Der Staat zahlt mit
Wenn Eltern ihre Knaben beschneiden lassen, zahlt oft auch die Allgemeinheit. Grosse Kinderspitäler verrechnen für diese Wunschoperationen keine kostendeckenden Tarife.
Veröffentlicht am 12. Oktober 2015 - 18:29 Uhr
Das Berner Inselspital gibt zu, dass die von den Eltern zu bezahlende Pauschale von 1500 Franken zu tief ist: «Dieser Betrag liegt deutlich unter den Kosten, die uns in der Infrastruktur einer Universitätsklinik für eine tagesklinische Operation entstehen», heisst es in einer Mail von Steffen Berger, dem Chefarzt der Kinderchirurgie, an seine Kollegen. Die Differenz zu den tatsächlich entstehenden Kosten betrage «einige hundert Franken», bestätigt das Inselspital auf Anfrage.
Keine Angaben macht das grösste Berner Spital dazu, wer die ungedeckten Kosten übernehmen muss. Es ist auf jeden Fall die Allgemeinheit – entweder über die Krankenkassenprämien oder über die Steuerrechnung, je nachdem, ob der Fehlbetrag über den ambulanten oder den stationären Spitalbereich abgebucht wird.
«Diese Schädigung kann nie und nimmer im Interesse des Kindes sein.»
Christoph Geissbühler, Präsident des Vereins Pro Kinderrechte Schweiz
Recherchen des Beobachters zeigen, dass das Inselspital nicht allein ist mit seiner fragwürdigen Praxis. Einzig das Kinderspital Zürich kennt nach eigenen Angaben keinen Pauschaltarif, sondern rechnet je nach Alter und Aufwand nach Taxpunkten ab. Das Kinderspital beider Basel verrechnet pauschal nur 1100 Franken. Dieser Betrag belaste die Eltern «erfahrungsgemäss bereits maximal», begründet Sprecherin Martina Codamo den tiefen Tarif. Das Defizit decken die Trägerkantone, also die Steuerzahler von Basel-Stadt und Baselland. Auch das Zentralschweizer Kinderspital des Kantonsspitals Luzern legte die Pauschale auf etwa 1100 Franken fest.
1200 Franken kostet der Eingriff am Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen. Dieser Betrag sei «gerade kostendeckend», sagt Chefarzt Thomas Franz Krebs. In rund der Hälfte aller Wunschbeschneidungen kommt aber nur der reduzierte Tarif von lediglich 350 Franken zur Anwendung. Dann nämlich, wenn die Vorhautbeschneidung als Zweiteingriff einer anderen Operation, etwa am Blinddarm, vorgenommen wird und diverse Kosten, etwa für die Narkose, wegfallen. «Wir machen den Eltern klar, dass wir die Beschneidung der Vorhaut aus religiösen oder rituellen Gründen nicht befürworten», sagt Chefarzt Krebs. «Aber wenn wir sie nicht überzeugen können, dann ist es unsere Aufgabe, zumindest die Risiken zu minimieren.»
Patientenschützerin Margrit Kessler hat Verständnis dafür, dass die Spitäler keine kostendeckenden Tarife verrechnen, weil die Knaben so vor «unprofessionellen Beschneidungen in ihrem Heimatland» bewahrt werden könnten. Das könne «katastrophale Folgen» haben, zum Beispiel eine Verengung der noch verbleibenden Vorhaut, die später nachoperiert werden muss, Vernarbungen oder Infektionen. «Die Kosten für diese Nachbehandlungen müsste dann die Krankenkasse übernehmen», so Kessler.
Alle angefragten Spitäler und Ärzte betonen, dass sie den überwiegend jüdischen und muslimischen Eltern von der Beschneidung abraten. Seit einem vielbeachteten Urteil eines deutschen Gerichts, das die Beschneidung von Jungen als strafbare Körperverletzung qualifizierte, sind die Spitäler vorsichtig geworden (siehe Beobachter Nr. 16/2012). Man führe den Eingriff nur nach einer Abwägung des Einzelfalls – mit sorgfältiger Prüfung des Kindswohls – durch und nur wenn beide Eltern respektive alle Erziehungsberechtigten zustimmten.
Der Verein Pro Kinderrechte Schweiz sieht im Eingriff eine «schwere Verletzung der sexuellen Integrität» der betroffenen Knaben. Vereinspräsident Christoph Geissbühler findet es «unhaltbar», dass Schweizer Ärzte «heute noch trotz besseren Wissens» einen solchen nicht notwendigen Eingriff sogar unter den effektiven Kosten durchführen. «Eine solche Schädigung kann nie und nimmer im Interesse des Kindes sein.»