«Natürlich denken alle zuerst an sich selbst»
Gesundheitsministerin Elisabeth Baume-Schneider spricht mit dem Beobachter über steigende Prämien, hohe Einkommen – und über Wege, die Kosten in den Griff zu bekommen.
«Nicht alle Ärzte gehören unter Betrugsverdacht»: Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider
Die Prämien der Krankenkassen sind für fast die Hälfte der Bevölkerung ein Problem. 48 Prozent der Befragten des Sorgenbarometers, das von der UBS erhoben wird, äusserten sich entsprechend. So hohe Werte erreichten Gesundheitsfragen zuletzt Mitte der 2000er-Jahre. Wir haben die Gesundheitsministerin gefragt, was sie dagegen tut.
Frau Bundesrätin Baume-Schneider, die Gesundheitskosten und die Prämien explodieren. Wie stark können Sie als Gesundheitsministerin diese Entwicklung beeinflussen?
Mir als Bundesrätin ist es sehr wichtig, mich um die Themen zu kümmern, die die Leute wirklich beschäftigen. So sehe ich meine Rolle: Ich rede mit allen, bis ich ein präzises Bild der unterschiedlichen Interessen habe. Dann bringe ich die Beteiligten an einen Tisch und sorge dafür, dass wir zu einer gemeinsamen Entscheidung kommen. Der runde Tisch zum Thema Kostendämpfung ist Ausdruck dieser Dynamik der gemeinsamen Verantwortung.
Und wenn das nicht funktioniert?
Wenn sich die Akteure nicht einigen, mache ich dem Gesamtbundesrat einen Vorschlag, und wir entscheiden im Plenum. So haben wir es beim neuen Tarifsystem für den ambulanten Bereich gemacht, dem Tardoc und den Pauschalen.
Der Beobachter-Prämienticker
Der Prämienticker schaut Lobbyisten und Profiteuren des Gesundheitswesens auf die Finger, deckt Missstände auf und sammelt Erfahrungen von Patienten, die unnötige Ausgaben vermeiden konnten.
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Denken bei solchen Diskussionen nicht alle Beteiligten zuerst an sich selbst?
Natürlich. Aber das tun wir alle, auch Sie und ich. Der Schlüssel besteht darin, dass wir alle auch unser gemeinsames Ziel sehen: ein ausgezeichnetes Gesundheitssystem zu erhalten, zugänglich und bezahlbar für alle. Wir müssen verstehen, dass wir uns letztlich selbst schaden, wenn wir immer nur den eigenen Vorteil suchen. Das Gesundheitssystem ist sehr komplex, wir müssen es immer wieder gut erklären. Die Artikel im Beobachter tragen dazu bei.
Sie setzen auf Dialog. Aber fehlt da nicht eine entscheidende Stimme am Verhandlungstisch, nämlich die Stimme der Prämienzahlenden?
Das sehe ich nicht so. Die Prämienzahlenden und die Patientinnen werden immer einbezogen. Sie können als Bürgerinnen und Bürger an der Urne abstimmen, etwa wenn es um die Spitalplanung in ihrem Wohnkanton geht. Sie können auch ihre Krankenkasse frei wählen. Neu habe ich auch die Patientenorganisationen mit an den runden Tisch zur Kostendämpfung geholt, damit sie ihre Sichtweise einbringen können. Wir müssen gemeinsam die Kosten in den Griff bekommen. Denn die Prämien steigen letztlich, weil die Kosten steigen.
«Wir können den Patienten nicht die alleinige Verantwortung zuschieben.»
Elisabeth Baume-Schneider, Bundesrätin
Wenn Sie die Kosten ansprechen: Letzten Herbst haben Betreiber von Permanencen öffentlich behauptet, sie könnten wirtschaftlich nicht überleben. Das Bundesgericht hatte ihnen verboten, sogenannte Notfall- und Inkonvenienzpauschalen zu verrechnen. Dokumente zeigen aber, dass die Betreiber steuerbare Einkommen von teils deutlich über einer halben Million erzielen. Ist das in Ordnung?
Das sind schon sehr hohe Einkommen. Ich verstehe, wenn sich die Leute darüber aufregen. Das sind aber Einzelfälle. Die Krankenkassen haben angekündigt, sich die Fälle genau anzuschauen, in denen die Pauschalen möglicherweise nicht korrekt verrechnet wurden. In der Pflicht sind auch die Kantone. In Neuenburg etwa gab es keine Probleme mit unzulässig verrechneten Notfallpauschalen, weil der Kanton von vornherein klare Regeln vorgegeben hat. Ich finde es aber auch sehr wichtig, sich die Löhne im gesamten Gesundheitsbereich anzuschauen, zum Beispiel in der Pflege. Bei der Betreuung von Angehörigen entwickeln sich gerade neue private Geschäftsmodelle. Auch da besteht die Gefahr von Missbräuchen. Da braucht es vor allem Transparenz, damit sichergestellt ist, dass in allen Bereichen korrekt abgerechnet wird.
Sie stellen die Einkommen der Betreiber von Permanencen mit den Löhnen in der Pflege in einen Zusammenhang. Meinen Sie, dass im einen Bereich die Bezahlung sinken sollte, während sie im anderen Bereich steigt?
Es geht in allen Berufen und Bereichen um dasselbe: Es braucht einen angemessenen Lohn. Im Notfalldienst wie auch in der Pflege. Letzteres hat auch das Stimmvolk mit der Pflegeinitiative zum Ausdruck gebracht. Und gleichzeitig muss verhindert werden, dass es zu übermässigen oder missbräuchlichen Abrechnungen kommt.
«Medizinisches Personal wird teils angegriffen»: Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider
Transparenz ist auch beim Preisüberwacher ein Thema. Er hat enorme Preisunterschiede bei Implantaten aufgedeckt. Für die gleiche Knieprothese zahlt ein Spital 929 Franken, ein anderes 5700 Franken. Unterstützen Sie seine Forderung, ein nationales Register mit den tatsächlich bezahlten Preisen zu schaffen?
Ein gewisser Preisunterschied ist nachvollziehbar. Die einen Spitäler beziehen grössere Mengen als die anderen und erhalten Mengenrabatt. Ob ein Register die richtige Lösung ist, muss geprüft werden. Daten erlauben es, Vergleiche anzustellen. Es geht nicht darum, zu sagen, dass dieses Spital besser ist als jenes, sondern darum, zugunsten unserer Bevölkerung die Qualität und Effizienz zu verbessern. Übrigens war auch der Preisüberwacher an unserem runden Tisch.
Die Digitalisierung birgt ein hohes Potenzial für mehr Transparenz und Effizienz. Wo steht das Projekt Digisanté des Bundesrates?
Wir sind eine Nation mit hoher Kreativität in allen Bereichen. Umso erstaunlicher ist es, dass wir zur Digitalisierung offenbar ein etwas gespanntes Verhältnis haben. Das Gesetz zur elektronischen Identität etwa wurde vor vier Jahren deutlich abgelehnt. Bei den Bankkarten oder den unzähligen anderen Karten, beispielsweise der Detailhändler, haben wir diese Vorbehalte nicht. Auch beim elektronischen Patientendossier – einem zentralen Teil von Digisanté – sind wir noch nicht da, wo wir sein sollten. Ich möchte alle dazu ermuntern, ein elektronisches Patientendossier zu eröffnen. Das hat viele Vorteile. Zum Beispiel weil dieselben Daten nicht immer wieder von neuem erfasst werden müssen. Das beseitigt Doppelspurigkeiten, es steht mehr Zeit für die eigentliche Behandlung zur Verfügung.
«Ich fühle mich nicht unter Druck gesetzt»: Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider
Manche Ärzteorganisationen machen eine übersteigerte Anspruchshaltung der Patientinnen und Patienten für die Kostenexplosion verantwortlich. Es gebe die Forderung nach einer maximalen statt der optimalen Medizin. Teilen Sie diese Kritik?
Ich denke, wir sollten gegenüber den Patientinnen keine moralisierende Haltung einnehmen. Es reicht nicht, Leute mit der Bemerkung abzuspeisen, sie sollen sich einfach mehr bewegen, es werde dann schon gut. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist sehr wichtig und setzt ein hohes Vertrauen voraus. Wir können den Patienten nicht die alleinige Verantwortung für das Kostenwachstum zuschieben. Wenn der Hausarzt rät, einen Spezialisten aufzusuchen, verlässt man sich darauf, dass dies sinnvoll ist. Dann ist es sehr schwer, Nein zu sagen. Die Patientin oder der Patient verfügt ja nicht über das gleiche Expertenwissen wie die Ärztin.
Also ist es de facto schlicht unmöglich, die Kosten zu senken?
Nein, es ist möglich, die Kosten zu dämpfen. Das zeigt das Beispiel der jährlichen Senkung der Medikamentenpreise. Auch mein Vorgänger Alain Berset hat signifikante Einsparungen erzielt. Nur sind eben nicht die Patienten allein für die Senkung verantwortlich, sondern alle Beteiligten. Die Reorganisation des Spitals in Biel ist ein gutes Beispiel. Der stationäre und der ambulante Bereich wurden getrennt. Am Bahnhof ist ein medizinisches Zentrum für Behandlungen entstanden, die ohne Übernachtung im Spital erfolgen können. Der Spitalneubau sieht weniger Betten vor, damit können Kosten eingespart werden.
Man könnte einwenden, dass die Niederschwelligkeit des Angebots wiederum die Nachfrage ankurbelt.
Das glaube ich nicht. Die Grundversorgung muss in der ganzen Schweiz gestärkt werden. Wenn der Zugang zu ärztlicher Versorgung gut ist, hilft das, Kosten zu sparen, weil Krankheiten früher erkannt werden können. Beispielsweise mit der Brust- oder Darmkrebsvorsorge.
«Wir brauchen verständliche Arztrechnungen.»
Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider
Eine wirksame Massnahme wäre auch die Zulassung von Avastin gegen die sogenannte Makuladegeneration der Augen. Roche beantragt die Zulassung nicht. Mutmasslich, weil es bei gleicher Wirksamkeit zehnmal weniger kostet als das zugelassene Lucentis. Gemäss Bundesamt für Gesundheit wären Einsparungen von 150 Millionen Franken möglich. Werden Sie dieses Dossier weiter verfolgen?
Ja, das werde ich tun. Nicht nur dieses Dossier, sondern ganz allgemein das Thema jener Medikamente, die im Ausland viel günstiger sind. Wir müssen aber auch sehen, dass der Bundesrat eine Möglichkeit schaffen wollte für die Anwendung von Avastin gegen die Makuladegeneration in der Schweiz. Das Echo aus dem Parlament war sehr negativ.
Viele sehen das als eindrückliches Beispiel, wie mächtig die grossen Schweizer Pharmakonzerne sind. Wie laufen solche mutmasslichen Druckversuche ab? Bekommen Sie da einfach einen Anruf aus Basel?
Nein, das passiert subtiler. Ich fühle mich aber nicht unter Druck gesetzt. Und es ist auch nicht so, dass die Industrie alles blockiert. Bei den Mengenrabatten auf den Medikamentenpreisen, die Teil sind des zweiten Kostendämpfungspakets und Einsparungen von 300 bis 400 Millionen Franken pro Jahr bringen, konnten wir uns durchsetzen. Auch dank der ausgezeichneten Verhandlungsführung des Bundesamtes für Gesundheit.
Viele Leserinnen und Leser berichten uns von falschen Arztrechnungen. Doch die Kontrolle ist schwierig, weil die Arztrechnungen so kompliziert sind. Was sagen Sie dazu?
Wir brauchen verständliche Rechnungen, damit die Patientinnen und Patienten die Krankenkassen bei ihrer Kontrollarbeit unterstützen können. Wir müssen aber auch dem System vertrauen und dürfen nicht alle Ärzte pauschal unter Betrugsverdacht stellen. Die Mehrheit der Ärztinnen und Ärzte rechnet korrekt ab.
Das Schweizer Gesundheitssystem verschlingt mittlerweile mehr als 100 Milliarden Franken pro Jahr. Da ist enorm viel Geld im System. Zu viel?
Das Gesundheitswesen ist ein Markt, aber wir dürfen es nicht wie jeden anderen Markt behandeln. Die Gesundheit ist nicht irgendein Produkt. Die korrekte Berufsausübung im Interesse der Patienten muss im Vordergrund stehen. Wir müssen uns aber auch um diejenigen kümmern, die uns im Krankheitsfall pflegen. Viele junge Menschen brechen ihre Ausbildung wegen der schwierigen Arbeitsbedingungen ab. Medizinisches Personal wird teils gemobbt und angegriffen. Viele, die im Gesundheitswesen arbeiten wollen, beginnen ihre Ausbildung mit grossem Engagement, Empathie und positiver Energie. Wir müssen dafür sorgen, dass sie diesen Elan nicht verlieren.