Wohin mit all der Gülle?
Im Grundwasser hat es viel zu viel gefährliches Nitrat. Denn die Bauern versprühen die Gülle hektoliterweise auf den Feldern. Doch der Bund sieht keinen Handlungsbedarf.
aktualisiert am 15. August 2017 - 10:43 Uhr
Nach nur vier Jahren waren die Nitratwerte in Niederbipp BE ausser Kontrolle. Schon Ende 2008 lag die Konzentration beim Trinkwasser-Pumpwerk Niederfeld bei 40,5 Milligramm pro Liter – das ist kritisch. Gesundheitsgefährdende 111,4 Milligramm waren es im November 2012. Das ist einer der höchsten Werte, die in der Schweiz je registriert wurden. Wie es dazu kam, weiss man nicht.
Die Gewässerschutzverordnung gibt viel niedrigere Werte vor. Beim Grundwasser gilt ein Qualitätsziel von 25 Milligramm je Liter. Wenn das Grundwasser in die Trinkwasserversorgung kommt, gilt eine Obergrenze von 40 Milligramm. Das klingt unlogisch. Doch der niedrigere Wert beim Grundwasser erlaubt es den Behörden, bei kritischen Konzentrationen frühzeitig einzugreifen.
Denn zu viel Nitrat gefährdet die Gesundheit. Es kann bei Tieren Magenkrebs verursachen, das belegen zahlreiche Studien. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) befürchtet, dass das auch beim Menschen gilt.
Unbestritten ist: Für Babys ist zu viel Nitrat lebensgefährlich. Es kann bei ihnen Zyanose auslösen, Blausucht. Das beginnt mit blauen Lippen und endet im schlimmsten Fall mit Ersticken, weil die Zellen einfach keinen Sauerstoff mehr aufnehmen können.
Um solche Horrorfälle auszuschliessen, kontrollieren die Kantone das Wasser landesweit an über 600 Messstellen und schicken die Daten an die Nationale Grundwasserbeobachtung. So kommen jährlich 60'000 Proben zusammen – und sie zeigen, dass zu viel Nitrat längst nicht nur in Niederbipp ein Problem ist.
Bei etwa jeder siebten Grundwasserfassung wird heute der Grenzwert von 25 Milligramm nicht eingehalten. Die Hauptschuld daran trägt die Landwirtschaft. Richtig schlimm sieht es unterhalb von Ackerland aus. Fast die Hälfte der Proben aus solchen Gebieten weist zu hohe Werte auf, Tendenz stagnierend. «Die Situation hat sich in den letzten Jahren nicht signifikant verbessert», heisst es im Agrarbericht 2016.
Kein Wunder, Bauern schütten tonnenweise nitrathaltigen Mineraldünger aufs Land, dazu kommen Gärreste aus Biogasanlagen und mehrere Milliarden Liter Gülle pro Jahr. Die rund 1,5 Millionen Kühe und 1,5 Millionen Mastschweine in der Schweiz produzieren jedes Jahr mehr Gülle, als der 70 Meter tiefe und vier Quadratkilometer grosse Silsersee im Engadin fassen könnte. Da kommt so viel Nitrat zusammen, dass die Pflanzen gar nicht alles aufnehmen können. Ein Grossteil versickert im Boden – mit fatalen Folgen für das Ökosystem.
Dies zeigt sich in landwirtschaftlich geprägten Regionen wie Gäu-Olten im Kanton Solothurn. Schon in den achtziger Jahren brachten hier mehrere Pumpen immer wieder Grundwasser mit zu viel Nitrat an die Oberfläche. Im Jahr 2000 wurde mit dem Nitratprojekt Gäu-Olten endlich ein Lösungsansatz präsentiert. Getragen vom Kanton Solothurn, dem Bund, Vertretern der vier regionalen Wasseranbieter und der Landwirtschaft.
Seither versucht man, die lokalen Landwirte dafür zu gewinnen, die Flächen anders zu bearbeiten. Mit Erfolg: Mittlerweile werden 875 Hektaren schonender bewirtschaftet, 165 Hektaren wurden ganz stillgelegt. Das sind über 90 Prozent der Gesamtfläche.
Landwirt Lorenz Kissling ist seit mehr als zehn Jahren dabei. Er betreibt auf rund 20 Hektaren Ackerbau. Dünger setzt er immer noch ein – «nicht unbedingt weniger als vorher». Er habe die Menge schon früher mit der Umstellung auf integrierte Produktion reduziert.
Aber Kissling arbeitet anders: Er pflügt seltener und lässt den Boden im Winter ganz in Ruhe. Denn bei der Bodenbearbeitung wird Nitrat freigesetzt, das dann ausgewaschen werden kann, wenn es nicht durch die Pflanzen aufgenommen wird. Darum plant Kissling so, dass die Felder so kurz wie möglich unbebaut sind. Im Winter nutzt er Phacelia als Bodenbedeckung. Die krautige Gründüngerpflanze nimmt das Nitrat auf, speichert es und gibt es dann beim Verrotten an die Folgekultur weiter.
«Der Gemüseanbau sollte in Gebieten mit wichtigen Grundwasservorkommen verboten werden.»
Lorenz Kissling, Landwirt
Die Umstellung bringt zunächst eins: weniger Ertrag. Doch dafür gibt es mehr Geld. Allein in Gäu-Olten wurden im vergangenen Jahr Ausgleichszahlungen von 783'900 Franken ausgeschüttet. Vier Fünftel davon kommen vom Bund, den Rest steuern die lokalen Wasserversorger bei.
«Für mich geht die Rechnung auf», sagt Getreidebauer Kissling. Das hänge aber in erster Linie mit seinen Kulturen zusammen: Gerste, Weizen, Raps, Mais und Eiweisserbsen. «Gemüsebauern rechnen mit wesentlich höheren Erträgen pro Hektare. Für sie lohnt es sich kaum, am Nitratprojekt teilzunehmen.»
In der Schweiz gibt es mittlerweile 27 Projekte zur Nitratreduzierung. Dazu ein Projekt zur Senkung der Phosphorbelastung und eines für weniger Unkrautvertilger. Jährliche Gesamtkosten: knapp fünf Millionen Franken. Das wirft Fragen auf. Denn die Landwirte erhalten ohnehin jährlich Milliarden an Direktzahlungen, 2016 waren es 2,78 Milliarden Franken.
Wenn ohnehin ein grosser Teil der Einnahmen vom Staat stammt: Warum koppelt er die Zahlungen nicht an strengere ökologische Kriterien? Beispielsweise durch eine Verschärfung des ökologischen Leistungsnachweises, der schon heute Voraussetzung für die Direktzahlungen ist?
Doch das Bundesamt für Landwirtschaft will das nicht. «Beim ökologischen Leistungsnachweis gilt heute der Grundsatz, dass es keine Rolle spielt, ob ein Betrieb in einer Region mit Umweltproblemen liegt oder nicht», sagt die zuständige Expertin Ruth Badertscher.
Damit erteilt das Bundesamt den Bauern einen Freibrief: Sie dürfen auch in bereits mit Nitrat belasteten Gebieten ohne Rücksicht auf die Umwelt düngen. Das ist so, als wäre in Innenstädten Tempo 80 erlaubt, weil es auch ausserorts gilt und man niemanden benachteiligen möchte.
Es gibt Kritik an der Sicht des Bundesamts für Landwirtschaft. Zum Beispiel von Rainer Hug vom Amt für Umwelt Solothurn: «In gewissen Regionen braucht es grössere Anstrengungen. Die Art der Bewirtschaftung muss auch auf die darunterliegenden Grundwasservorkommen abgestimmt sein.» Getreidebauer Kissling sieht es ähnlich: «Im Prinzip müsste man in Gebieten mit so wichtigen Grundwasservorkommen den Gemüseanbau verbieten. Denn dieser bringt sehr viel Nitrat ins Grundwasser.»
Auch Kurt Seiler vom Interkantonalen Labor Schaffhausen fordert ein Umdenken. «Die viel zu hohen Nitratkonzentrationen in landwirtschaftlich intensiv genutzten Regionen zeigen, dass Fehlanreize bestehen und die Umwelt nicht ausreichend geschützt wird.» Gegenüber Nitratprojekten ist Seiler jedoch zwiespältig eingestellt. Sie könnten zwar die Belastung des Grundwassers reduzieren. «Doch die finanziellen Anreize müssen über die Direktzahlungen so festgelegt werden, dass die Stickstofffracht generell reduziert wird.»
Und das führt wieder zum Nitratprojekt Gäu-Olten, dem grössten Versuch, das Problem in den Griff zu bekommen. Voller Zuversicht startete man das Projekt vor 17 Jahren. Modellrechnungen sagten einen bedeutenden Nitratrückgang voraus. Doch dann stellte sich Ernüchterung ein. Denn nach einer kurzzeitigen Verbesserung stagnierten die Werte. War der ganze Aufwand umsonst?
Experten der Unis Bern und Neuenburg gaben 2015 Entwarnung. Grund für die zu hohen Werte sei, dass Oberflächenwasser nur langsam ins Grundwasser sickert. Das dauert je nach Standort bis zu 25 Jahre. «Daher kann erwartet werden, dass es in den nächsten 5 bis 20 Jahren effektiv zu einer Verbesserung der Grundwasserqualität kommt», schreiben die Experten nach mehrjähriger Forschung.
Ein erster Erfolg. Das sieht auch Rainer Hug vom Amt für Umwelt Solothurn so. Dank dem Projekt gelangten nur noch 42 statt 54 Tonnen Nitrat pro Jahr ins Grundwasser. Zudem habe man wertvolle Erfahrungen für weitere Projekte gesammelt.
«Die viel zu hohen Nitratkonzentrationen zeigen, dass es Fehlanreize gibt.»
Kurt Seiler, Interkantonales Labor Schaffhausen
Die werden noch nötig sein. Denn die Projektverantwortlichen sehen sich mit ganz neuen Herausforderungen konfrontiert. Die Studie der Unis Bern und Neuenburg zeigt auch, dass belastetes Grundwasser aus dem benachbarten Niederbipp in die Modellregion Gäu-Olten abfliesst.
Wie hoch die Nitratwerte in Niederbipp heute sind, ist nicht bekannt. Nach dem dramatischen Anstieg von 2012 wurde die Grundwasserfassung stillgelegt – wegen Gesundheitsgefährdung. Damit ist aber auch die Messstelle ausser Betrieb. Mit anderen Worten: Der Grundwasserspeicher mit dem höchsten Nitratgehalt der Schweiz wird seit fünf Jahren nicht mehr überwacht, obwohl dieser den Grenzwert ums Vierfache überschritt.
Doch Abklärungen des Beobachters zeigen, dass es «gemäss Auskunft des stellvertretenden Brunnenmeisters heute noch möglich ist, dort Proben zu entnehmen», wie das Kantonale Laboratorium Bern mitteilt. Das dürfte die Mitarbeitenden der Nationalen Grundwasserbeobachtung interessieren. Sie sind bisher davon ausgegangen, dass die Messstelle demontiert worden ist.
Mitarbeit: Thomas Angeli
1 Kommentar
Hm, aus dieser Betrachtungsweise sollte man einmal mehr den hohen Fleisch- und Milchkonsum in der Schweiz überdenken. Es kann ja nicht sein, dass unsere Trinkwasserqualität darunter leidet. Lieber mann die Pflanze direkt essen, anstatt den ökologisch bedenklichen Umweg über den Tiermagen.