: Beispielhaft zeigen das der Herzschlag und die Atmung – und besonders schön demonstriert es die Musik. Auch Partnerschaften sollten einem Rhythmus folgen; Bindung und Lösung sollten sich abwechseln.
So wie sich romantische Liebespaare trennen und wiederfinden, so darf es auch im Alltag sein. Manchmal ist man sich näher – und manchmal spürt man Distanz. Manchmal dominiert das beruhigend Gemeinsame – und manchmal das aufregend Verschiedene. Darum: Wer im Wechsel das Beständige sehen kann, der ist der Weisheit schon ziemlich nahe – und kann das Leben mehr geniessen.