Vor die Tür gesetzt
Zurzeit müssen viele Jugendliche schon zu Beginn ihres Berufslebens eine harte Erfahrung machen: Arbeitslosigkeit.
Amanda Keller (Name geändert) aus dem Zürcher Oberland geht im Moment oft ins Fitnesscenter. Sie trainiert, um die Zeit totzuschlagen. Die 18-Jährige ist seit dem Abschluss ihrer Bürolehre im letzten Sommer arbeitslos – trotz dem guten Notendurchschnitt von 4,7.
Über 50 Bewerbungen hat Amanda Keller inzwischen geschrieben, aber immer nur Absagen bekommen. «Es ist ein Riesenfrust. Ich kann mich kaum noch motivieren, weitere Bewerbungen zu schreiben», sagt die junge Frau. Auch ihre Familie leide mit, man sehe Amanda an, wie schlecht sie «zwääg» sei.
Wie Amanda Keller geht es heute vielen Lehrabgängern – sie finden nach der Stifti keinen Job. In den letzten zwei Jahren hat sich die Arbeitslosenquote der 15- bis 24-Jährigen verdoppelt. Hart triffts vor allem die kaufmännische Branche: Banken und Versicherungen entlassen Angestellte im grossen Stil.
Am stärksten ist das Finanzzentrum Zürich betroffen. «Die Arbeitsmarktsituation ist sehr angespannt», sagt Irene Tschopp, Sprecherin des kantonalen Amts für Wirtschaft und Arbeit. Mehr als ein Drittel aller Arbeitslosen entfalle auf die Berufsgruppe Verwaltung, Büro und Handel. Besonders tragisch sei die Situation für die Jungen, «denen so der Einstieg ins Berufsleben verwehrt wird».
Viele Lehrlinge, die dieses Jahr abschliessen, gehen einer ungewissen Zukunft entgegen. In der Zürcher KV-Klasse von Michelle Schödler etwa haben erst 5 von 23 Stiften eine Stelle nach der Lehre. «Alle anderen haben Panik, nichts zu finden», sagt die junge Aargauerin. Auch sie weiss noch nicht, ob sie nach dem Lehrabschluss im Sommer weiterhin in ihrem Betrieb bleiben kann.
Noch vor ein paar Jahren war es anders. Damals übernahmen Grossbetriebe wie Banken und Versicherungen fast alle ihrer Lehrabgänger. Heute liegt die Quote nur noch bei 50 bis 60 Prozent.
«Die Jungen haben durchs Band Mühe, eine Stelle zu finden», sagt Edith Züger, Geschäftsstellenleiterin der Schweizerischen Kaufmännischen Stellenvermittlung (SKS) Luzern. Auf eine Stellenausschreibung kämen heute durchschnittlich 100 Bewerbungen – ein deutlicher Anstieg im Vergleich zu früheren Jahren. Ähnlich tönts bei der SKS Schweiz: Die Firmen suchten nach älteren Personen mit Berufserfahrung, Junge seien nicht erwünscht.
Diese Erfahrung musste auch Michael Hurni aus Hünenberg machen. Der 20-Jährige schloss seine KV-Lehre im Sommer bei Centerpulse in Zug ab, musste danach in die Rekrutenschule und sucht seither verzweifelt eine Stelle. Mehr als 50 Bewerbungen hat er schon verfasst – ohne Erfolg. «Heute muss man jung sein, zehn Jahre Berufserfahrung haben und erst noch nichts kosten», meint er sarkastisch. «Wie soll ich denn Berufserfahrung sammeln, wenn mich niemand einstellt?»
Frustrierende Erfahrungen
Auch Arbeitsexperten üben heftige Kritik an den Unternehmen. «Die Verantwortlichen unterschätzen die negativen Auswirkungen der Jugendarbeitslosigkeit», sagt Mario Antonelli, Leiter des Jugend- und Lehrlingsbereichs beim Kaufmännischen Verband Schweiz. Die Unternehmen müssten endlich ihre volkswirtschaftliche Verantwortung wahrnehmen. Antonelli: «Ich erwarte eigentlich, dass sich die Grossbetriebe antizyklisch verhalten und Junge anstellen, auch wenn die Wirtschaftslage schwierig ist.» Jahrelang hätten die Firmen von den gut ausgebildeten jungen Leuten profitiert, jetzt müssten sie sich flexibel zeigen. «Mit angepassten Arbeitszeitmodellen könnten zum Beispiel neue Stellen ermöglicht werden.»
Doch nicht nur für Lehrabgänger wird es immer enger. Überhaupt erst eine Lehrstelle zu finden ist harte Knochenarbeit. Wie aufwändig und frustrierend die Lehrstellensuche ist, bekam die 14-jährige Sekundarschülerin Laetitia Dacorogna zu spüren. Obwohl sie sehr gute Schulnoten vorweisen kann, musste die Zürcherin über 20 Bewerbungen schreiben, bis sie bei Hotelplan eine Stelle fand – eine typische «Lehrlingskarriere».
70 Prozent aller Jugendlichen in der Schweiz starten mit einer Lehre ins Berufsleben; letztes Jahr waren es rund 70'000 junge Leute. Am beliebtesten sind der kaufmännische Sektor und die Metall- und Maschinenindustrie. Lehrstellenmangel herrscht zwar noch nicht, doch die Prognosen sind düster. Die schlechte Wirtschaftslage gefährde auch das Lehrstellenangebot, warnen Experten.
Mario Antonelli fordert aus diesem Grund staatliche Förderungsmassnahmen. «Es darf nicht sein, dass Betriebe weniger Lehrstellen anbieten.» Da lediglich ein Fünftel aller Firmen überhaupt Lehrlinge ausbilde, müssten diese Betriebe finanziell unterstützt werden. «Der kaufmännische Verband befürwortet deshalb die Lehrstelleninitiative voll und ganz».
Ein regelrechter Marathon
Je begehrter eine Ausbildung, desto grösser sind die Anforderungen an die Jugendlichen. Die Firmen können es sich leisten, nur die Allerbesten unter den Bewerberinnen und Bewerbern auszusuchen. Das bestätigt auch Stefan Suter, Abteilungsleiter bei Aprentas, einem Ausbildungsverbund, der für die chemische Industrie Lehrlinge ausbildet. «Besonders begehrt sind bei uns Berufe wie Laborant oder Informatiker», erklärt Stefan Suter. «Sekundarschüler mit einem Notendurchschnitt unter fünf haben kaum eine Chance.»
Um sich unter den Besten zu profilieren, müssen die Jugendlichen einen regelrechten Bewerbungsmarathon absolvieren. Vor allem Grossbetriebe geben sich mit den Schulnoten allein nicht mehr zufrieden. Die angehenden Stifte werden in standardisierten Testverfahren durchgecheckt. In Basel-Stadt etwa haben junge Leute mit dem Berufsziel Kaufmann oder Kauffrau ohne Absolvierung des so genannten Multichecks kaum eine Chance, in einer Firma unterzukommen.
Getestet werden neben Deutsch, Französisch und Mathematik auch die Konzentrationsfähigkeit und das logische Denken. Der 15-jährige Yann Spiess aus Therwil hat den Multicheck hinter sich gebracht. Er möchte eine KV-Lehre mit Berufsmatur machen. «Der Test dauerte fast vier Stunden», erzählt er. Inhaltlich fand er die Aufgaben zwar nicht so schwierig, für Stress sorgte aber die knapp bemessene Zeit. Die 80 Franken Testgebühr mussten seine Eltern berappen.
Aber nicht nur wer einen Traumberuf anstrebt, wird genau unter die Lupe genommen. Der 15-jährige Realschüler Burim Haliti aus Münchenstein hat sich für eine Verkaufslehrstelle bei der Migros beworben. Ein dreistündiger Eignungstest ist Voraussetzung, um überhaupt nur eine Schnupperlehre machen zu können. «Da muss ich durch», sagt Burim. Er weiss, dass er es sonst sehr schwer haben wird, einen Arbeitsplatz zu finden.
Traumberuf bleibt ein Traum
Realschüler stehen ohnehin häufig hintan, wenn es um die Vergabe von Lehrstellen geht. Ramona Kobi, Burims Klassenkollegin, die sich am liebsten zur Praxisassistentin oder Augenoptikerin ausbilden lassen würde, bekam am Telefon wiederholt zu hören: «Eigentlich nehmen wir nur Sekundarschüler, aber Sie können sich ja trotzdem mal bewerben.»
Weil die Anforderungen steigen und gleichzeitig Lehrstellen abgebaut werden, finden immer mehr Jugendliche nicht den Ausbildungsplatz, den sie eigentlich wollen. «Der Bund und die Verbände müssen eine Grossoffensive für die Berufslehre starten», sagt Mario Antonelli vom Kaufmännischen Verband, «denn das duale Bildungssystem ist eine riesige Errungenschaft, die nicht aufs Spiel gesetzt werden darf.» Die Betriebe müssten endlich erkennen, dass sich die Lehrlingsausbildung auszahle, und gut betreute Stellen anbieten.
Oft nur billige Arbeitskräfte
Mit der Ausbildung hapert es vielerorts – nicht erst seit dem Konjunktureinbruch. Statt eine spannende Lehrzeit geboten zu bekommen (siehe «Alternativen», Seite 21), werden viele Stifte als billige Arbeitskräfte missbraucht. «Ein halbes Jahr habe ich nur Hilfsarbeiten verrichtet», beklagt sich etwa der Bieler Kochlehrling Patrick Guillod. «Eine Salatplatte anzurichten war noch das Anspruchsvollste.» Viele Stifte leiden auch unter Arbeitsüberlastung. Überstunden seien an der Tagesordnung, wissen Gewerkschafter.
Kein Wunder, dass die Zahl der Lehrabbrüche kontinuierlich steigt. Im Kanton Zürich liegt die Quote bei rund 25 Prozent, das entspricht zirka 2700 Fällen pro Jahr. Im Kanton Bern werden rund 1800 Lehrverhältnisse oder 20 Prozent der Lehren und in der Waadt 15 Prozent abgebrochen. Gesamtschweizerisch fehlen genaue Zahlen. Kantonale Erhebungen zeigen jedoch, dass in städtischen Gebieten öfter Lehren abgebrochen werden als in ländlichen.
Im Gastgewerbe, der Maler- und der Coiffeurbranche sind die Ausstiegszahlen am höchsten: Sie werden auf über 30 Prozent geschätzt. Der Grossteil der Aussteiger sind Umsteiger: Sie setzen ihre Lehre in einem anderen Betrieb fort oder wechseln in eine Anlehre.
Oft kommt es aber auch zu Lehrabbrüchen, weil die Chemie zwischen Lehrling und Lehrmeister nicht stimmt. Betroffen von solchen Problemen sind vor allem kleinere und mittlere Betriebe, in denen die Beteiligten tagtäglich auf engstem Raum zusammenarbeiten müssen.
Probleme mit dem Vorgesetzten führten auch bei Jacqueline Wyss aus dem bernischen Zollbrück zum Lehrstellenwechsel. Die 18-Jährige ist im dritten Lehrjahr als Innendekorationsnäherin. Sie ist klein und zierlich, trägt Rastazöpfchen, ein Piercing im Nasenflügel und bevorzugt schwarze Kleidung. Wegen ihres Outfits sei sie vom ehemaligen Lehrmeister entlassen worden, sagt die junge Frau. Der Lehrmeister wiederum begründete die Kündigung mit Jacquelines «schlechtem Einfluss auf die Erstlehrjahrsstiftin». Jacquelines Arbeit – eigentlich die Hauptsache in einer Lehre – bemängelte er aber nicht.
Jacqueline Wyss hat die Krise gemeistert: Mit Hilfe ihres alten Lehrmeisters hat sie eine neue Stelle gefunden. Einer erfolgreichen Abschlussprüfung steht nun nichts mehr im Weg.
Niemanden fallen lassen
Heikel wird es hingegen für Jugendliche, die gänzlich aus dem Lehrprozess aussteigen oder eine Pause von mehr als einem halben Jahr einschalten. Im Kanton Zürich sind dies immerhin zehn Prozent aller Lehrlinge. «Solche Jugendliche nehmen eher illegale Drogen und begehen eher strafbare Handlungen als andere», schreibt Markus P. Neuenschwander vom Institut für Pädagogik der Universität Bern. Seine Forderung: «Jugendliche, die durch die Maschen zu fallen drohen, sollten speziell beobachtet und unterstützt werden.»