Stilles Land, freie Berge
Im Schweizer Jura versteckt sich ein wahres Paradies für Langläufer. Und eine Handvoll höchst einladender Herbergen, die man im Winter am besten auf Skiern ansteuert.
Veröffentlicht am 6. Dezember 2017 - 14:11 Uhr,
aktualisiert am 7. Dezember 2017 - 13:38 Uhr
Schwerelos gleiten wir durch einen Märchenwald. Eiskristalle glitzern in der klaren Luft. Abgesehen vom Knirschen der Langlaufskier herrscht pure Stille. Immer wieder öffnet sich die Landschaft zur weiten Schneeprärie, wo einzelne Tannen wie Kathedralen in den Himmel ragen. Uralt müssen die sein. Das Auge kann sich an ihrer stolzen, formvollendeten Gestalt nicht sattsehen.
Freiberge – schon der Name hört sich an wie Poesie. «Seltsames kleines Land» nannte der Historiker Joseph Beuret-Frantz seine Heimat 1954 in seinem Buch über die Freiberge. Er beschrieb darin einsame Höfe mit grossen Dächern und dicken Mauern, die die Bewohner «gegen die Härten eines nicht enden wollenden Winters» verteidigten. Nun sorgt die Klimaerwärmung dafür, dass die Winter zahmer werden. Deshalb packen wir gleich die Chance, als ein Kältetief über Europa hängt und auch im Jura viel Schnee gefallen ist.
110 Loipenkilometer vom Feinsten durchkreuzen das rund 200 Quadratkilometer grosse Hochplateau.
Laurent Donzé war früher auf Wettkampfniveau auf den Langlaufskiern unterwegs. Heute verbringt der Chemielehrer im Winter jede freie Minute im Loipenparadies vor seiner Haustür. Er hat uns nicht zu viel versprochen, als wir ihn vor Jahren kennenlernten und er davon schwärmte. Aus unserem Schnupperkurs wird schliesslich ein Vier-Tages-Trekking. Wir stossen auf Unterkünfte, die wie fernab der Welt wirken und so viel Flair ausstrahlen, dass man ewig bleiben möchte.
Unser Startpunkt ist Saignelégier, Hauptort der Freiberge, die nördlich und westlich des Dorfs ins Doubstal abfallen, die Grenze zu Frankreich. In der französischen Amtssprache heissen die Freiberge Franches-Montagnes. Der Ostrand des Plateaus, wo sich der Hügelwall von Mont Soleil und Mont Crosin aufschwingt, gehört immer noch zum Kanton Bern. Dem Fremden werden die Kantonsgrenzen wohl stets rätselhaft bleiben, aber das ist nicht weiter wichtig. Ihn bezaubert die Urlandschaft, die sanften Wellen und Mulden, wo sich Torfmoore und Tümpel unter dickem Schneegewand verbergen und die Wiederholung der Motive Unendlichkeit vorgaukelt. Hie und da ein einsames Gehöft, bei dem ein Misthaufen dampft, Pferde im Schnee tollen. Die Freiberge sind auch Pferdeland. Ihre Zucht hat hier lange Tradition.
Mitten im Wald taucht das Hotel Beau Séjour auf. Fast wären wir auf der Loipe vorbeigezogen, hätten wir nicht eine Beschreibung von Laurent im Kopf. Die Herberge ist nicht in unserem Loipenfaltplan verzeichnet, denn lange war sie verwaist. Die Familie Donzé aus Les Breuleux, die nicht mit unserem Laurent verwandt ist, hat das alte Gemäuer 2013 wieder zum Leben erweckt. So abgeschieden von der Zivilisation, überrascht die Gaststube im Bistrostil.
Aurélie Donzé schmeisst mit einem aufgeweckten Team den Laden. «Chez Tante Eva» ist der Beiname des Hotels. Auf dem Weg zum Weinkeller hängt ein Foto des Gastbetriebs von 1907, als Tante Eva noch in der Küche stand. Ihr Geist scheint immer noch allgegenwärtig: Serviert werden nur hausgemachte, traditionelle Gerichte. Die Gäste sollen sich zu Hause fühlen, so Aurélie. Deshalb dürfen sie auch selbst in den Weinkeller gehen und sich ihre Flasche aussuchen. Wenn man sich nach dem Essen dann in einem der Gästezimmer ins Bett legt, fühlt man sich hinter der breiten Fensterfront, als läge man direkt im Wald. Mitunter huscht in der Dämmerung ein Fuchs vorbei. Besser als jedes Fernsehprogramm.
Sonnenstrahlen kitzeln die Baumwipfel, als wir aufbrechen. Geisterhaft wabert Morgennebel über den gefrorenen Boden. Flott ziehen wir am Fusse der Montagne du Droit entlang, um dann Richtung Mont Crosin aufzusteigen. Der Anstieg zehrt an Tempo und Kondition. Dafür entschädigt der Ausblick, weit übers Land hinüber geht der Blick nach Frankreich. Im Osten taucht der Alpenkamm in seiner ganzen Pracht auf. Mal Eiger, Mönch und Jungfrau, mal Mont-Blanc-Schau; dann wieder zaubert eine Bodenwelle gewaltige Tannen an den Horizont.
Dort, wo der Mont Crosin ins Vallon de St-Imier abfällt, schmiegt sich das Hotel Vert-Bois in eine Lichtung. Darin knabbert ein Zebra am Stuhl, steht eine Giraffe kopf, grast eine Kuh im Goldfischglas – einheimische Künstler haben die Wände der Stube in eine verrückte Welt verwandelt. Die Wirtsleute Jean-Luc und Sylvia Pittet verwöhnen dort auf Voranmeldung kleinere und grössere Gruppen mit ihrer wunderbaren Küche, übernachten kann man ebenfalls.
Der Höhenzug der Montagne du Droit zählt zum 2001 gegründeten Naturpark Chasseral. Seit 1992 widmet man sich auf dem einmaligen Aussichtsbalkon der Erforschung erneuerbarer Energien. Neben dem mit 16 Windturbinen grössten Windpark der Schweiz liefert ein Sonnenkraftwerk am Sonnenberg – nomen est omen – Energie für 120 Haushalte.
Dem Langläufer, der sich an die Loipe hält, bleibt die Fotovoltaikanlage verborgen. Er geniesst die «pâturages boisés», die für den Jura so typischen offenen Weiden, auf denen stellenweise Wald und solitäre Tannen wachsen.
15 Kilometer geht es auf einer gepflegten Loipe über den mehr oder weniger flachen Höhenrücken bis zur Auberge Chez l’Assesseur. Wir geben Laurent recht, es ist ein Muss, dort einzukehren. Der prächtige Hof in Alleinlage mit Blick zum Chasseral birgt spannende Geschichte. Adrian von Weissenfluh weiss zahlreiche Anekdoten zu erzählen. Spuken soll es hier. Mitunter öffne oder schliesse sich eine Tür wie von Geisterhand, gehe ein Licht an, höre man Schritte, wenn niemand im Haus sei. Kein Wunder, dass die Wirte öfter wechselten und das Haus zwischendurch auch eine ganze Weile leer stand. Der Berner Adrian von Weissenfluh verliebte sich in das Anwesen und führt es seit 2016 mit Herzblut. Die nostalgische Einrichtung ist dem Gastro-Antiquitätenunternehmen Chesery aus Murten zu verdanken, das als Käufer gewonnen werden konnte.
Wir sausen auf Skiern zurück in die Freiberge. Frühmorgens ein wagemutiges Unterfangen, wenn sich die Abfahrt in vereistem Zustand präsentiert. Etwa 170 Höhenmeter, verteilt auf anderthalb Kilometer. Aufatmen am Bauernhof Combe à la Biche, wo es flach wird und man wieder in den Rhythmus kommt.
Falls hier ein dunkel gekleideter Blitz an einem vorbeizischt, muss das Laurent Donzé sein. Vor allem die Rundloipen bei Les Breuleux schätzt er als Schneeloch, wenn es woanders schon apert. Der Menschenschlag sei wohl etwas eigen, sagt Laurent schmunzelnd, als wir ihn fragen, warum touristisch hier so gar nichts los sei. Oft fehlen auf der Loipe Hinweisschilder zu Restaurants oder Museen, und die Tourismusbüros haben an Wochenenden geschlossen, ausgerechnet dann, wenn sich Leute in die Gegend verirren. Ein Grossteil der Einheimischen arbeite in der Uhrenindustrie, erklärt Laurent. Das touristische Potenzial werde nicht ausgeschöpft. Wir aber sind happy, gibt es noch Flecke auf der Landkarte, die ursprünglich geblieben sind.
Laurent sammelt seit seiner Kindheit Langlaufskier und alles, was dazugehört. Die Scheune seines Bauernhauses bei Les Bois birgt die grösste Langlaufsammlung der Schweiz. An die 10'000 Exponate, schätzt der Besitzer. Sein ältestes Skipaar von 1880 stammt aus Norwegen. Ein Bummel durch den eiskalten Estrich zeigt die Entwicklung vom primitiven Holzski zum hochkomplizierten Rennmodell.
Unseren Trip schliessen wir mit einer Übernachtung im herrschaftlichen Hôtel de la Chaux-d’Abel ab. Es thront auf einem kleinen Hügel. Rundum schweift der Blick weit über die stille Landschaft. Auch von den Zimmern mit ihren verglasten Veranden. Im Salon laden Ohrensessel am prasselnden Kaminfeuer zum Ausruhen ein. Das Mobiliar vermittelt Belle-Epoque-Atmosphäre. Über dem Eingang hält die Zahl 1857 das Baujahr fest. 1910 wurde das Anwesen zum Kurhotel umgebaut. Gabriela Haas, die heutige Besitzerin, wirbelt im Langlaufdress die Treppe herunter, als wir eintreten. «Ach, der Käse muss ja auch noch geholt werden», sagt sie mehr zu sich selbst als zu uns. Können wir erledigen, schlagen wir spontan vor.
Die Käserei von Kurt Zimmermann liegt nur einen Katzensprung entfernt. Würziger Duft schlägt uns schon im Entree entgegen. Im Keller die Schatzkammer, wo Gruyère, Chaux-d’Abel, Tête de Moine und Tatouillard reifen. «‹Die wilden Käser› haben sie uns genannt», sagt Pascal, der Juniorchef, lachend. «Weil wir bei der Schweizerischen Käseunion nicht mitmachen wollten. Es wäre ein Kuhhandel gewesen. Nur zwei, drei Käse hätten wir für uns behalten dürfen. Hätten wir mehr gebraucht, hätten wir unseren eigenen Käse teuer zurückkaufen müssen.»
Wie viele im Jura gehört auch Pascals Familie zu den Mennoniten, den Wiedertäufern oder Anabaptistes. Eine religiöse Bewegung, die sich im 16. Jahrhundert von den Reformierten abgespalten hat. Unter anderem weil man die Kindertaufe und jegliche Gewalt – auch den Militärdienst – ablehnte. Über Jahrhunderte verfolgt und von Folter oder gar Erhängen bedroht, mussten die Gläubigen ihre Religion im Untergrund ausüben, Gottesdienste fanden heimlich im Wald oder in Privathäusern statt. Viele fanden Zuflucht in abgelegenen Gebieten. Auf den Jurahöhen, versprach dazumal der Bischof von Basel, könne er den Mennoniten Sicherheit garantieren.
Über 30 Jahre wurde auch das Hôtel de la Chaux-d’Abel von Mennoniten geführt, erzählt uns später Gabriela Haas, während wir den Sonnenuntergang mit ein paar Häppchen Käse und einem schwarzen Winterbier der Marke Brasserie des Franches-Montagnes (BFM) bestaunen. Es schmeckt aromatisch, etwas herb, beinahe unangepasst. Ein kleines bisschen Widerstand eben.
Langlauf
Die Seite www.skidefond.ch informiert unter anderem über die Langlaufregionen im Jura. Vom Loipenzustand über Unterkünfte bis zum Ausrüstungsverleih findet man alles, was man wissen muss. Etwa für Saignelégier/Franches-Montagnes: Der Loipenplan lässt sich herunterladen; er ist aber auch vor Ort als Faltblatt erhältlich. Wer die Loipen benutzen will, muss sich einen Loipenpass besorgen. Ein Tagespass kostet 12, ein Wochenpass 40 und ein Saisonpass 80 Franken. Die Pässe sind online oder im Bahnhof erhältlich, im Tourismusbüro und im Loipenzentrum von Saignelégier.
Schneeschuh-Abenteuer
Die Freiberge eignen sich hervorragend für Schneeschuhtouren. Entweder auf eigene Faust oder auf ausgeschilderten Routen. Eine Übersichtskarte lässt sich unter www.juradreiseenland.ch herunterladen. Routenpläne gibt es auch bei swisssnowshoe.ch.
Unterkünfte
- Hôtel Beau Séjour «chez Tante Eva», Le Cerneux-Veusil; www.hotelbeausejour.ch
- Hôtel Vert-Bois, Mont-Crosin; www.vert-bois.ch
- Auberge Chez l’Assesseur, Mont-Soleil; www.montsoleil.ch
- Hôtel de la Chaux-d’Abel, La Ferrière; www.hotellachauxdabel.ch
Besichtigungen
- Uhrengeschichte präsentiert das Museum Espace Paysan Horloger in Le Boéchet; das Haus bietet auch ein kleines Hotel und ein Restaurant mit Gault-Millau-prämierter Küche: www.paysan-horloger.ch
- Mehr zur Energiegewinnung am Mont Soleil: www.societe-mont-soleil.ch; www.juvent.ch; es werden auch Führungen angeboten.
- Auf www.brasseriebfm.ch erfährt man alles über das Kultbier BFM.
Weitere Informationen
- Jura Tourisme Saignelégier, 032 420 47 70
- Verkehrsverein Berner Jura in St-Imier, 032 942 39 42; www.juratourisme.ch
- 1. Tag (19 km): Saignelégier–Le Cernil–Wegkreuzung bei Les Breuleux–Combe à la Biche–Hôtel Beau Séjour
- 2. Tag (16,5 oder 19,5 km): Hôtel Beau Séjour–diverse Rundloipen bei Les Breuleux–Mont-Crosin–Hôtel Vert-Bois
- 3. Tag (19 km): Hôtel Vert-Bois–Bise de Cortébert–Mont-Crosin–Mont-Soleil–Auberge Chez l’Assesseur
- 4. Tag (23 km): Auberge Chez l’Assesseur–Combe à la Biche–Les Breuleux–Le Boéchet–Les Bois–Hôtel de la Chaux-d’Abel. Die Route lässt sich dank den Bahnverbindungen abkürzen.