Sei es im Job, in Beziehungen, in der Freizeit – Geld bestimmt unser Leben, ist in unserem Alltag überall präsent.

Und doch gibt es kaum ein anderes Thema, worüber so nachdrücklich geschwiegen wird. Wie viel verdient eigentlich mein Chef? Wie hoch ist der Kontostand meiner besten Freundin? Wie steht es um das Ersparte meiner Nachbarn? 

Nachfragen wäre unverschämt – so haben wir es gelernt.

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Nur zu gern wüssten wir das alles. Doch nachzufragen, wäre unverschämt, das wissen wir, so haben wir es gelernt – damals, als Geld in unserem Leben eine Rolle zu spielen begann.

Mit pochendem Herzen handeln wir seither hinter verschlossenen Türen mit unserem Chef den Lohn aus. Die Quittung für das viel zu teure Sofa legen wir säuberlich und für fremde Augen unauffindbar in einem Büroordner ab. Das Preisetikett des Weihnachtsgeschenks für den Göttibub kratzen wir vor dem Einpacken pedantisch vom Plastik.

Collage mit Babykleidern an einer Wäscheleine, einem Hund, einer Zigarette, einem Smartphone, einer Kuh, einer Heugabel und einem Volleyball.

Stolz, Scham, Neid – beim Geld kommt alles zusammen.

Quelle: Freepik, Adobe Firefly, KI-generiert, Wikimedia, Illustration Anne Seeger und Andrea Klaiber

Nicht nur diese Heimlichtuerei verblüfft. Geldthemen rufen auch tiefe Urgefühle in uns wach. Stolz – über das durch harte Arbeit verdiente Geld. Sicherheit – wenn uns ein finanzielles Polster das Gefühl von Stabilität gibt. Scham und Angst – vor dem Verlust des sozialen Status. Neid – wenn andere mehr haben als wir.

Einkommen erhitzen die Gemüter, zeigen die Reaktionen auf «Die Abrechnung».

Wie stark das Thema auch die Beobachter-Leserschaft bewegt, zeigte sich mit der Lancierung der Serie «Die Abrechnung» vor einem Jahr. In dieser Onlinerubrik legen Menschen ihr Budget offen.

Darin verraten Studierende, eine Portfolio-Managerin, ein Lehrer, eine Grossfamilie oder auch Rentner, wie hoch ihr monatliches Einkommen ist und wofür sie es ausgeben.

«Die Abrechnung»: Sechs Fälle von 4400 bis 31’800 Franken pro Monat

Da ist zum Beispiel Nina Gut, die in Wirklichkeit anders heisst. Zusammen mit ihrem Mann kommt sie auf ein monatliches Einkommen von 15’700 Franken. Sie ist 35 Jahre alt, Mutter von drei kleinen Kindern und arbeitet in einem 60-Prozent-Pensum bei einer Rechtsschutzversicherung. Ihr Mann ist Geschäftsführer seines eigenen IT-Unternehmens.

Geschimpfe auf das Geld der anderen

Die Familie gibt alles in allem pro Monat gut 14’100 Franken aus. Den grössten Kostenpunkt stellt mit 3880 Franken die Miete dar, für eine Fünfzimmerwohnung in der Stadt Zürich. Zurück bleibt ein monatlicher Sparbetrag von 1557 Franken.

«… da stimmt etwas nicht.»

Leserreaktion auf «Die Abrechnung»

Obwohl dieses Einkommen für eine fünfköpfige Familie in der Stadt Zürich nicht exorbitant hoch ist, ist das Geschimpfe der Leserschaft laut.

«Von einem derart hohen Einkommen kann ich nur träumen …», «Wie kommt es, dass die Familie bei einem solchen Einkommen noch einen Zustupf für die Kinderbetreuung bekommt?», «Die Steuern scheinen mir definitiv zu tief, da stimmt etwas nicht», lauten die Reaktionen.

Omnipräsenz – und Geheimniskrämerei

Noch heftiger waren die Reaktionen auf die Portfoliomanagerin, die auf ein monatliches Nettoeinkommen von 31’800 Franken kommt. Ihre Ausgaben belaufen sich auf 15’500 Franken, jeden Monat kann sie 16’300 Franken auf die Seite legen.

«Will sich da jemand einfach wichtig machen?»

Leserreaktion auf «Die Abrechnung»

Ein Leser schreibt dazu: «Bin ich der Einzige, den dieser dekadente Artikel anwidert, oder ist das eine bewusste Provokation?» Er erhält Zustimmung: «Ich habe mich nicht getraut, es so direkt zu schreiben, aber mein erster Gedanke war auch: Will sich da jemand einfach wichtig machen?»

Die erhitzten Gemüter zeigen: Geld ist ein explosives Thema. Gleichzeitig herrscht diese erstaunliche Diskrepanz zwischen der Omnipräsenz des Geldes in unserem Leben und seiner gleichzeitigen Tabuisierung. Warum ist das so?

Geld gleich Glück?

Mathias Binswanger hat eine einfache Antwort auf diese Frage: «Weil wir Geld zum Erfolgsstandard Nummer eins gemacht haben.» Er ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und widmet sich unter anderem dem Zusammenhang zwischen Glück und Einkommen.

«Früher hatten die Menschen ein viel kleineres Einkommen, die Mehrheit war arm. Im Zentrum standen das Überleben und das persönliche Wohlbefinden.»

«In der Schweiz gilt: Wer wenig Geld hat, hat versagt.»

Mathias Binswanger, Wirtschaftsprofessor

Erst ab einem gewissen Wohlstand beginne der Mensch, sich zu überlegen, warum er nicht gleich viel hat wie der andere, und nach Strategien zu suchen, dies zu ändern. «In der Schweiz ist Geld heute der wichtigste Vergleichsmassstab, um zu entscheiden, wer es geschafft hat und wer nicht. Wer wenig Geld hat, hat versagt.»

Collage mit Wohnmobil, Vespa, Brille in einem Etui, Schüssel mit asiatischem Essen und ein Hockeyschläger

Schweizer Understatement: Geld haben, nicht zeigen

Quelle: Freepik, Adobe Firefly, KI-generiert, Wikimedia, Illustration Anne Seeger und Andrea Klaiber

Die grosse Tabuisierung des Themas habe mit seiner Ambivalenz zu tun, sagt Binswanger. «Einerseits wollen wir Gutmenschen sein und Geld nicht so wichtig nehmen, wissen aber insgeheim, dass Geld einen riesigen Stellenwert hat.»

«Finanzen sollten wegen ihrer Bedeutung im Alltag mehr zum Thema werden.»

Selina Lehner, Studienautorin und Dozentin ZHAW

Gleichzeitig sagen 74 Prozent der Befragten, selbst mit guten Bekannten nicht gern über die finanzielle Situation zu sprechen. Studienautorin Selina Lehner findet das schade: «Denn Finanzen sollten – auch aufgrund ihrer Bedeutung für das alltägliche Leben – vermehrt thematisiert werden.»

Warum sich nicht gegenseitig mit Tipps unterstützen?

Tatsächlich böte das viele Vorteile: Man würde sich gegenseitig mit Spar- oder Anlagetipps unterstützen. Konflikte um die Nachlassplanung liessen sich vermeiden. Das Selbstbewusstsein in Lohnverhandlungen würde gestärkt.

Doch Ökonom Binswanger warnt: «Zu viel Transparenz macht nicht unbedingt glücklicher. Gerade bei den Löhnen geht es vielmehr darum, dass man selbst das Gefühl hat, eine faire Bezahlung zu erhalten.»

Die Zufriedenheit erhöhe sich nicht, wenn alle Löhne offengelegt würden. «Das würde nur zu einer unnötigen Vergleicherei führen.»

Lohn-Maulkorb: Dürfen Angestellte übers Gehalt reden?