Vom Überleben auf dem Dorfe
Wayne Gwerder kam 1990 als erster Dunkelhäutiger ins Muotatal. Er schwankt zwischen Heimatliebe und Landflucht.
Veröffentlicht am 29. April 2013 - 13:19 Uhr
Der Name war eines Abends plötzlich einfach da, wie aus dem Nichts gekommen lag er nach dem Handballtraining des KTV Muotathal in der verschwitzten Luft der Garderobe, Wayne Gwerder konnte nichts dagegen tun. «Dr Einzig», so wollten sie ihn fortan nennen im Dorf. Den Einzigen. Weil in dieser Gegend jeder einen Übernamen hat und weil er ja auch der Einzige war: Der einzige Dunkelhäutige im ganzen Tal.
Das ist jetzt mehr als zehn Jahre her, der Einzige ist 29-jährig, und manchmal sitzt er im Bus vom Kantonshauptort Schwyz heim ins Muotatal, wo er lebt, seit er 1990 als Sechsjähriger aus Jamaika hergekommen ist. Der Weg dorthin führt vorbei an einem stillen Platz mit viel Schatten selbst an sonnigen Tagen, eingeklemmt zwischen den stotzigen Hängen des Stooshorns des Kapuzinerwalds. Grünenwald heisst der Ort. Nur zwei Häuser stehen dort, das eine ist leer und das andere heruntergekommen, doch der Bus hält fast immer. Öffnet schnaubend die Türen und lässt traubenweise junge, dunkelhäutige Männer aussteigen, die zurückkehren ins Durchgangszentrum für Asylsuchende. Wenn dann am Steuer ein Chauffeur sitzt, der die Strecke selten fährt und den Einzigen nicht kennt, kommt es vor, dass er sich nach ihm umdreht und ihn mustert, wie er dasitzt, jung und dunkelhäutig. Dass er ihn dann fragt: «Was ist? Musst du nicht raus hier?»
In solchen Momenten erinnert sich Wayne Gwerder an seine Zeit in Zürich und wie sich dort nie jemand um seine Hautfarbe geschert hat, und er denkt: «Was tue ich eigentlich noch hier?»
Muotathal im Muotatal. Die Gemeinde heisst wie das Flusstal, in dem sie sich befindet, schreibt sich jedoch mit «th»; die Einheimischen reden bloss vom «Tal», als gäbe es auf der ganzen Welt kein anderes. Mächtige alte Bauernhäuser im Talboden, etwas ausserhalb des Dorfs das Minoritinnenkloster St. Josef, das Dorf selber zur Hauptsache eine Hauptstrasse, um die sich Häuser scharen. Gut 3500 Einwohner, die sich Thaler nennen. Käse- und Älplermarkt jeweils im Herbst, Laientheater im Winter. Eine Handballmannschaft, die gut in den oberen Ligen mitspielen mag, ein Kino, das auf Digitaltechnik umgerüstet hat, ein Möbelfabrikant, der in Bern im Ständerat sitzt. Ansonsten Landwirtschaft, kleines Gewerbe und viel Eigensinn.
Im Gasthaus Post sitzt der Schreinerpraktiker Wayne Gwerder am Stammtisch vor einem Glas Citro, Kinnbart, die Haare zu Dreadlocks geflochten, es ist, sagt er, seine Lieblingsbeiz. An der Wand hängen Familienwappen: Betschart, Gwerder, Ehrler, Föhn, Blaser. Wayne Gwerder sagt: «Die Thaler, das ist ein Menschenschlag für sich. Stolz darauf, von hier zu sein, aus dem Tal. Kommt einer von draussen, hat ers schwer. Denn mit denen von draussen wollen die gar nicht viel zu tun haben.»
Das mag daran liegen, dass die Muotathaler sehr lange unter sich blieben. Eine Strasse talauswärts gibt es erst seit 1865, die Jahrhunderte davor war das Dorf nur über Säumerpfade mit der Aussenwelt verbunden. Der raue Wind der Weltgeschichte fegte nur einmal durchs Tal: im Oktober 1799, als sich Russen und Franzosen im Muotatal wüste Gefechte lieferten. Den Namen des russischen Generals Alexander Suworow kennt jedes Kind, und bis heute scheint er dafür zu stehen, dass von draussen nicht viel anderes kommen kann als Leid und Verheerung.
Die Muotathaler mit ihrem breiten Dialekt gelten als eigensinnig, als sture Grinden, doch das kümmert sie nicht weiter. Sie zelebrieren sich als Rebellen wider den Zeitgeist, als eine Art gallisches Dorf. Die Gemeinde schreibt auf ihrer Website: «So erhalten wir sprachliche, musikalische und andere Eigenheiten, die in einer Zeit der Angepasstheit mehr und mehr Seltenheitswert in der Schweiz bekommen.» In dieses Muotathal kommt im Winter 1990 ein sechsjähriger Bub mit krausem Haar und brauner Haut, direkt aus Kingston, Jamaika. Seine Mutter hatte sich verliebt in einen jungen Muotathaler, den die Sehnsucht nach Sonne und Reggae regelmässig ans Ufer der Karibikinsel spülte, der sie heiratet und hinüberholt, von der Insel ins Tal. Sie nimmt ihren Sohn aus einer früheren Beziehung mit: Wayne, Enkel des Alton Ellis, Pianist und Sänger, in den sechziger Jahren als gefeierter Rocksteady-Star so etwas wie der Vorgänger von Bob Marley.
Der kleine Wayne hat von der Welt zu diesem Zeitpunkt noch nicht viel mehr gesehen als die bunten Häuser seiner Nachbarschaft in einem Aussenviertel Kingstons. Dennoch nimmt ihn der Umzug in das Tal am anderen Ende der Welt nicht sehr mit, zumindest am Anfang. Er findet schnell einen Kumpel, kommt keinen Moment auf den Gedanken, er könnte «dr Einzig» sein. Sein neuer Muotathaler Freund, strohblond, begegnet ihm mit rührender Farbenblindheit: Als Gwerders einmal bei der befreundeten Familie zum Essen eingeladen sind, schlägt er Wayne vor, die Pullover zu tauschen, um zu sehen, ob die beiden Elternpaare merkten, dass sich ihre Söhne für den jeweils anderen ausgeben.
Diese Zeit geht jäh zu Ende, als der dunkelhäutige Junge schreiben und rechnen lernen soll und mit dem Schulranzen auf dem Rücken ins Bewusstsein der Thaler tritt. «Die meisten Leute hier kannten dunkelhäutige Menschen bestenfalls aus dem Fernsehen», sagt Gwerder in der «Post» und blickt ins Leere. «Ich bekam deutlich zu spüren, dass ich anders war.» Gwerder mag sie nicht aufzählen, die Provokationen und Beleidigungen von jungen und alten Thalern, die seine Schulzeit über auf ihn einprasselten. Er sagt nur: «Es gibt keine Beschimpfung, die ich nicht gehört hätte.»
Der Schüler Wayne Gwerder setzt sich zur Wehr gegen Gehänsel und Geprügel, gibt zurück, verbal, manchmal mit der Faust; sehr oft steckt er einfach ein, in der Hoffnung, nicht zusätzlich Aufmerksamkeit zu erwecken. Erst später wird ihm auffallen, wie fieberhaft er sich geduckt und angepasst hat in seiner Kindheit. Wie sehr er immer um Unauffälligkeit bemüht war; um so viel Unauffälligkeit, wie sie ein Dunkelhäutiger in Muotathal eben haben kann.
In einem anderen Dorf, glaubt Gwerder heute, wäre ihm das nicht passiert. In einer Stadt schon gar nicht. «Das liegt an diesem Selbstverständnis hier, an dieser geschlossenen Dorfgemeinschaft, die festlegt, was die Norm ist, und die jeden zurechtstutzen will, der davon abweicht», sagt er. Wobei das Dorf mit seiner Vorstellung von Normalität erstaunlich flexibel umzugehen wisse – er habe das an Death-Metal-Fans beobachten können, die zum Open Air ins Tal pilgerten, mit langen Haaren und tätowierter Haut. «Die sahen zwar auch anders aus, aber sie kamen, gaben ihr Geld hier aus und verschwanden», sagt Gwerder. «Ich dagegen sah anders aus und blieb.»
Im Jahr 2005 verlässt der Einzige als 20-Jähriger das Tal und zieht hinaus nach Zürich, für eine Ausbildung als Pflegeassistent. Die Stadt verwirrt ihn, die Hektik, der Lärm, das Menschengewimmel. Er vermisst das Muotatal, hat Mühe, Freundschaften zu knüpfen. «Anstand, Hilfsbereitschaft, die Leute grüssen, Zeit für einen kurzen Schwatz: All das schien in der Stadt überhaupt keine Rolle zu spielen», sagt er.
Dafür entdeckt Gwerder in Zürich, wie Freiheit schmeckt. Kein Mensch glotzt ihn hier blöde an, keinen kümmert es, wenn er mit extrabreit geschnittenen Hip-Hop-Hosen und einem weiten Pullover durch die Strassen schlendert. Der Muotathaler findet Discos und Klubs, in denen Exil-Jamaikaner verkehren, schlägt sich tanzend die Nächte um die Ohren. «Plötzlich konnte ich mich selber sein, ich musste mich nicht ducken, niemand zwängte mich in eine Norm hinein. Ich führte ein Leben, wie ich es im Tal nie kennengelernt hatte.»
Probleme beendeten den Ausflug: Gwerder, heimgesucht von epileptischen Anfällen, den Spätfolgen einer Operation, muss die Ausbildung nach zwei Jahren abbrechen. Er kehrt zurück und merkt: Es hat sich wenig verändert. Die Dorfgemeinschaft hat ihre Mitglieder fest im Blick, jede Bewegung wird registriert, jede Extravaganz macht die Runde. Gwerder grinst, am rechten Ohr blitzt ein Ohrring auf, er sagt: «Darum lauf ich hier nicht mit denselben Klamotten herum wie in Zürich.»
Seither ist der Einzige ein bisschen gestrandet im Tal. Möchte eigentlich weg. Nach Schwyz, nach Zürich, nach Kingston, Jamaika. Und möchte eigentlich bleiben. Das Muotatal ist zur Heimat geworden und er selber zum Thaler. Er spricht wie ein Thaler, seine Freunde sind Thaler, er jasst und geht an die Fasnacht. Ein Aussenseiter hat er spätestens an jenem Abend aufgehört zu sein, als er nach dem Handballtraining seinen Übernamen verpasst bekam.
In der «Post» sitzt der Einzige und sagt trotzig: «Wahrscheinlich geh ich fort.»