Was Entzündungen in unserem Körper auslösen
Chronische Entzündungen können das Gedächtnis schwächen, Angst fördern und schlapp machen. Genügend Schlaf und Sport helfen dagegen.
Veröffentlicht am 14. Februar 2020 - 10:32 Uhr
Ursula Heinrich* lässt den Kopf auf den Schreibtisch sinken. «Heute will es wieder nicht klappen: keine Motivation, keine Konzentration», sagt sie. «Das liegt an meinem Immunsystem.» Die Zürcherin leidet an einer Autoimmunerkrankung. «Wenn meine Entzündungswerte steigen, geht es mit dem Denkvermögen bergab.»
Das Immunsystem setzt bei Entzündungen Signalstoffe frei. Diese können bestimmte Vorgänge im Gehirn beeinflussen – und so das Denken und die Konzentration. Auch auf das Empfinden und Verhalten wirken sie sich aus. Das kann zur Herausforderung im Alltag werden. Betroffen sind meistens Personen mit Übergewicht, Asthma und Diabetes. Auch chronische Sinusitis und bestimmte Darmerkrankungen bringen leichte, aber anhaltende Entzündungen mit sich, ebenso Allergien und Autoimmunerkrankungen.
Die Entzündung oder Inflammation ist ein Verteidigungsmechanismus des Körpers. Ohne sie würden Infektionen und Wunden nicht heilen . Problematisch wird es, wenn der Körper Entzündungsprozesse über längere Zeit aufrechterhält. «Das hat negative Auswirkungen auf die vielfältigen kognitiven Leistungen des Gehirns – darunter auch auf das Langzeitgedächtnis», so die koreanische Neurowissenschaftlerin Ye-Ha Jung. Chronische Entzündungsherde könnten dazu führen, dass man Begriffe vergisst. Immerhin: «Die Ausmasse dieser Gedächtnislücken gehen nicht so weit, dass man von einer kognitiven Beeinträchtigung sprechen könnte.»
Chronische Entzündungen können das Denken und Fühlen auch anderweitig beeinflussen. Eine Untersuchung der Texas Christian University zeigt: Wer höhere Entzündungswerte hat, entscheidet in Finanzdingen öfter übereilt und unbedacht. «Entzündungsprozesse scheinen unsere Impulskontrolle zu schwächen und uns ungeduldiger zu machen», bilanzieren die Forscher.
Auch wenn eine vertraute Situation plötzlich nervös macht, könnten Immunprozesse eine Rolle spielen. Forscher der Ohio State University zeigten an Mäusen, dass bestimmte Immunstoffe mit entzündlicher Wirkung auch zurückhaltendes, unruhiges und ängstliches Verhalten fördern können. Wie weit das auch für den Menschen gilt, ist unklar.
Doch was nützt das Immunsystem zur Verteidigung, wenn es zugleich zentrale Funktionen wie Denken, Handeln und Empfinden negativ beeinflusst? Diese Frage sei falsch gestellt, findet Roland von Känel, Direktor der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik am Universitätsspital Zürich. «Psycho-Neuro-Immunologen fragen eher: Welche Vorteile brachten bestimmte Immunreaktionen im Laufe der Menschheitsgeschichte?»
Eine mögliche wissenschaftliche Erklärung: Das Immunsystem hat sich über mehrere Hunderttausend Jahre evolutionär entwickelt und den Lebensbedingungen der frühen Menschen angepasst. Ressourcen wie Nahrung konnten damals knapp sein, der Bedarf nach ihnen gross – besonders, wenn der Körper zugleich Wunden und Infektionen mit grossem Energieaufwand bekämpfen musste. Da war es womöglich sinnvoll, rasch und impulsiv zu reagieren, wenn plötzlich unverhofft Nahrung in Reichweite kam.
Auch Angst, die zu Vorsicht und Zurückhaltung bewegen konnte, brachte tendenziell einen evolutionären Vorteil: Der kranke oder geschwächte Mensch ging Konflikten
aus dem Weg und schützte so seine Ressourcen.
Heute verdrängen wir solche Signale oft. «In unserer schnelllebigen und häufig oberflächlichen Lebensrealität neigen wir dazu, diese überlebensnotwendigen Äusserungen von Immunreaktionen nicht mehr gebührend wahrzunehmen», sagt Christian Schubert, Psycho-Neuro-Immunologe an der Medizinischen Universität Innsbruck.
«Oft ist es uns nicht bewusst, wenn uns das Immunsystem schützen will.» Umso wichtiger sei es, in sich hineinzuhorchen und ungewohnte Empfindungen, Konzentrations- und Gedächtnisschwächen nicht einfach zu ignorieren. «Gerade wenn solche Symptome lange anhalten, sind sie eine Warnung, die wir ernst nehmen sollten», betont Schubert. «Sie zeigen uns: Wir sind überfordert, wir brauchen Ruhe
und
Entspannung.»
Es sei generell wenig vorteilhaft, solche Symptome mit entzündungshemmenden Medikamenten anzugehen. «Wir stoppen damit zwar pro-inflammatorische Mechanismen. Aber die Folgen für die Gesundheit sind unvorhersehbar und können problematisch werden», sagt der Immunologe. «Denn die Ursache – etwa das Bedürfnis nach Ruhe – ist nach wie vor präsent.»
Entzündungsherde können auch anders bekämpft werden. «Vor allem mit genügend Schlaf », rät Roland von Känel vom Unispital Zürich. «Das wirkt sich intensiv und positiv auf das Immunsystem aus.»
Auch körperliche Bewegung sei besonders förderlich. Fünfmal pro Woche eine halbe Stunde mässige Bewegung oder dreimal 25 Minuten intensives Training könne Entzündungsprozesse eindämmen – und vor körperlichen wie auch psychischen Stresserscheinungen schützen. «Atem- und Achtsamkeitsübungen unterstützen das Immunsystem und die Psyche ebenfalls.»
*Name geändert