Kürzung auf 250 Franken pro Monat
Die Aargauer Gemeinde Muri bestraft einen angeblich renitenten Sozialhilfebezüger, weil er nicht arbeitet – obwohl er psychisch krank ist.
Veröffentlicht am 24. Juni 2013 - 17:46 Uhr
Präzis 248 Franken und 55 Rappen erhielt Armin Berger* vom Sozialdienst der Gemeinde Muri ausbezahlt. Damit sollte er einen Monat lang den Lebensunterhalt für sich und seine zwei Töchter bestreiten. Die Gemeinde im Aargauer Freiamt bestrafte den 43-jährigen Familienvater dafür, dass er nach Meinung der Behörden gar nicht arbeiten wolle. Aber selbst die von der Gemeinde beauftragten Psychiater erachten eine Integration in den Arbeitsmarkt als «nicht realistisch». Berger sei ein Fall für die IV.
Armin Bergers Start in die Arbeitswelt war erfolgversprechend gewesen: Nach der KV-Lehre arbeitete er in der Wertschriftenabteilung einer Grossbank, wurde Kundenberater, bildete sich im Selbststudium zum Informatiker weiter, war Webmaster bei Siemens und machte sich 2002 selbständig. Aus der Bahn geworfen hat ihn die problematische Beziehung mit und dann die schwierige Trennung von seiner Frau. Die beiden Töchter, sechs und zehn, leben seither mehrheitlich bei ihm. Berger konnte sich nicht mehr um seine Firma kümmern, sie ging 2008 in Konkurs. Ein Jahr später musste er beim Sozialamt anklopfen.
Das Verhältnis zur Behörde war von Anfang an von Misstrauen geprägt, gegenseitig. Armin Berger beklagt sich über Filz und inkompetente Angestellte, die Gemeinde ortet «ein hohes Mass an Verweigerung der Kooperation» mit dem Sozialdienst. Auch Psychiater Werner Salzmann hatte zunächst Mühe mit dem «von der Gemeinde als renitent und arbeitsscheu geschilderten» Patienten. Doch er erachtet ihn nicht als arbeitsscheu, sondern attestiert ihm eine «Persönlichkeitsstörung mit paranoiden Zügen». Bei Konflikten sei er rasch überfordert.
Ende 2010 teilt Muri den Informatiker Berger in ein Beschäftigungsprogramm ein: Er soll Gemüse rüsten. «Falls er die zugewiesene Stelle nicht annimmt, wird ihm das hypothetische Einkommen angerechnet», verfügt die Gemeinde. Will heissen: Weigert er sich, wird ihm die Sozialhilfe um jenen Betrag gekürzt, den er als Lohn im Beschäftigungsprogramm erhielte.
Berger gehorcht und arbeitet fast ein Jahr lang, bis ihm gekündigt wird. Die Chefs legen ihm mangelnde Leistung und Kooperation zur Last, er könne keine Kritik annehmen. Berger entgegnet: «Kam ich eine Minute zu spät, gabs ein Strichli. Arbeitete ich abends länger, zählte das überhaupt nichts.»
Muri nimmt die Kündigung zum Anlass, die Sozialhilfe auf den Notbedarf zu kürzen, auf zunächst rund 500 Franken und dann auf knapp 250 Franken. Und sie zieht die Schraube an: Berger wird nahegelegt, sich stationär behandeln zu lassen, andernfalls werde die Sozialhilfe komplett gestrichen. Bergers behandelnder Psychiater bemängelt, dass die vorgesehene Einrichtung gänzlich ungeeignet sei, weil sie darauf spezialisiert ist, chronisch psychisch Kranken beim selbständigen Wohnen zu helfen – dabei hat Berger gar kein Wohnproblem.
Bergers Mutter wiederum kritisiert die grundsätzliche Haltung Muris: «Es macht mich traurig, dass die Gemeinde ihn einfach versorgen will. Er hat nichts verbrochen, er ist nicht geisteskrank, und trotzdem erpresst ihn die Gemeinde.» Umso mehr als die Gemeinde wisse, dass dann die Familie auseinanderfiele und seine beiden Töchter versorgt werden müssten.
Damit es nicht so weit kommt, bezahlt Bergers Mutter aus ihrer AHV-Rente einen Anwalt. Dessen Beschwerde wird nach einem Jahr gutgeheissen, doch während der langen Verfahrensdauer muss Berger mit praktisch nichts über die Runden kommen. Berger habe ja, wie von der Gemeinde verlangt, die Stelle im Beschäftigungsprogramm angetreten, deshalb könne ihm die Sozialhilfe nicht gestrichen werden, entschied der Kanton Aargau diesen Frühling. Wenn schon, hätte die Gemeinde nach dem Stellenverlust eine neue Auflage verhängen müssen. Zudem verletze die direkte Verknüpfung «Stellenantritt oder Geldkürzung» das rechtliche Gehör. Eine Leistungskürzung wegen mangelnder Kooperation sei zwar möglich, aber erst in einem zweiten Schritt.
Ende gut, alles gut? Mitnichten. Obwohl der Sozialamtsleiter mittlerweile seinen Posten gewechselt hat, würde die Gemeinde wieder gleich handeln, sagt Gemeindeammann Josef Etterlin (CVP). Er wolle das in der Sozialhilfe geltende Prinzip «Leistung gegen Gegenleistung» durchsetzen. Aus jeder Zeile seiner Antwort an den Beobachter spricht Abneigung gegen Armin Berger. Dank seiner Beschwerde habe sich Berger ein Jahr lang von der Teilnahme an einem Beschäftigungsprogramm «distanzieren» können, zudem gehe es ihm «materiell gesehen sicher besser als vielen Kleinverdienern ohne Sozialhilfe», schreibt der Gemeindepräsident. Vor einem Jahr hatte Etterlin in einem Brief ans Bezirksamt sogar behauptet, Berger spiele «seine Rolle als Opfer gekonnt».
Ein schauspielernder Faulpelz also? Der von Muri empfohlene Psychiater sieht es anders: «Die Aufnahme einer Arbeit scheitert an seiner Persönlichkeitsstörung, nicht an seinem Willen», sagt Werner Salzmann. Auch die Psychiatrischen Dienste des Kantons Aargau, die vor wenigen Wochen im Auftrag der Gemeinde Bergers Arbeitsfähigkeit beurteilen mussten, halten es «für nicht realistisch, dass er ad hoc in den ersten Arbeitsmarkt integrierbar ist». Stattdessen soll er weiterhin psychiatrisch betreut werden und sich bei der Invalidenversicherung anmelden.
Doch dieses Verfahren läuft bereits seit zweieinhalb Jahren. Zumindest bis zum Entscheid darüber erhält Berger – weil er hartnäckig dafür gekämpft hat – wieder genügend Geld, um den Lebensunterhalt für sich und seine Töchter zu bestreiten.
*Name geändert