Düstere Jahre
Die Gesellschaft wollte sie «erziehen», doch die Kinder wurden systematisch gedemütigt, verprügelt, missbraucht. Jetzt berichten Betroffene, was ihnen angetan wurde.
aktualisiert am 28. September 2010 - 15:14 Uhr
«In wenigen Sekunden lernte ich, dass ich mir mit Gewalt Respekt verschaffen konnte.»
Karin Bürgisser wurde beim Baden fast ertränkt
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Samstag ist Badetag. Wöchentlicher Höhepunkt der Demütigungen Anfang der siebziger Jahre im Töchterinstitut «auf der Steig» Schaffhausen. Die Mädchen müssen sich halbnackt vor dem Badezimmer aufstellen. Auf Kommando treten sie ein. Links die Waschbecken, vorne die Toiletten, rechts eine Sitzbadewanne, davor Fräulein Arnet, die Erzieherin mit der rabenschwarz gefärbten Ponyfrisur. Mit steinerner Miene fertigt sie jedes der Mädchen ab, vom siebenjährigen Kind bis zum 13-jährigen Teenager.
In der einen Hand die Seife, in der anderen den Waschlappen. «Hinstellen!», brüllt sie, reisst die Mädchen an Armen, Beinen, Haaren, verteilt Hiebe, schert sich einen Deut um die Wassertemperatur. «Beine auseinander!» Wer Gegenwehr leistet oder sich nicht zwischen den Beinen einseifen lassen will, spürt Fräulein Arnets harte Hand. Schluchzend verlassen die Mädchen das Badezimmer. «Die Nächste!»
Karin Bürgisser, damals Karin Hefty, kommt 1970 ins Töchterinstitut, als uneheliches Kind einer 19-Jährigen. Die ersten Jahre wuchs das Mädchen bei seinen Grosseltern auf. Mit fünf holte ihre Mutter sie zurück, aber in ihrer neuen Familie war die Kleine ein Störfaktor. Als sie elf war, steckte die Mutter sie ins «Institut» nach Schaffhausen. Ein «Badetag» ist der inzwischen 51-Jährigen in allen Einzelheiten in Erinnerung geblieben: Eines Samstags schickt sie die Erzieherin überraschend in den zweiten Stock. Dort durften die älteren Mädchen eine richtige Badewanne benutzen. Sie schliesst das Badezimmer ab und geniesst es, fern der Erniedrigungen alleine in einer Badewanne zu liegen. Bis die Erzieherin zur Kontrolle erscheint. Sie tobt vor verschlossener Tür. Eingeschüchtert öffnet Karin, die Erzieherin stürmt herein, wirft sich auf das Kind und drückt es so lange unter Wasser, bis es beinahe ertrinkt. «Mir ging die Luft aus. Plötzlich begriff ich, dass ich mich wehren musste, sonst würde sie mich ersäufen.» Die Zwölfjährige kann sich befreien, die Erzieherin ist klitschnass. «In wenigen Sekunden lernte ich, dass ich mir mit Gewalt Raum und Respekt verschaffen konnte.»
Bis weit in die siebziger Jahre benutzten die Vormundschaftsbehörden den dehnbaren Begriff der «Verwahrlosung» als Disziplinierungsmittel für Familien, die sich nicht gesellschaftskonform verhielten. Ins Heim kamen sogenannte Sozialwaisen. Uneheliche Kinder, deren Mütter gezwungen waren, einer Arbeit nachzugehen. Kinder aus zerrütteten Verhältnissen. Kinder aus geschiedenen Ehen. Kinder, die eines gemeinsam hatten: Aus Sicht der Behörden verhielten sich ihre Eltern «pflichtwidrig» und waren nicht willens oder in der Lage, sie vor «Verwahrlosung» zu schützen. Waren Kinder auch nur ansatzweise auffällig, eigensinnig oder aufbegehrend, wurden sie als «schwererziehbar» eingestuft und weggesperrt. Erst der gesellschaftliche Wandel als Folge der 68er Bewegung leitete einen grundsätzlichen Umbruch ein.
Die Zahl der Kinder, die über die Jahrzehnte in Heimen lebten, dürfte in die Hunderttausende gehen. Genaue Statistiken gibt es nicht. Mitte der siebziger Jahre sprach der Bund noch von 60'000 bis 80'000 fremdplatzierten Kindern. Etwa drei Viertel davon lebten in Heimen.
«Sie packten uns von hinten an den Armen, hoben uns hoch und traten mit voller Wucht gegen uns.»
Willy Mischler über die Methoden im Waisenhaus «Mariahilf»
Es ist Anfang der sechziger Jahre im Waisenhaus «Mariahilf» in Laufen, damals Kanton Bern. Willy Mischler mit den blauen Augen ist sieben, und wann es ihn wieder trifft, weiss er nicht. «Man musste nicht unbedingt etwas angestellt haben», sagt er fast 50 Jahre später. «Oft reichte es, wenn man nicht sofort gehorchte.» Dann konnte es zu dem kommen, was in der Sprache der Kinder «geduscht werden» hiess. Eine der Ingenbohler Schwestern und die weltliche Betreuerin schleppen das Kind in den Duschraum und sagen ihm, es solle sich schon mal ausziehen und beten, bis sie zurückkämen. Willy Mischler erinnert sich: «Beim ersten Mal war ich vielleicht fünf, sechs Jahre alt. Als sie wiederkamen, warfen sie mich in die Badewanne und hielten mir die Duschbrause mitten ins Gesicht, das Wasser voll aufgedreht. Ich konnte nicht mehr atmen, ich strampelte wie verrückt, ich geriet völlig in Panik. Ich dachte: ‹Jetzt ist es aus, jetzt sterbe ich.› Das war ihre Lieblingsstrafe.»
Willy Mischler, der aus einer zerrütteten Familie stammt, wird auf Anordnung der Amtsvormundschaft 1960 als Dreijähriger nach Laufen gesteckt und bleibt bis 1969 dort. Über lange Jahre muss er die Strafen über sich ergehen lassen. Halbe Nächte verbringt er eingesperrt im Dunkeln hinter der Tür zum Estrich, weil er nach Lichterlöschen nicht sofort mucksmäuschenstill war. Die Oberarme des Jungen sind gezeichnet von den Abdrücken der Fingernägel seiner Peinigerinnen. «Sie mochten es, uns von hinten an den Armen zu packen, hochzuheben und mit voller Wucht gegen uns zu treten», sagt Mischler heute. «Wir flogen durch die Luft, als seien wir ein fortgekickter Fussball.»
Als die Grossmutter einmal die roten und blauen Stellen an seinen Armen bemerkt, reklamiert sie; die Schwestern verlegen sich danach auf Foltermethoden, die keine Spuren hinterlassen. Einmal, der kleine Willy hält während des obligatorischen Mittagsschlafs seine Augen nicht geschlossen, schleppt ihn die Betreuerin in die Waschküche und stellt ihn kopfüber in einen Putzeimer voll Wasser. Zieht ihn an den Beinen hoch, stellt ihn wieder hinein. Zieht ihn wieder hoch. Immer wieder.
«In der Kirche beteten sie, und zurück im Heim schlugen sie uns mit Knüppel und Rohrstock.»
Maria Magdalena Ischer über die Ingenbohler Schwestern
Offiziell war die katholische Ordensgemeinschaft der Ingenbohler Schwestern, die in der Schweiz zahlreiche Kinderheime führte, der puren Nächstenliebe verpflichtet, der Fürsorglichkeit für Kinder, die ohne Eltern aufwachsen mussten. In einem Wegweiser für die «Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuze» hiess es bereits 1926: «Körperliche Strafen sollen stets mit grosser Vorsicht gegeben werden. Das Schlagen auf den Kopf, auf den Mund oder auf den Rücken, Reissen an den Ohren und Haaren ist für Ordensschwestern unwürdig.»
Maria Magdalena Ischer, die in zahlreichen Heimen die Methoden der Ingenbohler Schwestern zu spüren bekam, sagt: «In der Kirche beteten sie, und zurück im Heim schlugen sie uns mit Knüppel und Rohrstock, bis wir grün und blau waren. Sie wollten Kinder zurechtbiegen, wollten sie brechen, angeblich zu ihrem eigenen Wohl.» Irgendwann hat sie angefangen, sich zu wehren. «Wenn ich geprügelt wurde und den Stock zu fassen bekam, schlug ich zurück. Dann hiess es wieder, ich sei halt ein böses Kind.»
Die Heime trugen Namen wie «Gott hilft», «Paradies», «Hoffnung», «Guter Hirte», «Zur guten Herberge», «Kinderdörfli», und das Motto des Verbands für Schwererziehbare lautete: «Schwererziehbarkeit, von der anderen Seite gesehen, heisst: Geduld, Mut, Vertrauen und immer brennende Liebe.»
In der Realität ist von Liebe wenig zu spüren. Vielerorts werden die Kinder systematisch gedemütigt. 1948 kommt die vierjährige Margot Heutschi ins Kinderheim «Paradies», eine Institution der Heilsarmee in Mettmenstetten ZH. Schon am zweiten Tag muss sie Schläge einstecken, weil sie ins Bett gemacht hat. Sie ist Bettnässerin.
Heute sitzt die 66-jährige Frau auf dem Sofa, neben ihr ein kleinkindgrosser brauner Teddybär. Sie trägt rosa Socken mit Snoopy-Figuren darauf. Als ob sie, mit Teddybär und Kindersocken, ihre geraubte Kindheit beschwören wollte. Zuweilen blickt sie, während sie nach Worten sucht, abwesend zu Boden, stochert in Erinnerungen, um wieder aufzutauchen, mit wachem Blick. «Monatelang musste ich zur Strafe im Flur auf dem harten Holzboden einschlafen.» Jeden Morgen kam die Pflegerin, «eine grosse, starke Frau», prüfte das Laken und versohlte ihr den Hintern. Mit der Zeit hielt Margot freiwillig hin, weil sie wusste, dass sie sowieso drankäme. «Ich hatte mich daran gewöhnt, atmete tief ein, wusste, dass es nach ein paar Minuten vorbei sein würde.»
Über Jahrzehnte arbeiteten Vormundschaftsbehörden, Kinderheime und Erziehungsanstalten in einem Beziehungsgeflecht zusammen, sagt Thomas Huonker, Experte für die Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen wie Kindswegnahmen und Anstaltseinweisungen (siehe Nebenartikel «Die Heime brauchten Zöglinge, die Behörden lieferten sie»). Gisela Hürlimann, die über «versorgte Kinder» an der Uni Zürich ihre Lizentiatsarbeit schrieb, kommt gar zum Schluss: «Die Kindsversorgung wurde wie ein Geschäft gehandhabt.»
Plätze in kirchlichen Heimen waren für die Gemeinden günstiger, ebenso grosse Institutionen mit wenig Personal. Der Aufenthalt im Erziehungsheim Rathausen etwa, von dem ehemalige Zöglinge in der Sendung «DOK» des Schweizer Fernsehens kürzlich erschütternde Erlebnisse erzählten, kostete in den vierziger Jahren 250 bis 500 Franken pro Kind und Jahr. Auf 230 Kinder kamen gerade mal zwölf Erzieher.
«Ich werde den Geruch, das Stöhnen und die Stimme nie in meinem Leben vergessen.»
Eveline Kuster über den ersten sexuellen Missbrauch
Vielerorts war die Vielfalt an sadistischen Ideen beachtlich. Wie ein roter Faden zieht sich aber eines durch Heime, Anstalten und andere Einrichtungen: Prügel. Im Waisenhaus Winterthur war es der «grüne Gang», vor dem die Kinder Angst haben mussten. Eveline Kusters* Blick ist leer, wenn sie erzählt. Wer zu spät zum Essen kam oder jemandem einen Streich spielte, wurde vom Waisenvater in den «grünen Gang» gerufen. Alle wussten, was das bedeutete. Der Waisenvater führte die Kinder in den Keller und schloss ab. Im grün gestrichenen Korridor schlug er zu. Immer auch in den Bauch. Der Waisenvater suchte sich mit Vorliebe jene Kinder aus, die aufmuckten. Eveline Kuster erzählt: «Ich war eines seiner bevorzugten Opfer. Ich war ihm zu rebellisch, zu bockig.» Nach der Prügelstrafe stieg der Waisenvater, ein Liedchen pfeifend, die Treppe hoch. Die Opfer schickte er ohne Essen ins Zimmer.
Über eines haben viele einstige Heimkinder bis heute kaum gesprochen: sexuelle Übergriffe. Als Zwölfjährige darf Karin Bürgisser, die damals im Töchterinstitut Schaffhausen wohnt, im benachbarten Dorf den Kunstturnunterricht besuchen. Einmal fährt der Leiter der Mädchenriege sie zurück. «Unterwegs hielt er an und vergriff sich an mir.» Zurück im Heim, gab sie bekannt, sie werde nicht mehr ins Kunstturnen gehen. Den Grund dafür hat sie niemandem erzählt. Heute sagt sie: «Wem hätte ich das melden sollen? Der Heimleiterin? Dem Jugendstaatsanwalt? Der Mutter, die kaum je zu Besuch kam? Mir hätte ja sowieso niemand geglaubt.»
Eveline Kuster erzählt regungslos die Geschichte, die nicht einmal ihr eigener Sohn kennt: Das Mädchen ist neun Jahre alt, eines Nachts steht der Waisenvater, der sie regelmässig im «grünen Gang» windelweich schlägt, neben ihrem Bett. Er weckt sie und flüstert ihr zu, sie müsse mitkommen. Aus dem Tiefschlaf gerissen, versteht das Mädchen nicht, was vor sich geht. Der Waisenvater geht mit ihr in ein kleines Zimmer nebenan. Niemand sonst im Heim weiss, was sich hinter dieser Tür verbirgt. Niemand hat einen Schlüssel. Nur der Waisenvater. Er nennt das Zimmer «s Chämmerli». Darin steht ein Bett, sonst nichts. In dieser Nacht berührt er das Kind intim, es muss ihn befriedigen, übergibt sich dabei. Fast 50 Jahre später sagt die Frau: «Ich werde den Geruch, das Stöhnen und die Stimme nie in meinem Leben vergessen.»
«Ich hatte mich daran gewöhnt, atmete tief ein, wusste, dass es nach ein paar Minuten vorbei sein würde.»
Margot Heutschi, wegen Bettnässens geprügelt
Doch das Schlimmste steht ihr noch bevor. Einige Wochen später steht der Waisenvater wieder neben ihrem Bett, sie muss mit ins «Chämmerli». Er vergewaltigt sie. Ihr Blick versteinert, wenn sie erzählt. «In dieser Nacht ging ein Wandel in mir vor.» Eveline duscht sich in der Folge oft, schrubbt sich immer wieder blutig, will den Geruch des Waisenvaters loswerden. Vergeblich. Immer wieder steht er nachts neben dem Bett, befiehlt sie ins «Chämmerli». Über vier Jahre dauert die Pein. Eveline Kuster zieht sich von allen Heimkindern zurück. Sie wird aggressiv, verweigert das Essen, übergibt sich immer wieder. Sie wird mager, sehr mager. Am Abend hat sie Angst vor dem Einschlafen, in der Nacht Alpträume. Ihrer Aggressivität lässt sie in der Schule freien Lauf, prügelt sich mit den Knaben, wird zur Einzelgängerin. Immer wieder muss sie die Klasse wiederholen, gilt als schwierig. Als sie die Schule verlässt, hat sie gerade mal die fünfte Klasse beendet.
Wenn der Waisenvater sich sexuell an Eveline Kuster vergeht, hat sie dafür eine Woche Ruhe vor dem «grünen Gang». Doch dann prügelt der verheiratete Vater von acht Kindern sie weiter. Einmal steht plötzlich eine Angestellte im Keller, der Waisenvater hatte vergessen abzuschliessen. «Alle wussten, was der grüne Gang ist», sagt Eveline Kuster. «Die Angestellten, seine Frau, mein Vormund. Niemand hat etwas gegen den Waisenvater unternommen.» Zweimal wird sie mit einem gebrochenen Arm ins Spital eingeliefert. Es kommt zu einem Gerichtsverfahren. Eveline Kuster wird vorgeladen und muss aussagen. Auch zu den sexuellen Übergriffen. «Ich hatte das Gefühl, niemand glaubt mir.»
Kurz danach wird Eveline Kuster in ein anderes Heim versetzt, später kam sie in die geschlossene Erziehungsanstalt «Lärchenheim» im appenzellischen Lutzenberg. Was sie damals nicht wusste: Der zuständige Winterthurer Stadtrat liess Mitte der sechziger Jahre Vorfälle im Waisenhaus wegen «Missbrauchs des Züchtigungsrechts» untersuchen. Schliesslich verbot die Behörde dem Waisenvater sogar «jedwelche körperlichen Züchtigungen» (siehe nachfolgender «Hintergrund»). Trotzdem konnte er unbehelligt weiter Kinder missbrauchen. Weshalb er nicht seines Amts enthoben wurde, ist unklar. Aktenkundig ist nur, dass der Waisenvater 1967 seine Stelle selbst kündigt – er wechselt als Heimleiter ins evangelische Kinderheim in Freienstein. Dort bleibt er nur zwei Jahre. Nach seinem Abgang heisst es im Jahresbericht vielsagend: «Das Erziehungsheim hat kaum je so grosse Erschütterungen erlebt und ist kaum je durch solch grosse Schwierigkeiten gegangen.» Die Rede ist von «mannigfachen Problemen», von «Gottes Fügung» und von «Schicksal». Was genau vorgefallen ist, wird mit frömmelnden Worten verwedelt.
Die Jahre im Heim liessen Menschen zurück, die in ihrem Innersten verletzt sind, auch heute noch. Menschen, die sich ihrer Kindheit und Jugend beraubt fühlen und sich entwurzelt vorkommen. Die meisten haben lange gebraucht, bis sie sich gegenüber anderen öffnen konnten. «Wärme habe ich nicht erfahren als Kind, Liebe schon gar nicht», sagt die 60-jährige Maria Magdalena Ischer. «Ich musste mein Herz verschliessen und hart werden lassen, um die Demütigungen ertragen zu können. Als ich mich das erste Mal richtig verlieben konnte, war ich 50 Jahre alt.»
Auch Karin Bürgisser ist die Vergangenheit nicht losgeworden. Auch wenn sie jahrelang versucht hat zu verdrängen. Auch sie, die wie Eveline Kuster nie etwas verbrochen hatte, landete in der geschlossenen Erziehungsanstalt «Lärchenheim». «Mit dieser Geschichte war für mich das Leben gelaufen, bevor es richtig begonnen hatte.»
Vor einigen Jahren wollte Karin Bürgisser ihre Akten einsehen. Um zu verstehen, weshalb sie ins Heim gesteckt wurde, weshalb sie bei einer Strafaktion in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen wurde. Wieso sie dort wie ein Tanzbär Salto und Spagat vorturnen musste, um mit einer Zigarette belohnt zu werden. Nach langem Kampf erhielt sie 2004 vom Kanton Schaffhausen eine lauwarme Entschuldigung: «Der Regierungsrat entschuldigt sich bei Frau Bürgisser in aller Form für die aus heutiger Sicht unkorrekte Behandlung im Zusammenhang mit der Versetzung in die geschlossene Station F. Der Regierungsrat (…) wünscht ihr auf dem weiteren Lebensweg alles Gute. Leider ist es nicht möglich, Frau Bürgisser für dieses erlittene Unrecht zu entschädigen, da eine rechtliche Grundlage fehlt.»
Hart sind die damaligen Heimkinder geworden, auf eine schon fast unheimliche Art. «Mit der Zeit machten mir die Prügel nichts mehr aus, ich spürte keinen Schmerz mehr.» Eveline Kuster kann nicht mehr weinen, die Tränen sind ihr ausgegangen. «Wenn ich mich heute beim Kochen in die Finger schneide, fühle ich nichts.»
Viele der ehemaligen Heimkinder haben den Rank nie recht gefunden. Manche aber haben es geschafft. Wenn auch auf Umwegen. Margot Heutschi begann mit 20 eine Ausbildung zur Pflegerin. Sie ackerte. Mit 24 wog sie nur noch 39 Kilo. «Ich war damals näher am Tod als am Leben.» Eine zehnjährige Psychoanalyse rettete sie. In den ersten zwei Jahren brachte sie kein Wort heraus, schrieb nur ihre Träume auf. «Ich war wütend, dass ich jemals auf die Welt gesetzt worden war.» Sie floh vor ihrer Geschichte in den Sport, lief sogar den New-York-Marathon. Dann die Heirat mit 35. Sogar Gemeinderätin wurde sie. Heute wirkt sie robust, sie lacht sogar ab und zu, redet versöhnlich.
Auch Willy Mischler hats geschafft. Nach neun Jahren in Laufen kam er für vier Jahre ins Kinderdörfli Rathausen. 1973, mit 15, konnte er es verlassen. «Ich schwor mir: Ich lasse mein altes Leben zurück», erzählt er. Mischler hatte Glück. Konnte Maurer lernen, sich weiterbilden und hocharbeiten. Heute ist er ein erfolgreicher Geschäftsmann. «Mir gehts gut», sagt er. Was aber bleibt, sind plötzlich auftretende Atemprobleme. Unvermittelt bleibt ihm die Luft weg, die Ärzte haben keine Erklärung dafür. Mischler: «Manchmal habe ich den Wunsch, den Leuten von damals ins Gesicht zu sehen und sie zu fragen: ‹Warum? Warum habt ihr das mit uns gemacht?›» Er atmet tief durch, Willy Mischler, den die Ordensschwestern immer wieder kopfüber ins Wasser steckten. Er hat gelernt, die Luft anzuhalten. Bis vor ein paar Jahren schaffte er fast zwei Minuten.
*Name geändert
Endlich kommt Bewegung in die Institutionen, die für Missbräuche an Heimkindern mitverantwortlich waren. Die Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz, die Ingenbohler Schwestern, haben mit der Aufarbeitung begonnen. Provinzoberin Marie-Marthe Schönenberger sagt: «Wir durchforsten unsere Archive und sind dabei, Schwestern zu befragen, die damals in Heimen arbeiteten.» Und: «Wir bieten ein persönliches Gespräch und sind auch bereit für eine Entschuldigung.»
Vielerorts ist die Aufarbeitung allerdings nicht einfach. Einst Verantwortliche sind tot, Akten gingen verloren, Institutionen wurden geschlossen oder umorganisiert. Auch die Heilsarmee stellt sich ihrer nicht immer ruhmreichen Geschichte. «Die Heilsarmee ist bereit, sich im gegebenen Fall bei betroffenen Personen zu entschuldigen», sagt Sprecher Martin Künzi. Er gibt aber zu bedenken, es sei schwierig, heutige Massstäbe in der Erziehung auf damals anzuwenden.
Konfrontiert mit den Recherchen des Beobachters, liess in Winterthur Stadträtin Pearl Pedergnana die Situation im damaligen Waisenhaus abklären: Der Waisenvater war brieflich mehrmals gemassregelt worden. Weshalb er nicht entlassen wurde, ist unklar. Pedergnana will sich im Namen der Behörden bei Eveline Kuster formell entschuldigen. «Was damals im Waisenhaus Winterthur passiert ist, ist eine Tragödie. Diese Frau hat Unrecht erlitten, dafür entschuldigen wir uns.»
(Nachtrag vom 28. September 2010)
Nach über 40 Jahren erhielten die Heimkinder des Wasienhauses Mariahilf eine symbolische Wiedergutmachung. An einer kleinen Feier in Laufen bedauerten die heutigen Heimverantwortlichen sowie je ein Vertreter der Berner und Baselbieter Regierung, was damals den Kindern angetan worden war. Dem Treffen fern blieben die Ingenbohler Schwestern.
Der Berner Justizdirektor Christoph Neuhaus gab sich selbstkritisch: «Ja, wir wären damals für die Aufsicht des Waisenhauses Laufen zuständig gewesen. Es tut mir aufrichtig leid, was passiert ist.» Der Baselbieter Regierungsrat Urs Wüthrich schloss sich an: «Wichtigste Form der Wiedergutmachung ist, aus Fehlern zu lernen.»
Das Treffen initiierte Willy Mischler, der wie andere auch von den Ordensschwestern «tuschet und tünklet» wurde. Die früheren Heimbewohner konnten nun auch ihre Akten einsehen – oder was davon übrig ist. Mischler fordert einen Fonds für Opfer von vormundschaftlichen Zwangsmassnahmen: «Viele hatten nach Jahren im Heim einen schlechten Start ins Leben und können es bis heute nicht meistern.» Für solche Härtefälle brauche es finanzielle Unterstützung.
Otto Hostettler
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