Niemand im Dorf war erstaunt, als am 18. Januar 1946 die Kantonspolizei vor dem Fabrikheim auftauchte. Sie war wieder einmal wegen einer jungen Frau gekommen, die dort weggesperrt war: Hermine Huser, die man zur Arbeit in der benachbarten Spinnerei zwang. Der Polizist eröffnete der 20-Jährigen, dass man sie fortschaffen müsse. Im Rapport notierte er später, sie habe sich beim Abtransport «sehr anständig» verhalten.

Die Polizei nahm Hermine Huser nicht wegen einer Straftat mit, sondern weil sie in den Augen ihres Vormunds etwas Schlimmes getan hatte. Sie hatte mit Suizid gedroht. Die junge Mutter wollte ihr Kind zurück, das man ihr wenige Monate zuvor weggenommen hatte. Sie wollte auch die Briefe ihres Liebsten lesen, die man vor ihr verbarg. Sie war verzweifelt, hielt es im engen Heim in Dietfurt SG nicht mehr aus, wo sie Zwangsarbeit verrichten musste. Statt ihr zu helfen, transportierte sie der Kantonspolizist in ein anderes Heim, wo ein strenges Regime sie näher zu Gott bringen sollte.

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Sogar «New York Times» berichtete

Die Zustände im Fabrikheim von Dietfurt im unteren Toggenburg haben 2021 international für Schlagzeilen gesorgt, nachdem der Beobachter berichtet hatte. Sogar die «New York Times» schrieb darüber. Der Grund für das grosse Interesse war der einstige Besitzer des Fabrikheims: der Zürcher Kanonenkönig und Kunstsammler Emil Bührle. Er war im Zweiten Weltkrieg – dank Waffenlieferungen an die Nazis – zum reichsten Schweizer aufgestiegen. Bührle baute mit dem Geld eine milliardenschwere Kunstsammlung auf, die seit vorletztem Herbst im Neubau des Kunsthauses Zürich hängt und sich zu einem Publikumsmagneten entwickelt hat.

Was erst jetzt klar wird: Bührles Regime in Dietfurt war kein Einzelfall. Im Unterschied zu anderen Industriellen hatte er nur länger von fürsorgerischer Zwangsarbeit profitiert. Das belegen die Ergebnisse der Recherche, die im neuen Beobachter-Buch «Schweizer Zwangsarbeiterinnen» erstmals veröffentlicht werden. Auf der Grundlage von Gesprächen mit zehn Betroffenen und Akten aus zwölf Archiven lässt sich rekonstruieren, wie in der Nachkriegszeit die Fürsorgebehörden den Hunger der Industrie nach billigen Arbeitskräften stillten. Etwa das Sozialdepartement der Stadt Zürich.

Im Zentrum des Buches stehen fünf Fabrikheime für 16- bis 22-jährige Frauen in den Kantonen Glarus, St. Gallen, Solothurn und Appenzell Ausserrhoden. Dokumente aus dem Innern der Heime werfen ein neues Licht auf eine bisher unbekannte Seite des Wirtschaftswunders der Nachkriegsjahre. Die menschenrechtswidrigen Zustände dauerten bis in die Zeit um 1975 an. Beendet wurden sie durch die auf den Ölpreisschock folgende Wirtschaftskrise. Die Industriellen benötigten keine «versorgten» Frauen mehr als Billigstarbeitskräfte.

Arm, Scheidungskind, «unehelich»

Es brauchte nicht viel, damit eine junge Frau im Fabrikheim landete. Es reichte, ein Scheidungskind oder eine «Uneheliche» zu sein. Oder das Kind armer Eltern, die ohne fremde Hilfe nicht mehr durchkamen. Die Fürsorgebehörden betrachteten die erzwungene Fabrikarbeit als «Nacherziehung» zum Wohle dieser jungen Frauen. Sie redeten diese Zwangsarbeit als «Arbeitstherapie» schön.

Hermine Huser war im Alter von drei Jahren ihren Eltern weggenommen worden. Der einzige Grund dafür: Sie war eine Jenische – wie eine kleine Minderheit der Fabrikheimfrauen. Als sie neun war, unterstellte man ihr «abnorme sexuelle Manien». Mit 19 hintertrieb der Vormund der Pro Juventute ihre geplante Heirat und Familiengründung. Mit 20 wurde sie zur Zwangsarbeit für Emil Bührle nach Dietfurt verfrachtet. Der Vormund hatte sie zur Strafe in das Fabrikheim gesteckt. Ihm dienten solche Zwangarbeitsheime zur Abschreckung und zur Absicherung seiner Machtstellung – wie vielen Sozialbehörden in der Schweiz.

Zwangsarbeit war seit der Unterzeichnung eines internationalen Abkommens 1941 in der Schweiz eigentlich untersagt. Trotzdem wurde sie vor aller Augen fortgesetzt. Wer wollte, konnte sie sehen. Doch fast alle schauten weg. Polizei, Ordensschwestern, Pfarrer, Bundesräte. Erst das machte es dem fürsorgerischen Zwangsapparat möglich, zu schalten und zu walten, wie er wollte. Höchstens in Ausnahmefällen schritt jemand ein, wie drei beispielhafte Fälle zeigen.

Teenager als angebliche Täterin

Da ist zum einen der Übergriff im Spinnerei-Fabrikheim von Rüti im Glarnerland. Margrit S. wurde von «einem verheirateten Arbeiter der Fabrik, der im gleichen Saal arbeitete», schwanger. Für die Ingenbohler Ordensschwestern, die das Heim betrieben, war der Fall klar: Täterin war der Teenager, der verheiratete Mann das Opfer. Das «leider krankhafte» Mädchen «konnte den Versuchungen nicht widerstehen», notierten die Schwestern. Die schwangere Margrit S. wurde anschliessend in ein sogenanntes Mütterheim überführt. Das war 1949.

Da ist zum anderen ein Brief an Bundespräsident Paul Chaudet, der im Bundesarchiv liegt. Darin wird Chaudet gefragt, weshalb einzelne Jugendliche im Fabrikheim von Lutzenberg AR schrittlange Fussketten tragen müssten zur Fluchtverhinderung. Der Departementssekretär des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements musste den Brief beantworten. Zuerst las er eine Beobachter-Reportage, die die Ketten in einem Fall bestätigte. Danach antwortete er dem Briefschreiber: Die «angeblichen Vorfälle» im «privaten Erziehungsheim» seien untersucht worden. Der Staatsanwalt habe aber nichts gefunden, was ein Strafverfahren rechtfertigen würde. Das war 1959.

In den Fünfzigerjahren Fussketten für Frauen: Lärchenheim, Lutzenberg AR

In den Fünfzigerjahren Fussketten für Frauen: Lärchenheim, Lutzenberg AR

Quelle: RDB
Buchtipp
Schweizer Zwangsarbeiterinnen
Schweizer Zwangsarbeiterinnen

Und da ist schliesslich der katholische Dorfpfarrer, der aus dem Vorstand des Marienheims im solothurnischen Bettlach austreten wollte. Das Fabrikheim gehörte der katholischen Kirche. Die lockere Hausordnung, die die Uhrenindustrie dort durchgesetzt hatte, war dem Pfarrer ein Graus. Er sah seine Würde in Gefahr, wie aus einem Sitzungsprotokoll im Bischöflichen Archiv hervorgeht: «Es ist in den vergangenen Jahren alles dort drüben vorgekommen, von Selbstmordversuch und geheimer Geburt etc. bis zu unerträglichen polizeilichen Aktionen», sagte der Pfarrer. Das war 1965.

Warum noch immer Zwangsarbeit?

Aus heutiger Sicht fragt sich: Wie war es möglich, dass die Schweiz jahrzehntelang ein internationales Abkommen ignorierte, das Zwangsarbeit prinzipiell untersagte? Wie konnten «Versorgte» zur Arbeit gezwungen werden, als wären sie Kriminelle – ohne dass sie von einem Gericht verurteilt worden wären? Und: Darf man überhaupt von Zwangsarbeit sprechen?

In den Ratsprotokollen der Schweizerischen Bundesversammlung finden sich Antworten auf diese Fragen. Das erste Mal 1931: Damals ging es im Parlament darum, ob die Schweiz das Abkommen gegen die Zwangsarbeit unterzeichnen sollte. Der Thurgauer Ständerat Albert Böhi wandte sich mit aller Vehemenz dagegen. Er verlangte, dass die Sozialbehörden weiterhin Freiheitsentzüge inklusive Zwangsarbeit anordnen durften, ohne ein Gericht zu konsultieren.

Schweiz, 1970: Junge Frauen müssen Zwangsarbeit für Industriebetriebe leisten.

Schweiz, 1970: Junge Frauen müssen Zwangsarbeit für Industriebetriebe leisten.

Quelle: RDB

Das internationale Übereinkommen Nr. 29 über die Zwangs- und Pflichtarbeit, das von der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf verabschiedet worden war, lehnte Böhi deshalb kategorisch ab. «Im Kanton Thurgau zum Beispiel verfügt der Regierungsrat die Einweisung in eine Zwangsarbeitsanstalt», die Zwangsarbeitsanstalt Kalchrain. «Da glaube ich nun doch, wir sollten uns in Genf nicht in der Weise bevormunden lassen, dass der Kanton Thurgau nicht mehr durch Regierungsratsbeschluss seine liederlichen Leute nach Kalchrain detinieren [einsperren] darf.» Wenn die Schweiz das Abkommen unterzeichne, müsse womöglich die Zwangsarbeit von «Versorgten» abgeschafft werden. «Wir sollten uns hüten, dass man unserer bisherigen Praxis das Abkommen entgegenhalten kann.» Böhis Warnung wurde überhört. Die Schweiz unterzeichnete das Abkommen, liess es in Kraft treten – und ignorierte es fortan.

Bis 1969, als Bundespräsident Ludwig von Moos im Parlament erklärte, dass die Schweiz womöglich ein ernsthaftes Problem mit Zwangsarbeit habe. Er gab zu, dass eine «Versorgung mit Zwangsarbeit verbunden» sein könne. Das sei ein Problem, weil «die Versorgung unter Umständen gegen das internationale Abkommen über Zwangs- und Pflichtarbeit verstösst». Der Justizminister bestätigte, dass die Schweiz das Abkommen gegen Zwangsarbeit möglicherweise jahrzehntelang  ignoriert hatte. Wovor Ständerat Böhi 40 Jahre zuvor gewarnt hatte – allerdings mit ganz anderen Absichten.

Kantone gegen Menschenrechte

Auf das Geständnis des Bundespräsidenten folgte kein öffentlicher Aufschrei. Es begann eine Abwehrschlacht. Der Bund wollte die Zwangsarbeit abschaffen, doch die kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren wehrten sich dagegen. «Die Beschäftigung erfolgt ausschliesslich im Interesse des Eingewiesenen selber; die Arbeitstherapie ist eine Grundlage jeder Erziehungsarbeit», schrieben sie nach Bern. Der Sekretär der Zürcher Justizdirektion forderte, dass doch «nicht ernsthafte, praktische Fürsorgeanliegen geopfert werden» sollten wegen der Menschenrechte.

Die Unabhängige Expertenkommission, vom Bundesrat zur Aufarbeitung der administrativen Versorgungen eingesetzt, schrieb 2019 in ihrem Schlussbericht unmissverständlich: Die Schweiz habe auch deshalb so lange weggeschaut, weil sie «von einer gewissen Überheblichkeit und Selbstüberschätzung» verblendet war. Die Existenz von Zwangsarbeit in der demokratischen Schweiz sei für viele schlicht undenkbar gewesen. Was nicht sein durfte, konnte nicht sein.

Schwanger zurück ins Heim

Als Bundespräsident von Moos 1969 im Parlament sprach, lebte Eveline Kuster (Name geändert) im Lärchenheim in Lutzenberg AR. Sie war dorthin weggesperrt worden – in jenes Heim, das in den Fünfzigerjahren die Insassinnen mit Fussketten an der Flucht gehindert hatte. So schlimm wie damals waren die Zustände zwar nicht mehr. Doch am Geschäftsmodell hatte sich wenig verändert. Nach wie vor schickte das Heim junge Frauen in umliegende Fabriken zur Arbeit und kassierte ihre Löhne ein.

Diesem Regime unterworfen war auch Eveline Kuster, die bevormundet wurde. Nach einem Jahr im Lärchenheim gelang der damals 17-Jährigen die Flucht. «Ich bin abgehauen, weil ich es nicht mehr aushielt», sagt sie heute. Sie flüchtete über die Grenze nach Deutschland, lernte einen Mann kennen, wurde schwanger, kam zurück in die Schweiz – und wurde erneut ins Lärchenheim eingewiesen. Der Heimleiter habe sie wegen der Flucht in die Strafkammer einsperren lassen, erinnert sich Eveline Kuster. «Die Erzieherinnen haben mich während der ganzen Schwangerschaft total abgeschottet.» Sie habe Suizidgedanken gehabt.

Als ihr Kind 1970 zur Welt kam, musste sie es zur Adoption freigeben. Kontakt zu ihrer Tochter und deren Kindern habe sie bis heute nicht, erzählt Kuster. «Ich habe es versucht. Aber ich kann es einfach nicht. Die Erinnerungen, die dann zurückkommen, verkrafte ich nicht.»

Buchcover "Schweizer Zwangsarbeiterinnen" von Yves Demuth
Vernissage «Schweizer Zwangsarbeiterinnen»

Die Vernissage des Buchs «Schweizer Zwangsarbeiterinnen» findet am 3. Mai um 19 Uhr im Volkshaus Zürich statt. Auch betroffene Frauen werden anwesend sein.