«Meine Biografie müsste den Titel tragen: ‹Tunnel ohne Loch›», sagt Marcel Favre *. Beim Kontrolltermin im Paraplegiker-Zentrum Nottwil LU begrüssen ihn die Sekretärinnen freudig. «Ach, sieh an, unser Stehaufmännchen!» Allen, die nach seinem Befinden fragen, sagt er: «Es geht mir schlechter, aber den Humor habe ich behalten.»

Ist der 53-Jährige tatsächlich einer, der stets das Licht sieht und niemals das Dunkle? Ein Superoptimist, der sich zwar in einem Tunnel sieht, nicht aber in einem Loch? Oder ist das nur das Bild, das er von sich geben will, um nicht zu verzweifeln?

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Aufgeben kam für Favre jedenfalls nie in Frage. Wenn das, was er aus seinem Leben erzählt, alles stimmt, dann ist das, was er derzeit erlebt, nur eine Katastrophe unter vielen. Er berichtet von einer Kindheit ohne Vater und mit einer Mutter, die ihn «Bastard» nannte. Die ihm eines Tages – da war er 27 – die Quittungen sämtlicher Auslagen unter die Nase hielt, die sie jemals für ihn getätigt hatte.

Der Einzelkämpfer

Er spricht über sexuellen Missbrauch und abgebrochene Ausbildungen. Wie er sich im Lehrbetrieb absichtlich beim Diebstahl erwischen liess, damit er endlich in ein Heim kam. Wie er sich mit Mitte zwanzig in die psychiatrische Klinik einwies, als die Geister der Vergangenheit übermächtig wurden.

In diesen Anekdoten steht er fast immer ohne Hilfe da, muss allein kämpfen. Einmal sagt er: «Irgendwie machen Rückschläge mich stärker . Ich schöpfe daraus Kraft, ich weiss auch nicht, warum.»

Jetzt sitzt dieser Marcel Favre also im Paraplegikerzentrum. Seine blauen Augen fest aufs Gegenüber gerichtet, lächelnd. Unter dem Tisch zittern seine Beine. Als wolle ihm das Schicksal sagen: «Nun krieg ich dich doch noch, jetzt zeig mal, was für ein grosser Kämpfer du bist.»

Genickbruch, 1997

Schon einmal hätte er hier in Nottwil landen müssen. Doch damals, vor über 20 Jahren, zeigte er dem Schicksal den Stinkefinger. Nairobi, 1997, Taxifahrt vom Flughafen. An den Unfall erinnert sich Marcel Favre nicht. Er wachte am Strassenrand ausserhalb der Stadt auf, neben sich das Gepäck. «Der Fahrer dachte wohl, ich sei tot, und hat mich einfach ausgeladen.»

Der damals 30-Jährige sah alles doppelt. Alle paar Minuten musste er sich übergeben. Sein Kopf dröhnte. Er stand auf, klopfte sich den Staub aus den Kleidern, schleppte sich zu Fuss Richtung Stadt zu einem Spital. Behandeln liess er sich dort nicht: «Patienten lagen in den Gängen, es war schmutzig. Schlimm.»

Er meinte, er habe nur eine Gehirnerschütterung, holte sich in der Apotheke Schmerztabletten und setzte seine Ferien fort. Zu Hause fiel sein Hausarzt aus allen Wolken: Das MRI zeigte vier gebrochene Halswirbel. «Eigentlich hätte ich im Rollstuhl sitzen müssen.»

 

«Ich wollte nicht mit Anfang 30 aufs Abstellgleis.»

Marcel Favre*, Tetraplegiker

 

Glück im Unglück? Nicht für die IV, erzählt Favre. Er war schon vor dem Unfall in einer Abklärung der Invalidenversicherung Invalidenversicherung Das müssen Sie über die Invalidenrente wissen . Wegen einer Holzstauballergie konnte er nicht mehr in seinem Lehrberuf als Rahmenmacher arbeiten. Ausserdem litt er unter psychischen Problemen. Eine Umschulung an der Handelsschule stand zur Diskussion.

Doch nach dem Unfall habe die IV ihn «stilllegen» wollen, wie er sagt. «Sie glaubten, ich könne auch im Büro nicht mehr arbeiten. Dabei hatte ich ja gar keine Beschwerden.» Ob man eigentlich wolle, dass er zum Alkoholiker werde Sucht «Bin ich ein Alkoholiker?» , habe er sie gefragt. «Ich wollte nicht mit Anfang 30 aufs Abstellgleis. Ich wollte ein Rädchen sein im System, wie jeder.» Und so wurde Marcel Favre schliesslich Buchhalter.

Bandscheibenvorfall, 2017

Damals ist er dem Rollstuhl entkommen. Doch jetzt droht ihm dieses Schicksal erneut. Diesmal ist es eine echte Probe. Angefangen haben die Beschwerden Bandscheibenvorfall Blockade im Rücken vor knapp zwei Jahren. «Ich konnte plötzlich nicht mehr richtig abbremsen, wenn ich eine Treppe hinunterging, und landete ein paar Mal in der Wand», sagt er. Nach und nach habe er auch mit den Händen nicht mehr richtig greifen können. Schuld war ein Bandscheibenvorfall im Halswirbelbereich, der auf den Nerv drückte. Eine notfallmässige Operation verhinderte das Schlimmste. Favre ist seither Tetraplegiker, aber inkomplett.

Er streckt die Hände aus, zeigt auf Verbrennungen an seinen Fingern. Das passiere ihm inzwischen ständig. Kein Gefühl mehr für Kälte und Wärme. Beim Gehen stakst er unkontrolliert. «Gangbild breitbasig und ataktisch», schreiben die Nottwiler Ärzte in ihrem Bericht.

«Besonders lustig finde ich, wenn ich ins Auto steige und die Leute mir erschrocken zuschauen», sagt er. Fahren darf er noch, ganz offiziell. «Doch wenn ich mich nicht fit fühle, setze ich mich nicht hinters Steuer.» Im Stehen muss er ein Bein weit abdrehen, um die Balance zu halten – und wankt hin und her wie eine Tanne im Sturm.

 

«Ich muss mich extrem auf die Bewegung konzentrieren.»

Marcel Favre, Tetraplegiker

 

Er bewege sich mit seinem Kopf und seinen Augen, sagt Favre. Was er damit meint, demonstriert er mit einem Spiel: Er bittet, Hände und Finger verkehrt herum ineinander zu verschränken. «Und jetzt den linken Ringfinger anheben!» So fühle es sich für ihn an, wenn er gehe. «Ich muss mich extrem auf die Bewegung konzentrieren, nach einer Viertelstunde bin ich kaputt.»

Als Marcel Favre zwei Monate zur Therapie in Nottwil war, habe er sich gezwungen, jeden Tag zehn Kilometer zu gehen. Bloss nicht dem Rollstuhl ausgeliefert sein. «Manchmal brauchte ich bis nachts um zehn.»

Zu Hause übe er, mit den Zehen Fussgymnastik Diese Übungen helfen gegen Fussschmerzen Gegenstände vom Boden aufzunehmen. Er nimmt nicht den Lift, sondern die Treppe. «Das ist Training!», sagt er. Einmal fliegt ihm während des Gesprächs ein Mäppchen vom Tisch und landet etwas entfernt auf dem Boden. Er holt es selber: «Training!»

Durchhaltewille ist gefragt

Er macht alles, damit er wieder gesund wird. Doch die Krankenkasse weigerte sich, die dringend nötigen Physio- und Ergotherapien zu bezahlen. Sie will zuerst ein Unfallprotokoll von damals in Nairobi sehen.

Marcel Favre kann das Formular nicht einmal mehr selber ausfüllen. Weil er sich die Ergotherapie nicht leisten kann, bucht er einen Kurs, um Silberschmuck herzustellen. So will er die Fingermotorik trainieren. Damit habe er nämlich Erfahrung.

Favre erzählt, wie er sich in der Lehre mit einer Maschine zwei Finger abgesägt hatte. Nur noch an Hautfetzen seien sie gehangen. Man habe sie amputieren wollen, die Chancen stünden schlecht, dass er sie je wieder bewegen könne. Doch er habe darauf bestanden, dass sie ihm angenäht würden. «Ich habe jeden Tag mit Bällen trainiert.» Er zeigt auf eine kleine Narbe. Das sei alles, was davon geblieben sei.

Auf der Suche

Sein Vater melde sich hin und wieder über Facebook, wünsche gute Besserung. «Aber wirkliches Interesse hat er nicht», sagt Marcel Favre. Er habe ihn nicht gekannt, nur seinen Namen und gewusst, dass er Kolumbianer ist und in Cali lebt, einer Millionenstadt im Südwesten des Landes. Mit 36 habe er beschlossen, ihn dort zu suchen.

Ein Bekannter, der als freier Videojournalist arbeitete, habe ihn begleitet und die Vatersuche gefilmt. Sie hätten unzählige Amtsstellen abgeklappert und in kirchlichen Taufbüchern nach Adressen gesucht. Erfolglos. Kurz bevor sie wieder abfliegen wollten, sei er in eine letzte Kathedrale gegangen. «Ich schlug das Taufbuch auf, ging es durch wie Dutzende Male zuvor, und da stand er: der Name meines Vaters.»

 

«Aber wirkliches Interesse hat er nicht.»

Marcel Favre, Tetraplegiker

 

Später haben sich Vater und Sohn getroffen. Er habe eine zweite Familie gefunden mit fünf Halbgeschwistern – aber so richtig nahe sei man sich nicht gekommen, sagt Favre. Der Film über die Vatersuche sei auf Sat 1 ausgestrahlt worden. Auffindbar ist er nicht mehr; die Produktionsfirma archiviert Sendungen nicht so lange. Selber habe er auch keine Kopie mehr. Er habe seinen Haushalt aufgelöst, weil er ein Jahr später nach Kolumbien ausgewandert sei.

Sowieso will Marcel Favre nur nach vorn schauen, nicht zurück. Das sei schon immer sein Rezept gewesen. Wie gut stehen die Chancen, dass er nicht doch noch im Rollstuhl landet? Sein Hausarzt will sich nicht auf Prognosen einlassen. Es sei unmöglich, vorauszusagen, wie lange sich seine Situation noch weiter verschlechtere.

Schwierige Momente

Bei Marcel Favre, dem Optimisten, flackert nur hin und wieder Verzweiflung auf. Wenn er erzählt, dass die Krankenkasse nun zwar eingelenkt habe, aber die Ergotherapeutin ihn beim ersten Termin fragte: «Meinen Sie wirklich, das bringt noch etwas?»

Oder wenn er in einer E-Mail vom zermürbenden Kampf um die korrekte Auszahlung der Krankentaggelder berichtet. «Es sind Kleinigkeiten, die sich anhäufen von anderen Kleinigkeiten. Am Schluss ist man im Stress, und dies ist mit meinen Nerven nicht gut zu vereinen.»

Die Kraft in Beinen und Händen lässt stetig nach, die Taggelder laufen bald aus, und dann? Marcel Favre weiss es nicht. Komischerweise habe er keine Angst. Seine Freundin sei ihm eine grosse Stütze, ein Engel. Vielleicht, schiebt er nach, vielleicht wolle er seine Situation auch einfach nicht wahrhaben. Wahrhaben, dass es ihm diesmal nicht gelingen könnte, dem Schicksal eins auszuwischen.

 

* Name geändert

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