Anna Maria Sury hat alle Merkmale einer «typischen Tessinerin»: temperamentvoll, offen, gutgelaunt. Sie redet schnell und lacht oft. Nur bei einem Satz stockt sie, bevor er ihr über die Lippen kommt. «Meine Söhne lassen kaum zu, dass man sie berührt, nicht einmal die Liebkosungen einer Mama», sagt sie leise. Die Zwillinge der 46-Jährigen leiden an Muskeldystrophie des Typs Becker, einer genetisch bedingten Erkrankung, die zu fortschreitendem Schwund des Muskelgewebes führt. Für die beiden heute 16-Jährigen ist Körperkontakt seit jeher mit Schmerzen verbunden.

Bis Familie Sury Gewissheit über die Diagnose hatte, damals 2002, dauerte es acht Jahre. Als die Buben im Alter von zwei Jahren noch nicht gehen konnten, begann eine quälend lange Prozedur von Untersuchungen, denn Gendefekte lassen sich in der Schweiz nur unter strengen Auflagen medizinisch abklären. Nach dem Befund kam bei der Mutter, einer ausgebildeten Krankenschwester, zuerst der Schock - und dann der Kampfgeist. Sie begann sich zu informieren. «Ich wollte mich nicht dem Schicksal ergeben», sagt Anna Maria Sury nun wieder sehr energisch. «Ich wollte Antworten und Lösungen.»

Partnerinhalte
 
 
 
 

«Warum hast du es zugelassen?»
Muskeldystrophie ist unheilbar, doch lässt sich mit physiotherapeutischen Massnahmen eine Linderung erreichen. Die Surys bauten zusammen mit gleichgesinnten Therapeuten in Muralto ein Therapiebad, in dem das Wasser stets 35 Grad warm ist. «Hier haben meine Söhne gehen gelernt. Warmes Wasser ist das Einzige, das ihnen hilft.» Jeden Tag ist Anna Maria Sury mit ihnen im Becken, um Übungen zu machen. Es ist das fortlaufende Aufladen einer Batterie, die nur wenig Energie zurückgeben kann. Jede Anstrengung erschöpft die Teenager rasch. In der Schule reicht die Kraft in den Armen kaum, um mit dem Stift mehr als einen Satz zu schreiben. Dennoch absolvieren sie das Gymnasium weitgehend selbständig. «Sie sind gute Schüler», vermerkt die Mama stolz. Jugendliche Unbeschwertheit hat im Alltag der muskelkranken Zwillinge aber kaum Platz. «Warum hast du es zugelassen, dass ich so leben muss?», habe ihr einer der Buben mal voller Wut an den Kopf geworfen, als es ihm nicht gut ging, erzählt Anna Maria Sury. Ein Vorwurf wie ein Stich ins Herz, auch wenn Sury weiss, dass sie den Entscheid über Leben oder Nichtleben gar nicht hätte treffen können: Keiner der Elternteile trägt das defekte Gen in sich, die Mutation ist bei ihren Söhnen neu entstanden.

Die Frage bleibt darum hypothetisch: Hätte sie das Schicksal beeinflusst, wenn sie die Möglichkeit dazu gehabt hätte? Etwa mittels Präimplantationsdiagnostik (PID), durch die sich Embryos mit beschädigten Genen aussondern lassen? Die Erfahrung hat bei Anna Maria Sury jeden Zweifel ausgeräumt: «Ja, das hätte ich getan. Man muss jede Gelegenheit nutzen, um eine Krankheit zu verhindern.» Die PID, als technischen Vorgang im Labor, befürwortet sie, weil es möglich wird, eine Entscheidung früh zu treffen - und nicht erst, wenn eine genetischer Defekt während der Schwangerschaft entdeckt wird. So etwas sei «ein Trauma». Eine Abtreibung, nein, das käme für sie nie in Frage.

Typische Ausgangslage für eine Selektion
Paola Medici könnte sich auch das vorstellen. Und sie sagt: «Ich hätte darauf verzichtet, Kinder zu haben.» Diese Wahl hat die dunkelhaarige, zurückhaltende Tessinerin nicht gehabt. Als bei ihrem erstgeborenen Sohn Davide das Marfan-Syndrom, eine Fehlfunktion des Bindegewebes, diagnostiziert wurde, war sie mit dem zwei Jahre jüngeren Nicola bereits mehrere Monate schwanger. Auch er kam krank zur Welt. Überträger des defekten Gens war der Vater der Kinder; das fand man später heraus. Wäre dieses Risiko schon vor der Geburt der Buben bekannt gewesen, wäre das eine typische Konstellation für eine Selektion durch PID gewesen - gesundes Leben zulassen, krankes nicht.

Deshalb auch an Paola Medici die Frage, die sich nicht mehr ihr selber stellt, aber vielleicht künftigen Eltern: Soll man den natürlichen Verlauf des entstehenden Lebens korrigieren? «Ma certo!», sagt sie, natürlich soll man. Ihre Stimme ist freundlich, aber der Gesichtsausdruck der 43-Jährigen verrät leises Erstaunen: Was soll falsch daran sein, Leiden abzuwenden?

Paola Medici sagt, sie liebe ihre Buben, so, wie jede Mutter ihre Kinder liebt. Über die Belastung, auch die seelische, die zwei schwer kranke Kinder für die Familie bedeuten, klagt sie nicht - sie erzählt einfach aus ihrem Alltag, das ist Aussage genug. Das seltene Marfan-Syndrom führt zu Deformationen am ganzen Körper. Die Gelenke von Davide und Nicola sind instabil, was mitunter selbst einfachste Bewegungen verunmöglicht. So muss die Mutter jede Nacht mehrmals aufstehen, um ausgekugelte Glieder wieder zu fixieren, für die Kinder eine schmerzhafte Prozedur. Auch Herz und Blutgefässe sind angegriffen - die Aorta könnte jederzeit reissen. Wie hoch die Lebenserwartung der heute 13- und 11-Jährigen ist, können die Ärzte nicht sagen.

Science-Fiction ist zu weit weg
Paola Medici und Anna Maria Sury haben sich über eine Organisation betroffener Familien kennengelernt. Dort ist es ein offenes Geheimnis, dass Eltern auch daran denken, eine PID im Ausland durchführen zu lassen. Deshalb hoffen beide auf eine baldige Zulassung in der Schweiz, samt einem Gesetz, das die Rahmenbedingungen regelt. Dass damit die Tür aufgestossen wird zu missbräuchlicher Nutzung der Fortpflanzungsmedizin, zur Kreation des perfekten Menschen, glauben sie nicht. Science-Fiction ist zu weit weg von ihrer Lebenswirklichkeit.

Und die Bedenken, wonach der Mensch nicht Gott spielen soll? Anna Maria Sury kommt noch einmal in Fahrt. Als sie lange Nächte am Bett ihrer Kinder durchgewacht habe, sei sie näher bei Gott gewesen als jene, die so argumentierten, sagt sie, die gläubige Christin. «Vorwürfe hab ich Gott nie gemacht. Aber ich habe ihm sehr laut Fragen gestellt.»