«Da muss er durch»
Noch ist seine Rückkehr ins Arbeitsleben fern – erst muss Andreas Springer seine psychische Erkrankung besser in den Griff kriegen. Die IV verordnet ihm deshalb ein «Aufbautraining». Dieses neue Instrument erhöht den Druck bei der Wiedereingliederung.
Veröffentlicht am 27. März 2009 - 18:24 Uhr
Beobachter-Serie: Der Weg zurück, Folge 3
Menschen mit psychischen Störungen beruflich wiedereinzugliedern, bevor sie eine Invalidenrente beziehen, ist ein vordringliches Ziel der 5. IV-Revision, die seit Anfang 2008 in Kraft ist.
Der Beobachter begleitete den Winterthurer Andreas Springer auf dem langen Weg zurück. Der heute 39-jährige kaufmännische Angestellte erkrankte an der Angststörung Agoraphobie: Sobald er sein gewohntes Umfeld verlässt, erleidet er Panikattacken. Deswegen ist Springer 2006 arbeitsunfähig geworden – nachdem er die Vorboten der Krankheit jahrelang mit Medikamenten unterdrückt hatte. In der Stiftung Espas sucht er wieder den Anschluss: Espas hilft seit 25 Jahren Menschen, die aus gesundheitlichen – mehrheitlich psychischen – Gründen nicht mehr voll leistungsfähig sind, sich wieder in den regulären Arbeitsmarkt zu integrieren.
Es ist spät geworden am vergangenen Abend im Fernsehsessel, bis der Sieg unter Dach und Fach war. Erst nach dem Penaltyschiessen konnte sich Manchester-United-Fan Andreas Springer freuen, dass seine Fussballlieblinge die Champions League gewonnen haben. Möglich, dass er deshalb an diesem trüben Maimorgen etwas zerknittert dreinschaut; zum Rasieren hat es jedenfalls nicht gereicht. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ihm die jüngste Entwicklung seiner beruflichen Wiedereingliederung zu schaffen macht. «Der Weg zum Ziel ist länger geworden», bilanziert Springer. Und voller Ungewissheiten. Seine Miene verrät: Davor graut ihm besonders.
Was ist passiert? Ende April, nach drei Monaten Arbeitsprogramm in der Eingliederungsinstitution Espas in Winterthur, hat die Zwischeneinstufung durch die IV ergeben, dass Andreas Springer trotz Fortschritten die geforderten Leistungsziele nicht erreicht hat. Nötig gewesen wäre eine Leistungsfähigkeit von 50 Prozent, was eine reelle Chance auf eine Rückkehr in den ordentlichen Arbeitsmarkt bedeutet hätte. Springer weiss genau, woran es gelegen hat: «Zu viele Absenzen.» Wegen seiner Angststörung Agoraphobie ist Springer an schlechten Tagen zu Hause gefangen.
Die Antwort auf die Zwischeneinstufung heisst: ein Schritt zurück. Statt weiter die Belastung bei der praktischen Arbeit zu steigern, muss Andreas Springer den Hebel zuerst bei seinen psychischen Defiziten ansetzen. «Aufbautraining», lautet ab sofort die Devise. Dabei handelt es sich um eine der neuen Integrationsmassnahmen, die der Invalidenversicherung seit der Gesetzesrevision Anfang 2008 zur Verfügung stehen. Vordringliches Ziel ist die Einhaltung einer Rahmenstruktur – im vorliegenden Fall die Steigerung der Präsenz und damit das Erreichen einer stabilen Arbeitsfähigkeit von 50 oder mehr Prozent.
Ein Programm, das zurzeit individuell für ihn erstellt wird, soll Andreas Springer dort fördern, wo ihm im beruflichen wie privaten Alltag seine Krankheit im Weg steht: bei sozialen Kontakten, bei ungewohnten Situationen. Der Mann, der sich heute meist nur die paar Kilometer zwischen seiner Wohnung und dem Arbeitsort Espas bewegt, soll seinen Aktionsradius ausweiten, mehr unter die Leute gehen. Dabei wird er auch von seinem Psychiater begleitet und unterstützt. Die Zuteilung ins Aufbautraining möge auf den Betroffenen wie eine Rückversetzung wirken, sagt Rita Bühlmann, bei Espas Winterthur zuständig für den Bereich Eingliederungsmassnahmen. «Doch da muss er durch. Wenn ihm das gelingt, macht er einen grossen Schritt vorwärts.»
Dieser Meinung ist auch Andreas Springer - zumindest der rationale Teil in ihm: «Es ist positiv, dass ich jetzt verstärkt an meinem eigentlichen Problem arbeiten kann.» Es sei nun schon sinnvoll, für die angepeilte Rückkehr in die Berufswelt einen etwas längeren Anlauf zu nehmen. Aber da ist eben auch die Gefühlsebene, da sind diese nagenden Zweifel, die er seit dem Ausbruch seiner Angsterkrankung in sich trägt. Die neue Ausrichtung seiner Wiedereingliederung fordere ihn an seinen Schwachpunkten, und das permanent: «Ich mache mir Sorgen, dass mich das überfordert.» Noch immer falle es ihm schwer, sich selber einzuschätzen.
Tatsächlich steigt für den gelernten kaufmännischen Angestellten der Druck, neben den – hohen – Ansprüchen an sich selbst auch Erwartungen Dritter zu erfüllen. Denn die Massnahmen zur sozialberuflichen Rehabilitation sind keineswegs ein Kuschelprogramm, wie es die Kategorisierung «Aufbauphase» vermuten lassen könnte. Eugen Strahm, Springers Betreuer bei Espas, muss der IV monatlich Bericht erstatten, ob die vereinbarten Ziele, namentlich die Verminderung der Absenzen, erreicht wurden – falls nicht, kann das Aufbautraining jederzeit abgebrochen werden. «Wie bei der Castingshow ‹Deutschland sucht den Superstar›: Man kann immer rausfliegen», so Springer.
Immerhin: Den Schalk hat er nicht verloren. Und auch die Zuversicht nicht, schlussendlich das gesetzte Ziel zu erreichen. Wegmarken dorthin sind nicht zuletzt die kleinen Erfolge im Privatleben. Letzthin habe er es in Begleitung seiner Partnerin erstmals seit Ewigkeiten wieder geschafft, «meinen geliebten Bodensee» zu sehen, erzählt der gebürtige Thurgauer, als ihm das Grübeln über die Ungewissheit bei der Berufsintegration zu viel wird. Winterthur-Arbon retour: eine unendlich weite Reise für jemanden, für den das Reisen aufgrund seiner psychischen Erkrankung der reinste Stress ist. Einfach so am Ufer zu sitzen und aufs weite Wasser zu schauen: «Das war wie eine Belohnung.»
So geht es weiter
Folge 4: Wie viel Druck ist gut?