Verweis als letztes Mittel
Niemand spricht gern darüber: 5000 Jugendliche in der Schweiz brechen pro Jahr vorzeitig die Schule ab. Nicht immer freiwillig.
Veröffentlicht am 28. März 2011 - 11:34 Uhr
Raubüberfall auf der Schulreise: Vier Gymnasiasten aus dem Bernbiet überfielen Anfang Februar ein Pärchen in Berlin und nahmen es aus. Für die Schulkommission ihres Gymnasiums Köniz-Lerbermatt ein klarer Fall – die Tat der vier Schüler verlangte nach einer drastischen Massnahme. «So etwas können wir nicht tolerieren», erklärt Rektor Hanspeter Rohr. Auf Antrag der Schulleitung verhängte das Gremium einen zwölfwöchigen Schulausschluss – die härteste Strafe, die gemäss Disziplinarrecht des Kantons Bern möglich ist. Teil der Strafe ist ein neunwöchiger Sozialdienst, den die vier Jugendlichen zu leisten haben. Hanspeter Rohr hofft, «dass die Massnahme einen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung leistet».
Schwierige Situationen mit Schülerinnen und Schülern, die zu Ausschlüssen oder gar Abbrüchen führen, sind für Schulen ein heikles Terrain. Anders als Rektor Rohr, der den Ruf seines Gymnasiums zu verteidigen hat, sprechen Lehrerinnen oder Schulleiter in der Öffentlichkeit sehr ungern über das Thema. Dabei ist es nichts Ungewöhnliches, dass Jugendliche von der Schule fliegen: «Tausende Jugendliche scheitern jedes Jahr in unserem Bildungssystem», lautet das Fazit einer Studie mit 3700 Jugendlichen, die vor kurzem an der Uni Freiburg durchgeführt wurde. Schweizweit 2,7 Prozent – das sind hochgerechnet 5000 Jugendliche – brechen demnach jedes Jahr vorzeitig die Schule ab. «Das Interesse an unseren Resultaten ist riesig», stellt Studienleiterin Margrit Stamm fest. «Doch die Schulen haben grosse Mühe, sich dem Thema öffentlich zu stellen.»
Dass Schulabbruch ein Tabu ist, bekam auch der Beobachter zu spüren: Viele Anfragen zum Thema mündeten ins Leere. Schliesslich antwortete Michel Tschanz, Schulleiter an der Kreisschule Untergäu SO, zusammen mit dem Lehrer Beat Borer*. Die Kreisschule Untergäu, in eine vorstädtische Umgebung eingebettet und von Problemen der schlimmsten Sorte weitgehend verschont, definiert sich als «leistungs- und zielorientierte» Schule. «Gegenseitige Wertschätzung, Achtung, Ehrlichkeit und Toleranz bilden die Basis unseres Schulalltags» – dieser Satz steht als Grundwert im Leitbild. Darüber hinaus gelten strenge Regeln: Anstandspflicht, Pünktlichkeit, generelles Tabak-, Alkohol- und Drogenverbot, striktes Kaugummiverbot, keine Mützen im Schulhaus, Handy- und MP3-Player-Verbot, keine «Schauveranstaltung» von Zärtlichkeiten, kein Herumsitzen am Boden und auf den Treppen.
Von den allermeisten Schülerinnen und Schülern würden diese Regeln akzeptiert: «Wir fahren eine gerade Linie, in den Augen mancher vielleicht sogar eine harte», sagt Schulleiter Tschanz. «Der positive Nebeneffekt ist, dass wir praktisch keine Gewaltvorfälle haben.» Bei Verstössen gegen die Schulordnung drohen Sanktionen, «schwerwiegende Vergehen» haben disziplinarische Massnahmen wie Schulausschluss oder Schulverweis zur Folge. Solche Fälle sind zwar selten, aber sie kommen vor.
«Meist fangen die Probleme bei schlechten Leistungen an», erzählt Lehrer Beat Borer. «Ungenügende Noten, ein schlechtes Zeugnis, der drohende Abstieg in ein tieferes Niveau – unter solchen Vorzeichen leidet automatisch die Beziehung zur Lehrperson. Es kommt zu Spannungen, die sich auf die ganze Klasse übertragen können. Dann leidet alles. Ein einziger Schüler ist unter Umständen imstande, den gesamten Unterricht lahmzulegen.»
Bei ihm selbst sei es – «Holz anfassen» – noch nie dazu gekommen, dass er einTime-out hätte aufgleisen müssen; als Klassenlehrer habe er es stets geschafft, Schwierigkeiten mit Hilfe von Gesprächen, auch mit den Eltern, aus dem Weg zu räumen. «Dass aber Schülerinnen oder Schüler fehlen, weil sie eine Zeitlang ausgeschlossen wurden, das erlebe ich als Fachlehrer hin und wieder.»
Wie kommt es zu einem solchen Schulausschluss oder gar -abbruch? Passiert es «aus heiterem Himmel», wie es angeblich bei den Könizer Gymnasiasten der Fall war? Schulleiter Tschanz schüttelt den Kopf: In der Regel sei es kein Ad-hoc-Vorgehen, sondern ein langer Prozess, der sich bei vielen schon in der Primarschule oder gar im Kindergarten anbahne. «Bis ich ein Time-out verfüge, bis ich als Schulleiter bei Problemen überhaupt auf den Plan trete, muss im Vorfeld sehr, sehr viel passiert sein», sagt Tschanz und verweist auf den Leitfaden, den das kantonale Erziehungsdepartement für schwierige Situationen bereithält. Tatsächlich taucht der Begriff «Schulausschluss» erst am unteren Rand des Ablaufverfahrens auf.
In viereinhalb Jahren hat Tschanz etwa zehn Jugendlichen ein ein- bis zweiwöchiges Time-out verordnet. Die Eltern müssen in dieser Zeit die Aufsichtspflicht wahrnehmen. «Ein Vater hat für seinen Sohneinen kompletten Wochenarbeitsplan erarbeitet», erzählt Tschanz. «In einem anderen Fall brachte eine alleinerziehende Mutter ihren Sohn mit der Aussage in Verlegenheit, dass sie seinetwegen kurzfristig eine Woche Ferien nehmen müsse.» Das Timeout soll bei den Jugendlichen ein Umdenken bewirken – was etwa bei der Hälftegelinge. «Manche sind nachher wie umgedrehte Handschuhe und geraten bis zum Schluss ihrer Schulzeit in keine nennenswerten Schwierigkeiten mehr», so der Schulleiter. Die andere Hälfte hingegen falle nach kurzer Zeit ins alte Fahrwasser zurück. Auch ein Wechsel an eine andere Oberstufe bringe dann meistens nichts.
Dass Jugendliche von der Schule fliegen – auch das hat Michel Tschanz schon mehrmals «verantwortet», wie er sagt. Meist handelt es sich um Repetenten, die zwar noch die Oberstufe besuchen, aber bereits im zehnten oder elften Schuljahr sind. Wer in dieser Situation «schwerwiegende Verfehlungen» begeht, wird innert wenigerTage unter Umständen auch mitten im Schuljahr von der Schule gewiesen. Die Gründe, die der Schulleiter aufzählt: Desinteresse, Arbeitsverweigerung, Stören des Unterrichts, respektloses Verhalten gegenüber Mitschülern und Lehrpersonen,Lügen, verbale Entgleisungen, Facebook-Terror. «Jugendliche, die sich so verhalten, die wollen einfach nicht mehr, die sind schulmüde bis zum Umfallen, die brauchen wirklich etwas anderes», resümiert Michel Tschanz. Und die Erfahrung zeige, dass solche «Drop-outs» häufig den Rank doch noch irgendwie fänden und erfolgreich ins Berufsleben einsteigen würden.
Dass einzelne Schulen die Abbrüche «provozieren», wie die Studie der Universität Freiburg festhält, lässt Tschanz für seine Kreisschule nicht gelten. «Wir tun wirklich unser Möglichstes, um die Jugendlichen an der Schule zu halten», sagt er. «Und wenn es zum Abbruch kommt, dann ist es keine Freude. Aber wir betrachten es auch nicht als Versagen.»
Generell jedoch liesse sich die Haltekraft der Schulen noch massiv verbessern: Dieser Überzeugung ist Lehrer Bruno Grossen aus Frutigen BE. Er unterstützt Stamms Einschätzung, dass es sich die Lehrerschaft oft zu einfach mache. Der 39-Jährige unterrichtet Jugendliche, die ein zehntes Schuljahr absolvieren – «prädestinierte Drop-outs», wie Grossen sagt. Denn wer hierlande, habe oft keine Lehrstelle gefunden und zu Hause wenig Unterstützung, umim Berufsleben Fuss zu fassen. «Die kantonale Vorgabe ist klar: Wer nicht motiviert ist, dem droht der Verweis», sagt Bruno Grossen. «Und in der Regel hat man bei Problemfällen als Schule zwei Möglichkeiten: Entweder schaut man weg, oder man handelt restriktiv.»
Grossen und sein Kollegium in Frutigen hingegen haben sich für einen dritten Weg entschieden: sich mit den Problemen der Jugendlichen auseinanderzusetzen. «Ich will herausfinden, was eine Schule tun kann, damit es weniger Drop-outs gibt», sagt er. Erste Schritte sind bereits getan: In seinem Projekt «Begleitetes Arbeiten» lernen die Jugendlichen unter Aufsicht, Hausaufgaben zu erledigen und Bewerbungen zu schreiben. Zudem hat Grossen einen Sozialarbeiter engagiert, der einmal wöchentlich mit den Schülern arbeitet. Ohne diese Angebote, davon ist der Lehrer überzeugt, wäre die Drop-out-Quote auch an seiner Schule höher.
Aber es gibt sie auch in seiner Klasse, trotz allem Engagement. «Wir müssen wohl akzeptieren», sagt Bruno Grossen, «dass man nicht alle Jugendlichen an der Schule halten kann.»
*Name geändert
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