Sitzungen
In seiner Kolumne bewertet Beobachter-Kolumnist und Komiker Patrick «Karpi» Karpiczenko alles Mögliche mit bis zu fünf Sternen. Diesmal: Sitzungen.
Veröffentlicht am 5. April 2024 - 15:01 Uhr
Vor 12’000 Jahren entwickelte der Mensch den Ackerbau – und eine Woche später fand die erste Sitzung statt. Schliesslich musste man all das Säen und Pflügen koordinieren, die Tierzucht planen und die Prozesse optimieren. Also setzten sich damals erstmals prähistorische Menschen an einen Tisch und besprachen, wer was als Nächstes anpacken sollte.
Das Konzept Sitzung setzte sich durch und verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Aus Jägern und Sammlern wurden Verwalter und Delegierer. Die Spezies Mensch wurde sesshaft, und die Ära des Homo Sesselfurzus begann. Neue archäologische Funde belegen: Neben Mühlsteinen und Steinäxten wurden auch kleine Steinplatten mit eingemeisselten Flussdiagrammen gefunden; die Urahnen unserer heutigen Post-its.
Farbige Filzstifte verbessern das Arbeitsklima
Als mit der Erfindung der Sitzung auch erste Sinnfragen aufkamen, entstanden bald darauf Kunst, Kultur und Religion. Gerade die Religion erwies sich als besonders nützlich, denn nach einer Arbeitswoche voller Ackerbau und Sitzungen sehnten sich unsere Vorfahren nach einem Gottesdienst, einer Art von spiritueller Sitzung.
Seit der Jungsteinzeit hat sich wenig verändert. Die Steinplatten wurden durch Magnettafeln ersetzt, und die Einführung von farbigen Filzstiften verbesserte das Arbeitsklima. Aber Sitzungen dominieren noch immer unseren Alltag. Wir halten fest an ihnen, unabhängig vom Zweck oder von der Lust der Teilnehmenden.
Und so sitzen wir zusammen in schlecht gelüfteten Sitzungszimmern und schauen einander beim Altern zu.
Und das, obschon die meisten Sitzungen nachweislich unnötig und zu teuer sind. Der Grossteil der Zeit wird für die Installation von Beamern verwendet oder für das gemeinsame Warten auf die Führungsperson, die zu spät kommt, weil sie in einer anderen Sitzung hängenblieb.
Und so sitzen wir zusammen in schlecht gelüfteten Sitzungszimmern und schauen einander beim Altern zu. Sitzungen sind ein Eingeständnis des Mittelmasses. Kreativität wird gehemmt und Faulheit kaschiert. Die einzigen glücklichen Menschen in Sitzungen sind Eltern, die sich im Büro von der Kindererziehung erholen.
Alternativen wären zu anstrengend
Es gibt kein Entkommen, und wegen moderner Videokonferenzen müssen wir jetzt von überall auf der Welt aus an langweiligen Sitzungen teilnehmen.
Natürlich gäbe es Alternativen zu Sitzungen – aber die sind alle zu anstrengend. In einer Welt ohne Sitzungen müssten Angestellte selbständig und mündig sein. Hierarchien müssten flach und flexibel sein. Menschen müssten Eigenverantwortung übernehmen, und Arbeit könnte Spass machen. Und wer will das schon?
Meine Bewertung für Sitzungen: ☆☆☆☆☆