Friedrich Dürrenmatt: Nachrichten über den Stand des Zeitungswesens in der Steinzeit
An der Prix-Courage-Gala 2002 erfreute Dietmar Schönherr die Gäste mit seiner lebhaften Wiedergabe einer Parodie auf die Entwicklung des Zeitungswesens, die Friedrich Dürrenmatt zum 60. Geburtstag des Beobachter-Gründers Max Ras verfasst hatte. Hier die ungekürzte Originalfassung.
Veröffentlicht am 6. Februar 2002 - 00:00 Uhr
Die jetzige Menschheit macht sich über die Zeit, in der ich gelebt habe, ein ebenso unrichtiges wie merkwürdiges Bild. Man glaubt, die Steinzeit sei ein primitives Zeitalter gewesen, und vergisst, dass die grundlegenden Erfindungen und Entdeckungen, die man heute als selbstverständlich hinnimmt, damals gemacht worden sind. Die Zeichnungen an den Wänden unserer Höhlen haben zwar einiges Interesse zu erwecken vermocht, aber von unserer hervorragendsten Kultureinrichtung, dem Zeitungswesen, hat man bis jetzt noch keine Notiz genommen.
Als jahrhundertelanger Redaktor des «Liassischen Beobachters» den man oft mit der «Neuen Trias-Zeitung», dem Kampfblatt der Konservativen, verwechselt möchte ich in einigen kurzen Zügen die gröbsten Missverständnisse berichtigen und das dunkle Unwissen über unsere Zeit etwas erhellen.
Die Zeitung ist eine der ersten Erfindungen der Menschheit, und diejenige Meinung wird die richtige sein, die sagt, dass die Zeitung die zweite Erfindung überhaupt gewesen ist. Sie wurde nötig, als der Mensch erkannte, dass er die Gabe des Erfindens besass, eine Erkenntnis, die natürlich erst nach der ersten Erfindung des Aufrechtgehens auf ebener Erde mittels der beiden Füsse anstelle des Kletterns auf Bäumen entdeckt werden konnte. Es wurde dem Erfinder blitzartig klar, dass die Erfindungen, die dank dieser Fähigkeit noch zu erwarten waren, nur dann ein Bestandteil der gesamten Menschheit werden konnten, wenn es möglich wurde, sie durch Zeitungen allgemein bekannt zu machen.
Die ersten Zeitungen erschienen noch in Baumrinde geritzt, aber schon im Perm-Zeitalter ging man dazu über, sie in Stein zu ritzen. Die damals aufkommenden Riesensaurier machten das solidere Material notwendig, wie wir ja auch damals anfingen, aus dem gleichen Grunde die Bäume zu verlassen und in Höhlen zu wohnen. Der Stein blieb von da an das bevorzugte Material, zuerst bei uns in Lias natürlich Kalkstein, erst später, als die Alpen hochkamen, verwendeten wir vorwiegend Granit; ich selbst habe im letzten Viertel meiner journalistischen Laufbahn dieses ideale Gestein noch erleben dürfen.
Der «Liassische Beobachter» erschien als einzige Zeitschrift des Mesozoikums jährlich, die «Kreidezeit», das Organ der Fortschrittspartei, versuchte dies auch, ging jedoch ein, um dann später als «Zukunft» wie die andern Zeitungen zehnjährlich herauszukommen. Die «Carbonalzeitung», unser ältestes Blatt, erschien alle hundert Jahre.
Das Herstellen einer Zeitung war eine mühselige und zyklopische Arbeit, die gleichzeitig bärenhafte Kräfte, ein unbeugsames Ertragen der unmenschlichsten Strapazen, unbestechliches Urteil und literarischen Stil verlangte. Es war ein gefährliches Unternehmen, bei dem man den Tod ständig vor Augen hatte, und mancher Kollege wurde unter einem stürzenden Zeitungsblatt, an dem er vielleicht nur noch den Abonnementspreis hinzufügen wollte, für immer begraben.
Der menschliche Geist besiegt jede Schwierigkeit. Besonders im Mesozoikum wurde das Zeitungsschreiben durch grosse Erfindungen und Entdeckungen erleichtert. In meine Zeit fällt vor allem die Entdeckung der Schwerkraft. Ich entsinne mich noch meiner ersten Zeitungsjahre am später gleichzeitig mit dem Jurameer eingegangenen «Jurameerboten». Wir trugen damals noch Wasser ins Tal, und die Bäume fällten wir so, dass wir von oben nach unten ein Stück des Stammes nach dem andern abschnitten und es kletternd mühsam hinuntertrugen.
Die Schwerkraft griff nun im Lias mit ihren Segnungen überall wohltuend und erleichternd ein. Im Zeitungsgewerbe lernten wir den Stein an steilen Bergrücken zu gewinnen und dann hinunterfallen zu lassen. Extraausgaben wie etwa jene anlässlich der Entstehung der Alpen wurden auf runde Steine geschrieben und in die Ebene gerollt, eine Methode, die natürlich die Expedition der Zeitung, die ja der Verlag selbst übernehmen musste, wesentlich vereinfachte. (Die Post wurde in der Tertiärzeit erfunden, also erst beim Beginn des Känozoikums.)
Waren unsere ersten Zeitungen naturgemäss mit Nachrichten über unsere grossen Erfindungen und Entdeckungen angefüllt, von denen ich hier nur die Nutzbarmachung des Feuers und die geschichtemachenden militärischen Erfindungen des Knüttels und des Steinewerfens erwähnen möchte, so änderte sich doch mit der Zeit das Wesen der Zeitung. Hatte sie bis jetzt ausschliesslich der friedlichen und harmonischen Entwicklung des Menschengeschlechts gegolten, so brach nun in der Hauptsache mit dem Lias eine neue und einschneidende Epoche an.
Das friedliche Wohnen auf Bäumen, jenes goldene Zeitalter, von dem unsere Dichter singen, war zwar schon lange vorbei; doch hatte man die Hoffnung nicht aufgegeben, auf sie zurückzukehren. Die Höhlen erschienen den Menschen in der Permzeit als ein vorübergehendes notwendiges Exil; denn sie konnten noch nicht voraussehen, dass die ja erst vereinzelt auftretenden Saurier, vor denen sie in die Höhlen wichen, den Fortbestand der Menschheit in Frage stellen mussten, sie sahen in ihnen kaum mehr als ein launisches und etwas gefährliches Spiel der Natur. Der Lias belehrte uns anders. Wir mussten die Hoffnung, wieder auf die Bäume zu klettern, endgültig fallenlassen, nur utopische Kreise wie die Alt-Konservativen benützten sie noch zu einer weltfremden Propaganda für ihre Partei. Die Saurier waren uns Menschen hundertfach an Grösse und tausendfach an Zahl überlegen. Sie bildeten immer neuere, schrecklichere und phantastischere Formen aus. Sie verpesteten die Luft, zerstampften die Erde, verunreinigten das Wasser. Ihre stets länger werdenden Hälse machten immer tiefere und kompliziertere Höhlen notwendig. Aber nicht nur die Saurier bedrohten uns im Lias. Zu den Schrecken der Tierwelt gesellte sich der Schrecken der Natur. Die Erde selbst veränderte sich. Nicht umsonst hatte sie die ungeheuerlichen Tiere hervorgebracht. Die Alpen schoben sich krachend empor, begleitet von Erdbeben. Die Menschheit fühlte in ihren Höhlen die Berge über sich wanken und wagte dennoch nicht, die schützende Finsternis zu verlassen.
In dieser Zeit stellten sich die Zeitungen voll und ganz dem Menschengeschlecht zur Verfügung. Es ging jetzt nicht mehr darum, den Fortschritt zu gewährleisten; es ging jetzt darum, das nackte Leben zu retten.
Der Lias ist die grosse, heroische Zeit der Steinzeitzeitung. Immer häufiger rollten die Extrablätter und Sondernummern ins Tal und wurden in den langen Winternächten von den Redaktoren an schlafenden Sauriern vorbei über einen ständig wankenden Boden in die Höhle ihrer Mitmenschen gewälzt. Es wurden Nachrichten über die Standorte der Saurierherden verbreitet, Abbildungen und Beschreibungen neuer Formen bekannt gemacht, Prognosen über die demnächst zu erwartenden Erdbeben gestellt. Dazu kamen Schlachtberichte der Kämpfe zwischen einzelnen Sauriern mit einzelnen Menschensippen sowie ausführliche Kritiken dieser Schlachten. So war in jener Zeit des Schreckens die Zeitung oft die einzige Fackel der Freiheit.
Erst die mit überschwenglichen Hoffnungen stürmisch begrüsste Kreidezeit brachte die entscheidende Wendung. Die Saurier verliessen die Gestade des immer mehr eintrocknenden Jurameers, und die Alpen waren endlich, wenn auch mit einigen Jahrtausenden Verspätung, aufgerichtet. Damit jedoch trat der «Liassische Beobachter» seine letzte, leider vergebliche Mission an.
Es ist nicht zu bestreiten, dass die Kreidezeit eine der glücklichsten Epochen der menschlichen Geschichte gewesen ist, obschon ich glaube, dass sie an Grösse und Bedeutung bei weitem nicht an jene des Lias herankommt. Die Menschen bewegten sich wieder frei und ungeschützt auf der Erde, obgleich sie die Höhlen aus Tradition nicht aufgaben. Die Künste blühten. Das Kochen wurde entdeckt. Die strengen Formen der Liasmalerei wichen den impressionistischen der Kreidekultur. Die strengen und genügsamen Sitten der Saurierzeit, die nur auf eine rücksichtslose Erhaltung der Menschheit abzielten, milderten sich, und Spiel und Tanz war beliebt, besonders nach der Erfindung des Händeklatschens.
Wie sehr wir nun auch am «Liassischen Beobachter» diese Dinge bejahen mochten, so entging uns doch nicht, dass ein schwächeres Weltalter angebrochen war, das mit der Zeit eine viel grössere Gefahr werden musste als die Saurier. Wir wurden von einer immer zunehmenderen Sorge erfüllt. Der Charakter der altbewährten Zeitung änderte sich, sie wurde konservativ.
Vor allem war es die Entdeckung der Kreide und ihre Verwendung in der Schreibkunst, die unsere Besorgnis steigerte. Immer mehr Zeitungen wurden mit Kreide geschrieben und wandten sich so den vergänglichen Tagesneuigkeiten zu. Die Vielschreiberei bemächtigte sich der Menschheit. Der reine, lakonische Stil der Liassischen Klassik wurde vergessen. Es zeigte sich deutlich, dass mit der verschwundenen Gefahr auch die Kraft des Menschen erloschen war.
Der «Liassische Beobachter» verlor seinen Kampf. Er ging am Ende des Mesozoikums ein. Es ist dies das schmerzliche Erlebnis meines Alters. Jene dunkle Neujahrsnacht im Jahre Million vor Christi Geburt ist mir noch gut in der Erinnerung, in der das Känozoikum begann. Meine Ahnung sollte sich bestätigen. Schon sah ich die ersten Riesenmammuts vorbeiziehen, erbärmliche Zwerge im Vergleich zu den Sauriern, unfähig, die Menschheit wirklich zu gefährden und so stark zu machen. Die Erfindung der Post beirrte mich nicht. Die Erfindung des Steinschilds gab mir recht, die Hoffnungen, die wir auf den Knüttel und das Steinewerfen gesetzt hatten, stürzten zusammen, der Krieg war nun wieder theoretisch möglich geworden und erfolgte bald praktisch. Der Grund lag in der Erfindung des Staates, die im mittleren Tertiär gemacht wurde.
Aber nicht nur Krieg war die Folge dieser verhängnisvollen und unseligen Erfindung, auch das Zeitungssterben muss darauf zurückgeführt werden. Die Zeitungen konnten nur als internationale Einrichtungen für die gesamte Menschheit leben; der Staat degradierte sie zu Lokalblättern herab, für deren minime Aufgaben sie zu schwerfällig waren. Eine Zeitung nach der andern hörte auf zu erscheinen, und schon im Pliocän war die letzte Zeitung der Steinzeit, das «Organ für Mergel und Gips», eingegangen.