Beobachter: Lassen Sie mich eine These aufstellen: Die Spitalangestellten sind die ersten Opfer des Fallpauschalensystems.
Willy Oggier
: So verallgemeinernd ist das falsch. Das zeigen die Erfahrungen in Deutschland, wo eher das Gegenteil passiert ist: Bei den Spitälern trennte sich die Spreu vom Weizen. Vor allem kleinere Spitäler werden auch in der Schweiz mehr unternehmen müssen, um gutes Personal bei der Stange zu halten. In diesem Sinne ist die laufende Entwicklung positiv für das Personal.

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Beobachter: Die Betroffenen erleben das anders: Durch die neue Finanzierungsform steigt der Druck auf die Spitäler, profitabler zu werden. Was liegt da näher, als den Kostenfaktor Personal auf mehr Effizienz zu trimmen?
Oggier
: Wer so funktioniert, wird das über kurz oder lang bereuen. Wegen der erhöhten Transparenz, die das neue System mit sich bringt, kommt nämlich auf den Tisch, wer Personalengpässe hat und wo Operationen deswegen nicht durchgeführt werden können. Und umgekehrt spricht sich herum, welche Spitäler erfolgreich sind und gute Rahmenbedingungen bieten.

Beobachter: Noch eine Behauptung: Der Kostendruck durch Fallpauschalen verstärkt die Privatisierungstendenzen im Gesundheitswesen.
Oggier
: In Deutschland war es tatsächlich so, dass durch den Systemwechsel die Privatisierungen zugenommen haben, gerade bei ländlichen Spitälern. Das ist aber vor allem darauf zurückzuführen, dass Bundesländer und Kommunen vielerorts faktisch bankrott sind. In der Schweiz ist man weit entfernt von dieser Situation, weil die Kantone finanzpolitisch besser dastehen und die Spitäler besser stützen können. Und auch, weil die Bevölkerung solche Privatisierungen oft nicht will.

Beobachter: Wollen ist das eine. Was ist mit Sachzwängen, die keine andere Lösung zulassen?
Oggier
: Sicher wird über kurz oder lang insbesondere bei kleineren Spitälern die Frage aufkommen, ob sie allein überhaupt überleben können oder ob sie sich nicht in grössere Verbünde einbringen sollen. Das müssen aber nicht zwingend private Partner sein, es können auch grössere öffentliche sein, zum Beispiel Universitätsspitäler.

Beobachter: Wobei die Privaten schon jetzt auf unprofitable Häuser schielen. Der Chef der deutschen Privatklinikgruppe Ameos, Axel Paeger, sagt ganz unverhohlen: «Unser Ziel ist es, in der Schweiz öffentliche Spitäler zu übernehmen.» Ist das eine Realität, an die wir uns gewöhnen müssen?
Oggier
: Das Gesundheitswesen ist eine Wachstumsbranche, gerade auch durch die Alterung der Bevölkerung. Dass hier zunehmend die Gesetze des Marktes greifen, weil Sozialversicherungen und Steuern nie alles finanzieren können, erstaunt nicht. Insofern dürften sich vermehrt private Anbieter in Position bringen, gerade für das lukrative Geschäft mit den Selbstzahlern und den Privatversicherten.

Beobachter: Auch die Schweizer Genolier-Gruppe, die im ganzen Land einen aggressiven Wachstumskurs fährt, deckt dieses Luxussegment ab. Ist also der Weg frei für eine Zweiklassenmedizin?
Oggier
: Zweiklassenmedizin hat es schon immer gegeben und wird es immer geben. Die Frage ist, auf welchem Niveau die zweite Klasse ist. In der Schweiz wird man als grössere Privatklinikgruppe, wie etwa Genolier oder Hirslanden, eine Zweifachstrategie unter einer gemeinsamen Dachmarke fahren müssen – «Service public» und «de luxe».

Beobachter: Was macht Sie da so sicher?
Oggier
: Der Aufbau unseres Versicherungssystems. Im Unterschied etwa zu Deutschland, wo man sich als Gutverdienender von der solidarischen Grundversicherung verabschieden kann, sind bei uns alle grundversichert. Die Zusatzversicherungen kommen also obendrauf. Deshalb wird sich bei uns jeder Player überlegen müssen, welches seine Basis- und welches die Zusatzleistungen sind. In vielen Regionen wird es gar nicht möglich sein, ohne Basisangebote auf die nötigen Fallzahlen zu kommen – egal, ob in einem öffentlichen oder einem privaten Spital.

Beobachter: Die Expansionsgelüste der Privaten deuten darauf hin, dass sich mit Kranken fette Gewinne machen lassen. Wie geht das überhaupt? Die gängige Wahrnehmung ist ja: Kranke kosten.
Oggier
: Es gibt einige wichtige Erfolgsfaktoren. Dazu gehören hervorragendes medizinisches und pflegerisches Personal sowie eine moderne Infrastruktur. Und es braucht die Erkenntnis, dass die Zeit der Einzelkämpfer auch im Schweizer Gesundheitswesen vorbei ist. Es sollten nicht mehr alle alles machen. Zusammenarbeit in Klinikverbünden, Kooperationen werden wichtiger. Gerade für unser kleines Land ist es entscheidend, dass man in einer Gruppe Kompetenzen bündelt, um so zu hohen Fallzahlen zu kommen. Diese ermöglichen, beim Einkauf, etwa von Medikamenten oder Technik, günstigere Konditionen.

Beobachter: Um nochmals den Ameos-Chef zu erwähnen: Er sagt, durch effizientere Arbeitsabläufe spare man zehn Prozent bei den Personalkosten. Also doch: Profit auf dem Buckel der Angestellten.
Oggier
: Weil sie nicht auf öffentliche Dienstverhältnisse Rücksicht nehmen müssen, können Private in der Regel leichter Restrukturierungen vornehmen, unter anderem, indem sie Verbundeffekte nutzen: Man sucht etwa nicht in jedem Haus separate IT-Lösungen, sondern erledigt das zentral. So lässt sich bei höherer Wirkung Geld sparen.

Beobachter: Und mit dem medizinischen Personal?
Oggier
: Ärzte und Pflegende sind die Leistungsträger eines Spitals. Gerade weil wir in einen Ärzte- und Pflegekräftemangel hineinlaufen, wird es hier weniger darum gehen, Lohndrückerei zu machen, sondern darum, im «War for talents» als attraktiver Arbeitgeber dazustehen.

Beobachter: Sie preisen die Verbundlösungen. Wie steht die Schweiz diesbezüglich da?
Oggier
: Besser, als man vermuten würde. In verschiedenen Regionen spannen auch öffentliche Spitäler vermehrt zusammen. Es ist kein Zufall, dass nun zum Beispiel in der Neuenburger Klinik La Providence oder im Regionalspital Männedorf Konflikte wegen der Arbeitsbedingungen auftreten. Das sind genau solche Spitäler, die diese Entwicklung verschlafen haben. Sie haben als Einzelspital in ihrer heutigen Aufstellung kaum eine Zukunft und kommen dadurch unter Druck. Das ebnet den Weg für private Anbieter, die mit Managementmethoden versuchen, schnell Probleme zu lösen.

Beobachter: Welche Rolle spielt es bei diesen Umwälzungen, wenn sich Gemeinden aus Spitalträgerschaften verabschieden?
Oggier
: Es haben sich erst wenige Gemeinden aus den Trägerschaften zurückgezogen, und zwar vor allem im Kanton Zürich. Davon zu unterscheiden sind Verselbständigungen, etwa wenn ein Spital von einem Zweckverband in eine Aktiengesellschaft überführt wird. Damit gewinnen öffentliche Spitäler an Tempo und Handlungsspielraum. Überbewerten würde ich das aber nicht: Entscheidend ist nicht die Rechtsform, sondern wie gut ein Spital geführt wird. Und hier fällt auf, dass wir in der Schweiz in den Führungsorganen der Spitäler wenig Corporate Governance haben. Hier sitzen in den Verwaltungsräten viele Politiker und vermehrt auch Anwälte und Berater, die meist mehrere Mandate im Gesundheitswesen haben. Da sind Interessenkonflikte programmiert.

Beobachter: Aus Sicht der Gemeinden könnte man aber auch argumentieren: Sie umgehen das finanzielle Risiko, auf immer und ewig ein Betriebsdefizit decken zu müssen.
Oggier
: Nicht solange die Gemeinden Eigner des Spitals bleiben, zum Beispiel also die Aktien einer Spital-AG halten. Dann bleibt die finanzielle Verantwortung. Im Extremfall müssen die Gemeinden Geld einschiessen oder die Bilanz deponieren und das Spital schliessen.

Beobachter: Aber Aktien kann man auch verkaufen, wenn ein Angebot gut genug ist. Beispiel Spital Männedorf: Das ist seit kurzem eine Spital-AG, frühere Genolier-Leute haben wachsenden Einfluss – viele vermuten deshalb sogar eine schleichende Übernahme. Ist das so abwegig?
Oggier
: Ich gehe eher davon aus, dass in Männedorf grosse Führungsprobleme vorliegen. Die Strukturen sind stark verpolitisiert, und als kleiner Einzelplayer hat das Haus Mühe im Markt. In dieser Konstellation kann es gut sein, dass der eine oder andere sich überlegt, hier einzusteigen – ob das Genolier ist oder jemand anders. Ich schliesse auch nicht aus, dass am Schluss ein öffentlicher Anbieter ein Haus für privatversicherte Patienten realisiert.

Beobachter: Ihre Prognose: Wie sieht die Schweizer Spitallandschaft in zehn Jahren aus?
Oggier
: Die Anzahl der Spitäler dürfte nicht so stark abnehmen, wie oft behauptet wird. Doch die Spitäler werden wohl viel mehr im Verbund arbeiten und ihre Leistungspalette bereinigt haben. Sie machen vor allem noch das, was sie besser können als andere, weil sie es oft machen. Damit können sie dank eingespielten Prozessen bessere Qualität zu tieferen Kosten anbieten.

Willy Oggier

Willy Oggier, 47, ist einer der profiliertesten Gesundheitsökonomen der Schweiz und betreibt seit 1996 eine eigene Beratungsfirma. Zuletzt hat sich Oggier intensiv mit dem 2012 eingeführten Finanzierungssystem mittels Fallpauschalen beschäftigt: Spitäler dürfen nicht mehr ihren effektiven Aufwand, sondern nur noch einen je nach Diagnose vorgegebenen Betrag pro Fall verrechnen.

Quelle: Yoshiko Kusano/Keystone