«Von Pioniergeist keine Spur!»
In Vordemwald AG besucht eine 35-jährige Peruanerin die Primarschule. Alles läuft gut, alle Beteiligten sind glücklich. Bis die kantonale Bildungdirektion davon Wind bekommt.
aktualisiert am 2. Februar 2011 - 14:23 Uhr
Sie ist die älteste und mittlerweile wohl auch berühmteste Primarschülerin der Schweiz: die 35-jährige Norma Ammann. Seit fünf Monaten drückt die gebürtige Peruanerin in der Aargauer Gemeinde Vordemwald die Schulbank – gemeinsam mit Gschpändli, die gut und gerne ihre Kinder sein könnten.
In ihrer Heimat hatte Norma Ammann, die aus armen Verhältnissen stammt, keine Schule besuchen können. Vor sechs Jahren kam sie als Kindermädchen in die Schweiz. Mittlerweile ist sie seit drei Jahren mit dem Schweizer Hans-Ulrich Ammann verheiratet. Er war es auch, der die Idee mit der Primarschule hatte, nachdem er kein geeignetes Lehrangebot für seine Frau gefunden hatte. Denn Norma sollte nicht nur Deutsch, sondern auch all die anderen Kulturtechniken lernen, auf die ein erwachsener Mensch im hiesigen Alltag angewiesen ist – und normalerweise eben bereits in der Primarschule vermittelt bekommt: Rechnen, Schreiben et cetera.
Inspiriert vom Film «Sternenberg», in dem Schauspieler Mathias Gnädinger als Opa die Schulbank drückt, um seine Dorfschule vor der Schliessung zu bewahren, klopfte Hans Ulrich Ammann an die Tür «seiner» Schule in Vordemwald. «Ein spannendes Experiment», meinte der zuständige Schulleiter. Und als alle Beteiligten – Lehrerin, Schulpflege, Eltern- und Schülerschaft – ihr Okay gegeben hatten, durfte Norma Ammann im Zimmer der 3. Klasse von Lehrerin Roberta Weber Platz nehmen.
Fünf Monate ging alles gut. Mehr noch: Die Kinder schlossen ihre neue Mitschülerin mit jedem Tag mehr ins Herz. Und auch die Lehrerin fand bis zuletzt nur lobende Worte: «Mit ihrem Interesse und ihrem Ehrgeiz ist Norma ein Vorbild für die Kinder.»
Doch aller positiven Erfahrungen zum Trotz und ungeachtet der breiten Unterstützung auch aus der Bevölkerung, dürfte Norma Ammann das Schuljahr kaum beenden dürfen. Nachdem die kantonale Bildungsdirektion (BKS) Wind von der Sache bekommen hatte, liess sie relativ rasch verlauten, dass das Experiment illegal sei. Das Schulgesetz besage klar, dass die Volksschule für Kinder und Jugendliche sei. Das gelte es einzuhalten, lautete die Begründung.
Schützenhilfe bekommt Norma Ammann hingegen vom Aargauer Lehrerverband (ALV). «Wir unterstützen die Meinung von Vordemwald», erklärte die stellvertretende Geschäftsführerin Kathrin Nadler gegenüber der SF-Sendung «Schweiz aktuell». Wenn eine Person Bildung wünsche, solle man nach Möglichkeit auch Bildung ermöglichen. «Niemand kommt zu schaden, alle profitieren», so Nadler. Deshalb verstehe man die rigide Reaktion der Bildungsdirektion nicht.
Kein Verständnis dafür hat auch Pascale Sidler. Doch verwundert ist die 45-jährige Lehrerin aus Greifensee ZH über die Abwehrhaltung der kantonalen Behörden nicht. Vor knapp 15 Jahren hatte sie die Idee, Seniorinnen und Senioren in die Schweizer Schulklassen zu bringen. Auch sie stiess damals auf breiten Widerstand und wenig Pioniergeist - sowohl in den Schulen als auch in den Amtsstuben der Behörden, wie sie rückblickend erklärt. Heute jedoch sind Seniorinnen und Senioren als Klassenhilfen landesweit etabliert und gehören an diversen Schulen zum guten Ton.
Beobachter: In Vordemwald AG besucht eine 35-jährige Peruanerin ohne Schulbildung seit vier Monaten die 3. Primarklasse. Alles läuft gut, alle Beteiligten sind glücklich. Doch nun sagt die kantonale Bildungsdirektion: Geht nicht! Laut Schulgesetz sei die Volksschule ausschliesslich für Kinder und Jugendliche. Erinnert Sie das an etwas?
Pascale Sidler: Ja, das erinnert mich an 1996, als ich Lehrpersonen suchte, um einen Schulversuch durchzuführen im Rahmen meiner Lizentiatsarbeit in Pädagogik. Meiner Projektidee, Senioren als Klassenhilfen einzusetzen, begegnete man mit grosser Skepsis.
Beobachter: Wovor hatte man Angst?
Sidler: Als ich damals mit dem Vorschlag bei meinem Pädagogikprofessor vorsprach, war er alles andere als begeistert. Ohne jegliches Erfahrungsmaterial ein solches Projekt auf die Beine zu stellen, hielt er für fragwürdig. Die Lehrpersonen ihrerseits hatten grosse Bedenken bezüglich des Arbeitsaufwandes. Sie konnten sich schwer vorstellen, dass es Senioren geben könnte, die ihnen Arbeiten abnehmen, ohne sie zusätzlich zu belasten.
Auch der Schulbehörde Uster war das ganze Projekt anfangs suspekt. Man befürchtete, damit die Professionalität der Lehrpersonen zu untergraben. Der Fokus war ausschliesslich auf mögliche Probleme gerichtet. Da gab es ausser neun Lehrkräften in Uster und Wetzikon und mir niemand, der überzeugt war, dass das Ganze eine gute Sache werden könnte. Von Pioniergeist keine Spur! Kein einziger Schulpfleger hatte während der Versuchsphase ein Lehrer-Klassenhilfe-Team besucht, um sich einen Eindruck zu verschaffen. Die Schulbehörde stellte sich erst hinter das Projekt, als sich der Erfolg abzeichnete, die Medien davon Wind bekamen und andere Schulgemeinden sich für das Projekt zu interessieren begannen.
Beobachter: Heute schwärmen alle Fachleute: Senioren im Klassenzimmer sei eine Win-win-Situation für alle Beteiligten und nicht mehr wegzudenken. Könnte Ihrer Meinung nach auch ein Modell Schule machen, wo wie in Vordemwald erwachsene, lernbegierige Ausländerinnen und Ausländer mit Kindern die Schulbank drücken?
Sidler: Davon bin ich überzeugt. Natürlich müssen spezifische Rahmenbedingungen definiert werden. Will jemand im Erwachsenenalter die Primarschule besuchen, sollen für sie oder ihn Pflichten gelten bezüglich Stundenbesuch und Ferienzeiten. Die Anzahl der fremdsprachigen Erwachsenen pro Schulklasse müsste reglementiert werden. Ob und wie die Lernfortschritte beurteilt würden, wäre zu diskutieren. Eine Probezeit gäbe einer fremdsprachigen Person die Chance, ihren Integrationswillen zu beweisen und der Lehrperson die Möglichkeit abzuschätzen, ob die erwachsene Schülerin tragbar ist. Auch sollte ein Schulbesuch im Erwachsenenalter nicht gratis sein.
Beobachter: Aber so etwas mag als einzelnes Experiment funktionieren, aber flächendeckend?
Sidler: Die Angst, dass Schulklassen von integrationswilligen Ausländern überschwemmt werden, halte ich für unbegründet. Allein die Einhaltung von Unterrichts- und Ferienzeiten ist ein Selektionsfaktor. Auch sollte diese Form der Integration nicht die Ultima Ratio sein. Sie wird nur für ganz wenige Personen passen. Aber sie könnte eine von vielen Möglichkeiten werden.
Beobachter: Inwiefern könnten auch bei diesem Modell die Kleinen von den Grossen profitieren?
Sidler: Zum Beispiel im Turnunterricht gibt es viele Situationen, wo ein zweiter Erwachsener hilfreich ist. Das käme den Kindern zugute. Auch auf dem Pausenplatz stünde mit Norma Ammann eine zusätzliche Bezugsperson zur Verfügung, selbst wenn sie nur gebrochen Deutsch spricht. Im Handarbeitsunterricht könnte sie den Kindern zur Hand gehen. Und sie besitzt garantiert das eine oder andere Talent und weiss Spannendes aus ihrer Heimat zu berichten, was sie mit den Kindern teilen kann. Und: Wenn umgekehrt ein Kind Ammann bei einer Aufgabe helfen oder ihr sogar etwas beibringen kann, wird es stolz sein auf sich selbst und an Selbstvertrauen gewinnen.
Beobachter: Doch Sie werden mir zustimmen: Die Chancen, dass Norma Ammann im nächsten Jahr die 4. Klasse besuchen wird, stehen schlecht.
Sidler: Ich bin da nicht so pessimistisch. Die aargauische Bildungsdirektion hat schon 2006 bewiesen, dass sie durchaus innovativ ist und den Mut hat, neue Wege zu gehen, als sie versuchte, ein Elitegymnasium einzuführen. Jetzt bekommt sie die Chance, Pionierarbeit zu leisten. Die Konzeption eines neuen Instruments zur Förderung der Integration ist eine spannende Sache. Ich hoffe sehr, dass die Aargauer Bildungsdirektion diese Möglichkeit beim Schopf packt.
Schulleiter Hanspeter Iseli
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