Leben Gläubige tatsächlich länger?
Kirchgänger sind mit einer robusteren Abwehrkraft gesegnet, und ihnen soll ein biblisches Alter beschieden sein. Das behaupten US-Forscher. Fakt oder Verblendung?
Veröffentlicht am 5. Februar 2019 - 15:13 Uhr,
aktualisiert am 31. Januar 2019 - 14:58 Uhr
Wer alt werden will, sollte evangelische Theologie studieren. In unserem Kulturkreis haben protestantische Pfarrer nämlich die höchste Lebenserwartung. Aber auch Mönche, Nonnen und katholische Pfarrer erreichen oft ein biblisches Alter.
Dass reformierte Diener Gottes die katholischen bei der Lebensdauer übertreffen, liegt wohl daran, dass sie neben dem Glauben meist auch noch eine Ehefrau haben. Das lässt den Schluss zu, dass es wohl nicht der Glaube allein ist, der das Leben verlängert.
Trotzdem versuchen immer wieder Medizinforscher in den USA, Gottes positives Wirken auf die Gesundheit der Gläubigen naturwissenschaftlich zu beweisen: Mehr als 1200 Studien haben in den vergangenen Jahren bestätigt, dass Menschen, die an eine höhere Macht glauben, auch eine höhere Lebenserwartung haben.
Denn wer regelmässig zur Kirche gehe, so die frohe Kunde, habe im Alter ein robusteres Immunsystem , einen niedrigeren Blutdruck und weniger Atembeschwerden.
Den katholischen Kirchgängern helfe zusätzlich der Weihrauch, um die Abwehr auf- und Entzündungen abzubauen. Und eine Studie der Uni Georgetown hat ergeben, dass Religion bei drei Vierteln der Testpersonen den Heilungsprozess von Krankheiten beschleunigte.
Den meisten dieser US-Studien ist allerdings mit Vorsicht zu begegnen: Sie sind oft von religiösen Instituten durchgeführt und von der John Templeton Foundation mitfinanziert worden – einer Stiftung, deren Gründer, der gläubige Geschäftsmann Sir John Templeton, in der Wissenschaft eine «Goldmine zur Wiederbelebung der Religion im 21. Jahrhundert» sah.
Die Resultate werden von Wissenschaftlern in Europa entsprechend kritisch beurteilt. «Der eigene Glaube verführt die Wissenschaftler dazu, die Daten falsch zu interpretieren. Da wird wild gerechnet, bis es passt», sagt Eckart Straube, Therapeut und ehemaliger Professor für Psychologie an der Uni Jena.
«Glauben vermittelt ein Gefühl der Kontrolle und damit psychische Stabilität.»
Eckart Straube, deutscher Psychologe und Psychotherapeut
Straube hat sich in seinem Buch «Heilsamer Zauber» intensiv mit der Wirkung von Spiritualität auf Gesundheit und Immunsystem befasst. Nur ein geringer Prozentsatz der Studien genüge wissenschaftlichen Kriterien, sagt er.
Eckart Straube sieht vor allem irdische Gründe hinter der Heilkraft der Religion: «Glauben vermittelt ein Gefühl der Kontrolle und damit psychische Stabilität.» Die Gläubigen werfe nicht jedes Missgeschick gleich aus der Bahn, «sie können es einer höheren Macht zuschreiben».
Genauso wie ein trainierter und gesund ernährter Körper sich positiv auf das Immunsystem auswirkt, kommt auch das Gefühl, in einer höheren Macht aufgehoben zu sein, unserer Immunabwehr zugute. Das ist wie beim Placeboeffekt. «Man weiss», so Straube, «dass allein der Glaube an ein Schmerzmittel die Freisetzung körpereigener Schmerzblocker auslöst. Auch das Vertrauen auf eine höhere Macht kann solche physischen Prozesse in Gang setzen.»
Wahrscheinlich sei der religiöse Glaube im Vergleich zum Placebo gar die stärkere Pille: «Glauben ist mit sehr viel mächtigeren imaginativen und emotionalen Elementen sowie stärkerer Ergriffenheit verbunden als etwa eine ärztliche Behandlung.»
«Der Glaube oder die Spiritualität kann einen Einfluss auf die Gesundheit haben», sagt auch Simon Peng-Keller. Der Theologe und Professor für Spiritual Care an der Uni Zürich relativiert allerdings: «Die Wirkung von Religiosität auf die Gesundheit ist vielschichtig. Man muss mehrere Faktoren berücksichtigen, die sich ergänzen.» So könnte eine grössere Hilfsbereitschaft, wie sie sich bei vielen religiösen Gemeindemitgliedern findet, dem Leben mehr Sinn geben und somit Depressionen vorbeugen.
«Menschen, die spirituell leben, pflegen oft auch einen gesünderen Lebensstil, haben einen regelmässigen Lebensrhythmus», ergänzt er. Wichtig seien dabei die sozialen Kontakte. «Ein Effekt, den allerdings auch regelmässige Treffen eines Bienenzüchtervereins auslösen können.»
Tatsächlich hat eine dänische Studie gezeigt, dass Gläubige, die die Gottesdienste nur per Radio oder TV verfolgten, keine höhere Lebenserwartung hatten als Nichtgläubige. Die einfache Erklärung: Wer zur Kirche geht, kennt mehr Leute als ein Stubenhocker . Und es ist bekannt, dass viele Sozialkontakte positiv auf das Immunsystem, das seelische Wohlbefinden, die Gesundheit und somit auf die Lebenserwartung wirken. Das Experiment zeigte gar, dass man mit einem kleineren sozialen Netz deutlich leichter einen Schnupfen bekommt
Einsamkeit schwächt das Immunsystem – und zwar deutlich: Das Gefühl von Einsamkeit ist mindestens so schädlich wie 15 Zigaretten am Tag. Der Grund: Wer sich ausgeschlossen und nicht dazugehörig fühlt, erlebt chronischen Stress. Dieser wirkt sich negativ auf den Hormonhaushalt aus und schränkt die Immunabwehr ein.
Laut mehreren Studien kann Einsamkeit zudem zu Bluthochdruck, Herzerkrankungen, Depressionen, Schlafstörungen und einer früher einsetzenden Altersvergesslichkeit führen. Auch der Mangel an positiven Berührungen ist schlecht für das Immunsystem. Der Körper schüttet bei angenehmen Berührungen das sogenannte Kuschelhormon Oxytocin aus, produziert verstärkt körpereigene Opiate und drosselt die Produktion von Stresshormonen wie Cortisol.
Stress ist also einer der grössten Saboteure des Immunsystems. Und hier wirkt dann auch die Kehrseite des Glaubens, besonders desjenigen von Anhängern sektiererischer Fundamentalisten. «Wer ein negatives Gottesbild hat, das eines bestrafenden Gottes, bei dem löst der Glaube Stress aus, weil er den hohen Ansprüchen seines Gottes nicht gerecht werden kann und dessen Strafe fürchten muss», erklärt Spiritual-Care-Professor Simon Peng-Keller.
Auf der Erkenntnis, dass Stress der Feind des Immunsystems ist, bauen diverse Entspannungsmethoden und spirituelle Angebote auf. Vom sanften autogenen Training bis zur strengen Zen-Meditation gibt es ein reiches Angebot für Seelenwellness.
Für Nicole Joller vom Institut für Experimentelle Immunologie der Uni Zürich ist unbestritten, dass das Immunsystem auf Prozesse im Nervensystem reagiert. «Starke Signale auf der einen Ebene führen zu Veränderungen auf der andern: Das Gehirn kann das Immunsystem beeinflussen.» Die Nerven tauschen also Signale, sogenannte Botenstoffe, untereinander aus, die auf das Immunsystem wirken.
Die Menschen in der Schweiz sind immer weniger religiös; viele haben sich von den grossen Religionsgemeinschaften abgewandt . Doch das Bedürfnis nach Spiritualität ist geblieben. Viele oft jahrtausendealte Techniken ermöglichen nicht nur spirituelle Erfahrungen. Sie stärken Muskeln, Herz und Immunsystem, entspannen Körper und Geist.
Für Eckart Straube ist der Boom solcher Techniken eine Gegenreaktion zur Dominanz rationaler Bewältigungsstrategien in modernen Zivilisationen. Simon Peng-Keller bringt es auf den Punkt: «Viele Menschen basteln sich heute einen eigenen Mix aus Spiritualität zusammen.» Warum nicht, wenn es entspannt und dem Immunsystem nützt?
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