Showdown im Schrebergarten
Die Aktuarin eines grossen Familiengartenvereins entdeckt Günstlingswirtschaft und Rechtsverstösse – und will nicht schweigen. Doch sie beisst überall auf Granit.
Veröffentlicht am 19. Juni 2015 - 13:53 Uhr
Zweihundert Augenpaare ruhen auf Isabelle Meyer*, als sie zu ihrer Rede ansetzt. Der Saal des Schützenhauses Albisgütli in Zürich ist bis auf den letzten Platz besetzt. Meyer ist nervös, verhaspelt sich. War das schlecht!, denkt sie, als sie fertig ist. Sie irrt sich. Ihr Märchen vom Volk, das sich vom herrschsüchtigen König über den Tisch ziehen lässt, überzeugt: Die Mitglieder des Familiengartenvereins (FGV) Wiedikon wählen sie erneut in den Vorstand. Dabei wollte der Präsident sie weghaben. Deshalb hat er an der Generalversammlung vorne auf dem Podium einen neuen Aktuar platziert. Nach Meyers unvorhergesehener Bestätigung im Amt räumt dieser konsterniert seinen Sitz.
«So eine aufwühlende Versammlung habe ich noch nie erlebt», sagt eine Teilnehmerin. Sie habe für Isabelle Meyer gestimmt. Diese scheine etwas aufgedeckt zu haben. Doch bei den meisten Familiengärtnern sind die Turbulenzen schnell vergessen – sie freuen sich aufs offerierte Essen. Sie sind in diesem Verein, um in Ruhe ihre Freizeit zu verbringen, nicht, um zu politisieren. Von der Generalversammlung gibt es bis heute kein Protokoll.
Die Schrebergärten des FGV Wiedikon sind schön gelegen, am Fuss des Üetlibergs. Mit 776 Pächtern ist er der zweitgrösste Familiengartenverein in der Stadt Zürich. Ein Familiengarten ist ein Stück heile Welt, eine Oase der Erholung. Doch hinter dem idyllischen Schein verbergen sich im Quartier Wiedikon offenbar Strukturen, wie man sie sonst in weltumspannenden Sportverbänden antrifft. Dieses Bild vermitteln jedenfalls Isabelle Meyers Schilderungen, für die es stichhaltige Belege gibt.
«Ich wollte einen Zufluchtsort draussen zwischen Johannisbeersträuchern und Pfingstrosen, auch für mein Kind.»
Isabelle Meyer*
Die Mittvierzigerin ist seit 2008 Pächterin im FGV Wiedikon – obwohl sie eigentlich gar keine Gärtnerin ist. «Ich wollte einen Zufluchtsort draussen zwischen Johannisbeersträuchern und Pfingstrosen, auch für mein Kind.» 2013 fragt sie der damalige Präsident, ob sie im Vorstand mitmachen wolle: Man suche eine Aktuarin; sie als Kommunikationsexpertin scheine wie geschaffen dafür.
Meyer wird gewählt und ist hochmotiviert, sich ehrenamtlich zu betätigen. Doch was sie erlebt, schockiert sie. Statt des ehrenamtlichen Engagements trifft sie diktatorisches Gehabe und Günstlingswirtschaft an. Der Umgangston ist barsch, und sie soll manches nicht ins Sitzungsprotokoll aufnehmen – beispielsweise die auffällig hohe Zahl gekündigter Gärten. Meyer spricht von Willkür. Sie weiss: Jede neue Gartenübergabe spült Geld in die Kassen. Aber wer profitiert davon?
Zum «Gemauschel» passt, dass die Jahresrechnung nicht publiziert wird. Der damalige Kassier verrät ihr, dass Präsident und Vize je 10000 Franken Lohn pro Jahr plus weitere Entschädigungen erhalten. Für eine «ehrenamtliche» Tätigkeit eine extrem hohe Summe, die nirgends klar deklariert wird. Zwischen 2011 und 2014 wurden die Vorstandshonorare um satte 400 Prozent erhöht, die Mitgliederbeiträge auf 200 Franken pro Jahr verdoppelt.
Was lange gegärt hat, tritt an einer Vorstandssitzung im Sommer 2014 offen zutage. Als Isabelle Meyer fragt, ob auf die fürstlichen Löhne ordentlich Sozialabgaben entrichtet würden, raunzt der Präsident sie an: «Das geht dich gar nichts an.» Allerdings hat sie als Vorstandsmitglied das Recht auf Einsicht in die Bücher und ist grundsätzlich bei finanziellen Verfehlungen des Vereins haftungspflichtig. Doch der Zugang zu den Finanzen wird ihr verweigert. Das macht sie stutzig.
Der Verein sei jahrelang nach Belieben von Präsident und Vizepräsident gesteuert worden, sagen Mitglieder. Als starke Figur wird der langjährige Vize beschrieben, der seit 2015 Präsident ist. Eine Pächterin erlebt ihn als wenig vertrauenswürdig; der Mann weiche direktem Augenkontakt aus. Vom Beobachter mit zahlreichen konkreten Fragen konfrontiert, nimmt der Präsident trotz wiederholter Aufforderung keine Stellung. Als Isabelle Meyer weiterhin unbequeme Fragen stellt, wird sie im Oktober 2014 vom Vorstand «freigestellt» – allerdings widerrechtlich: Nur die Vereinsbasis kann einem Vorstandsmitglied das Amt entziehen.
Ähnlich ist es Kurt Huber* ergangen: «Der Präsident sagte an der Generalversammlung, ich sei zurückgetreten. Das stimmte gar nicht.» Doch Huber resignierte und verliess den Vorstand des FGV Wiedikon 2013, nach langem Streit. Der Garten war ihm – statutenwidrig – ohne vorherige Mahnung gekündigt worden. Er beklagt den beleidigenden Umgang des heutigen Präsidenten, der «nicht für, sondern gegen die Vereinsmitglieder» arbeite.
«Der Präsident sagte an der Generalversammlung, ich sei zurückgetreten. Das stimmte gar nicht.»
Kurt Huber*
Isabelle Meyer hat ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl und kann hartnäckig sein, wenn es verletzt wird. Manche bezeichnen sie als «Wadenbeisserin». Nach ihrer «Freistellung» schreibt sie die Vereinsmitglieder an. Sie prangert «antidemokratische» Zustände an, Verletzung der Sorgfaltspflicht, «Günstlingswirtschaft», Verstösse gegen das Vereinsrecht sowie «Selbstbedienung» der Funktionäre. Wichtige Vereinsbeschlüsse würden «autonom nach einem Vier-Augen-Prinzip» gefasst, «ausserhalb der Vorstandssitzungen». Doch der Aufstand der Vereinsmitglieder bleibt aus. Die gemütlichen Schrebergärtner lassen sich nicht aus der Reserve locken.
Meyer wird ab Herbst 2014 nicht mehr zu den Vorstandssitzungen eingeladen, doch sie beginnt zu recherchieren. Sie findet heraus, dass der Verein bei der Sozialversicherungsanstalt Zürich – der Behörde, an die Sozialabgaben entrichtet werden – nicht registriert ist. Ob der FVG Wiedikon seine Steuerpflicht erfüllt, will das kantonale Steueramt dem Beobachter «auf Grund des Steuergeheimnisses» nicht sagen.
Vereine sind grundsätzlich steuerpflichtig, gemeinnützige Vereine können sich jedoch davon befreien lassen. Gemäss Jahresrechnung zahlt der FVG Wiedikon keine Steuern, fehlt aber auf der Liste der steuerbefreiten Vereine. Hat der Verein seine Steuerpflicht verletzt? Meyer fragt sich, ob massive Nachtragszahlungen für Steuern und Sozialleistungen auf die Familiengärtner zukommen.
Das Entlöhnungssystem ist undurchsichtig: Der Präsident soll eine GmbH gegründet haben, an die Aufträge des Vereins gehen, etwa für Unterhaltsarbeiten. So würde er sich selber Aufträge zuschanzen. Schleierhaft ist auch, was mit den Provisionen passiert, die bei jedem Gartenwechsel fliessen: Neue Pächter müssen 150 Franken zahlen. Diese «Bearbeitungsgebühr» muss in Wiedikon in bar entrichtet werden. Ein letztes Teil im «Günstlingspuzzle»: Der Verein verrechnet seinen Mitgliedern einen Beitrag für die städtische Bodenschutzstiftung – obwohl die Stiftung diese Beiträge gar nicht mehr erhebt.
Weshalb hat angesichts dieser Zustände im Verein nicht längst eine Behörde interveniert? Die Antwort ist simpel: weil es kein Aufsichtsorgan für private Vereine gibt.
«Das Wort wird mir abgeschnitten, und meine Einwände werden als Quengelei abgetan.»
Isabelle Meier
Auch die Stadt Zürich als Eigentümerin des Bodens fühlt sich nicht verantwortlich. Verpachtet werden die Gärten via Dienstabteilung Grün Stadt Zürich. Vom Beobachter konfrontiert mit Fragen zu Verantwortlichkeiten des FGV Wiedikon, will Grün Stadt Zürich keine Stellung nehmen: Man sei weder Organ noch Aufsichtsstelle für Familiengartenvereine, sondern nur Verpächter der Flächen.
Seit März 2015 nimmt Isabelle Meyer wieder an den Vorstandssitzungen teil. «Allerdings werden meine Traktanden nicht angehört. Das Wort wird mir abgeschnitten, und meine Einwände werden als Quengelei abgetan.» Der Präsident verweigert weiterhin jede Transparenz. Besorgt um die Sicherheit seiner Frau, begleitet Meyers Ehemann sie einmal an die Vorstandssitzung. Dort droht ihm der Präsident, die Polizei zu rufen, wenn er nicht weggehe.
Die Situation ist merkwürdig: Isabelle Meyer prangert zweifelhafte Machenschaften im eigenen Verein an, doch niemand fühlt sich verantwortlich, dagegen vorzugehen. Auch der neue Vereinsvorstand sieht keinen Handlungsbedarf. Doch sie kämpft weiter: «Ich verstehe nicht, wie man sich wissentlich so über den Tisch ziehen lassen kann. Die Vereinsmitglieder werden offensichtlich vorsätzlich getäuscht – vom eigenen Vorstand.»
* Name geändert