Was muss zum Leben reichen?
Wer überschuldet ist, darf mehr Geld für sich behalten als ein Bezüger von Sozialhilfe. Warum? Experten kritisieren die Berechnung des Existenzminimums.
Veröffentlicht am 31. Januar 2018 - 11:43 Uhr,
aktualisiert am 24. April 2018 - 15:54 Uhr
Wie hoch ist mein Existenzminimum? Das fragen viele Anrufende an der Beratungshotline des Beobachters. Die Antwort hängt davon ab, weshalb jemand in Not geraten ist.
Wer nicht mehr in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Mittel für ein menschenwürdiges Dasein. So steht es in der Bundesverfassung. Wer wie viel bekommt oder behalten darf, ist dort aber nicht geregelt. Je nach dem Grund, warum jemand nicht mehr über die Runden kommt, ist das Existenzminimum anders definiert.
Eine überschuldete Person hat zum Beispiel ein höheres Existenzminimum zugut als jemand, der auf Sozialhilfe angewiesen ist. Und wenn eine AHV- oder IV-Rente nicht zum Leben reicht, können Betroffene Ergänzungsleistungen beantragen; dadurch kommen sie auf ein weit höheres Existenzminimum als Sozialhilfebezüger. Am tiefsten ist das Existenzminimum für Asylbewerber definiert (siehe Beispiele).
Die Unterschiede sind nicht immer plausibel – und deshalb umstritten. «Die verschiedenen Existenzminima haben sich im Lauf der Zeit unabhängig voneinander herausgebildet», erklärt Felix Wolffers, Co-Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos). «Es gibt in der Schweiz keine Instanz, die für eine einheitliche Festlegung der Existenzminima zuständig ist.»
So bestimmt der Bund etwa die Höhe der Ergänzungsleistungen, hat aber in der Sozialhilfe nichts zu sagen. Sie wird kantonal festgelegt. Dabei gelten ausserdem je nach Gemeinde unterschiedliche Ansätze.
Dieses Nebeneinander verschiedener Systeme und unterschiedlicher Leistungen findet Wolffers wenig sinnvoll. «Es ist Zeit, die Systeme anzugleichen. Dabei könnten regional unterschiedliche Mieten und Krankenkassenprämien durchaus berücksichtigt werden. Die Skos-Richtlinien tun das ja für die Sozialhilfe bereits.»
«Jede staatliche Hilfe an Arbeitsfähige muss deutlich tiefer ausfallen als das geringste im Land bekannte Arbeitseinkommen.»
Andreas Glarner, Nationalrat
Die Bundesverfassung gewährleistet ein «Recht auf Hilfe in Notlagen». Allerdings nur für Bedürftige, die sich nicht helfen können. Für Andreas Glarner, Aargauer SVP-Nationalrat und Kritiker der Skos-Ansätze, ist dieser zweite Teil entscheidend: «Wer sich selber helfen kann, soll weniger Unterstützung erhalten als jemand, dem das unmöglich ist.» Sozialhilfe solle nur helfen, einen vorübergehenden Missstand zu beheben, sonst verkomme sie zu einer «sozialen Hängematte».
Im Jahr 2016 bezogen in der Schweiz 273'273 Personen Sozialhilfe. Das entspricht 3,3 Prozent der Bevölkerung. Auf dem gleichen Einkommensniveau, aber ohne Sozialhilfe zu beziehen, lebten sogar 7 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung (Stand 2015). Im Jahr 2016 waren ausserdem 318'600 Rentnerinnen und Rentner auf Ergänzungsleistungen
angewiesen.
Quelle: Bundesamt für Statistik
«Wenn die Einschränkung massiv ist, rappelt man sich eher wieder auf, um aus der unbequemen Situation herauszukommen», sagt Glarner. Davon ausgenommen werden sollten nur Leute, die infolge echter körperlicher Gebrechen nicht arbeitsfähig sind. «Für sie haben wir aber die IV.»
Verschuldet - 4028 FrankenWer Schulden hat, kann bis auf das betreibungsrechtliche Existenzminimum gepfändet werden. Zum Beispiel: alleinerziehende Frau, verschuldet, mit zwei Kindern, mit Erwerbseinkommen, Kanton Aargau
verfügbarer Betrag pro Monat für auf betreibungsrechtlichem Existenzminimum Lebende
Davon werden das Einkommen der Mutter (im Beispiel 1000 Franken für einen 25-Prozent-Job) abgezogen. Wohnnebenkosten, Schulauslagen für die Kinder oder Franchise und Selbstbehalt der Krankenkasse werden zusätzlich gewährt. |
Mit Sozialhilfe - 3534 FrankenWer kein Erwerbseinkommen hat oder davon nicht leben kann, hat Anrecht auf Sozialhilfe.
verfügbarer Betrag pro Monat für Sozialhilfebezügerin
Der Lohn der Frau (im Beispiel 1000 Franken für einen 25-Prozent-Job) und Unterhaltsbeiträge des Vaters werden abgezogen. Auch bei der Sozialhilfe können zusätzliche medizinische Kosten vergütet werden. Das Sozialamt kann einen Wechsel zu einer günstigeren Kasse oder in ein alternatives Modell verlangen, deshalb ist die Richtprämie tiefer. |
Doch warum soll einem stark Überschuldeten mehr bleiben als jenem, der keine Arbeit mehr findet? «Beim betreibungsrechtlichen Existenzminimum kann man immerhin davon ausgehen, dass noch ein ordentliches Einkommen erzielt wird», sagt Glarner. Und jedem, der noch arbeite, sollte grundsätzlich mehr im Portemonnaie bleiben als einem Sozialhilfebezüger.
Dass Asylbewerber noch knapper gehalten werden als Sozialhilfebezüger, ist für Glarner ebenfalls gerechtfertigt – «wegen der immensen Zahl reiner Wirtschaftsflüchtlinge». Sonst würde die Schweiz zu attraktiv für Migranten.
Welche Auslagen von Sozialhilfebezügern sind durch die Sozialhilfeleistungen gedeckt? Und wie hoch ist der Grundbetrag je nach Personenhaushalt? Beobachter-Mitglieder erfahren mehr dazu unter «Grundbedarf in der Sozialhilfe: Für was muss das Geld ausreichen?».
Der Basler Soziologe Ueli Mäder sieht das anders. Für ihn widersprechen die unterschiedlichen Existenzminima dem Grundsatz der Rechtsgleichheit: «Sie sind flickwerkartig entstanden. Dahinter steckt keine Logik, aber eine Wertung. Davon zeugt besonders der tiefste Ansatz bei den Asylbewerbenden.» Der höhere Ansatz bei den AHV- und IV-Renten sei dagegen erfreulich und erkämpft worden.
Für Ueli Mäder wäre es angemessen, alle Existenzminima zumindest auf das Niveau der Ergänzungsleistungen anzuheben. «Das würde vielen Leuten den Rücken stärken. Die Leistungen werden auch sehr gezielt vergeben. Sie erreichen jene, die darauf angewiesen sind.» Hinzu komme eine hohe Wertschöpfung, weil über die Konsum- und Mietausgaben zusätzlich Arbeitsplätze geschaffen würden. «Das hilft letztlich allen. Denn einer Gesellschaft geht es dann gut, wenn es allen gut geht.»
Asylbewerberin - 810 FrankenWer sich in der Schweiz um Asyl bewirbt, hat Anrecht auf eine reduzierte Sozialhilfe. Zum Beispiel: alleinerziehende Asylbewerberin mit zwei Kindern, ohne
verfügbarer Betrag pro Monat für Asylbewerberin (ohne Wohnen und Krankheitskosten)
Asylbewerbende wohnen in kollektiven Unterkünften und sind kollektiv krankenversichert. Die Kosten trägt der Kanton. |
Mit EL - 5525 FrankenWenn die AHV oder die IV nicht reicht, können Betroffene Ergänzungsleistungen (EL) beantragen. Zum Beispiel: alleinerziehende IV- und EL-Bezügerin mit zwei Kindern, mit
verfügbarer Betrag pro Monat für EL-Bezügerin
Der Lohn der Frau (im Beispiel 1000 Franken für einen 25-Prozent-Job) |
8 Kommentare
Das Existenzminimum mag ja gesetzlich verankert sein, doch vermutet man zum Beispiel eine Erbschaft, die man im Ausland gemacht haben soll, dann kennen die Ämter kein Pardon. Dann wird gepfändet, bis man fast verhungert: 100 Franken pro Monat sollen reichen für Miete, Krankenkasse, Bahnabo und Haushaltsgeld? Wie denn?
Jaya Schmid
Der Grundbedarf ist seit 10 Jahren immer gleich geblieben!
Jetzt haben wir eine Inflation, Energiepreise steigen.
Der Grundbedarf im Kanton Bern ist noch immer gleich hoch!
Wie soll man mit einer Familie in Würde leben können?
Wir, 6-Personen Haushalt.
- Mutter mit chronischer, körperlicher Erkrankung und Depression.
Bezieht KTG und IV-Abklärung
- Kind 1, ADHS
- Kind 2, partielle Taubheit und Autismus Spektrum Syndrom.
- Kind 3, schweres ADHS, braucht spezielle, vom Arzt verordnete Brille, die die Krankenkasse nicht bezahlt
- Pflegekind, auch Probleme
- Ich. Nicht verheiratet, nicht meine eigenen Kinder. Ich kann nicht voll Arbeiten weil die Familie Unterstützung im Haushalt braucht, die Kinder morgens in die Schule begleiten muss, etc.
Betreibungsamt POV: Wir rechnen euch jetzt als Eheleute ein - Grundbedarf weiter gedrosselt, die Kinder und ihre, eigentlich unpfändbaren FAK-Beiträge werden an mein Existenzminimum gekoppelt, was eigentlich nicht gehen dürfte. Mein Existenzminimum nun: 20 Franken.
ZWANZIG FRANKEN!!!
Da kann man sich gleich die Kugel geben!
"Jede staatliche Hilfe an Arbeitsfähige muss deutlich tiefer ausfallen als das geringste im Land bekannte Arbeitseinkommen.» meint der Nationalrat Andreas Glarner. Ich hoffe Herrn Glarner ist sich bewusst, das selbst das geringste Arbeitseinkommen zum Leben nicht reicht. Ich frage mich, wie tief kann das Einkommen noch sinken, bis der Arbeitnehmer entkräftet und ausgezehrt nicht mehr zur Arbeit fähig ist.
Warum wird immer nur mit Müttern alleinerziehend gerechnet (Beispiel) und nicht mit normalen nur verheirateten Erwachsenen? Ich habe eine 50% IV-Rente und bin verheiratet. Unser Kinder sind erwachsen und nicht mehr in der Berechnung zum Leben enthalten. Meine Frau geht 2-3 Job`s nach. Ich bin Koch von Beruf und dies seit über 30Jahren. Doch als Koch mit 50% IV hast du auf dem Arbeitsmarkt fast keine Chance.
Ihr erwähnt immer die Ergänzungsleistungen zur IV-Rente und das es mit dieser Leistung reicht!!!! nie im Leben. Der Grundbedarf ist so niedrig angesetzt das man nicht einmal alles was man braucht kaufen kann. Die Preise steigen halbjährlich und der Grundbedarf alle 10 Jahre um vielleicht 0,005 Prozent.Ich habe eine Wohnung und bezahle mit Nebenkosten 1817.-CHF im Monat. Es ist eine Altbauwohnung und sehr günstig. 5Zimmer. Unsere Kinder leben noch zuhause können aber nichts abgeben da selber in Ausbildung oder beim Sozialamt angemeldet. Heute bekommst du in der Schweiz keine 3 1/2 Zimmerwohnung in der Stadtmehr unter 2300.-CHF. Dazu kommt das man bis jetzt einen Freibetrag von 33% vom Verdienst hatte(also wurde nicht in die Verrechnung genommen) doch jetzt sind es auf einmal nur noch 20%. Schon wieder weniger Geld.
Ich habe mit Lohn von meiner Frau und IV-Rente und Ergänzungsleistungen im Monat 3500.-CHf zum Leben. Das ist kein Existenzminimum