Die verstossenen Schweizer Familien
Wenn sie einen Ausländer heirateten, verloren Schweizerinnen bis 1952 ihr Bürgerrecht. Das bedeutete im Zweiten Weltkrieg für viele Frauen und ihre Kinder den Tod.
aktualisiert am 17. Juli 2017 - 16:09 Uhr
Walter Strauss lehnt sich in seinem Sessel nach vorn und blickt mit wachen Augen zu seiner Frau Margit. «Ich habe mit meiner Mutter in Deutschland immer schweizerdeutsch gesprochen. Aber als ich in der Schweiz ankam, war ich ein staatenloser Bub. Ein jüdischer Flüchtling. Ein Emigrant. Ich war froh, wenn ich am nächsten Tag noch am Leben war», sagt Strauss über die Zeit, als er als 17-Jähriger während des Zweiten Weltkriegs im aargauischen Baden lebte.
Aus den Ferien kannte Strauss Baden, die Heimatstadt seiner Mutter. Sie hatte einen deutschen Arzt aus Heilbronn geheiratet. Walter Strauss war deshalb in der Schweiz nur befristet geduldet. «Hätten sie mich ausgewiesen, wäre es aus gewesen. Ich war keinen Moment sicher, dass ich überlebe.» Im Sommer 1940 sei er jeden Morgen ans Fenster gestürzt und habe geschaut, ob die Flugzeuge der Nazis schon am Himmel seien.
Viele betrachteten damals Frauen wie Strauss’ Mutter als Landesverräterinnen. Schweizerinnen, die einen Ausländer zum Mann nahmen, verloren mit der Trauung das Bürgerrecht und wurden zu Fremden im eigenen Land. Ausnahmen gab es nur wenige. Erst 1952 fiel die diskriminierende Bestimmung, die über 85'000 Schweizerinnen den Pass gekostet hatte.
Die harte Haltung bei der «Ausheirat» von Frauen bestimmte zu jener Zeit weitgehend ein einziger Beamter. Max Ruth verschärfte im eidgenössischen Polizeidepartement 1941 die entsprechende Regelung und überzeugte den Bundesrat, sie in Kraft zu setzen. Ein Bürgerrecht für Frauen mit fremdländischem Mann bezeichnete er als «staatsgefährdend». Im umgekehrten Fall hatte er nichts dagegen, denn die ausländische Frau eines Schweizers sei bloss die «Mitbürgerin des Mannes».
Ab 1939 landeten zahlreiche Gesuche von ehemals Schweizer Jüdinnen auf Ruths Pult. Darin baten die Frauen um Schutz vor Verfolgung und Enteignung und ersuchten ihn um Wiedereinbürgerung. Eine Härteklausel hätte dies ermöglicht. Doch Ruth lehnte alle Anträge ab. Der Spitzenbeamte warnte 1942 gar mit antisemitischem Unterton davor, dass die erleichterte Wiedereinbürgerung ehemaliger Bürgerinnen der Schweiz «vorwiegend Jüdinnen und Judenabkömmlinge» bescheren würde. Das schreibt die Historikerin Silke Margherita Redolfi in ihrer noch unveröffentlichten Dissertation «Die verlorenen Töchter», die im Rahmen eines Nationalfonds-Projekts an der Universität Basel entstand.
Auch Walter Strauss’ jüdische Familie erhielt kein Asyl in der Schweiz. Die Eltern fanden schliesslich in Liechtenstein Zuflucht. Bis Januar 1939 blieb Walter Strauss in Berlin bei Verwandten und machte eine Schneiderlehre. «Ich habe dort extrem viel Judenhass und Gewalt gesehen», erzählt der Geschäftsmann. In der sogenannten Kristallnacht 1938 habe er «ungläubig das grässliche Treiben beobachtet, das sich vor meinem Fenster abspielte». Die Nazis plünderten in jener Nacht jüdische Geschäfte, zündeten über 1000 Synagogen an und ermordeten Hunderte Juden. Strauss wusste, er musste weg.
«Tags darauf ging ich zur Schweizer Botschaft in Berlin und sagte, ich hätte gern ein Visum für die Schweiz. ‹Wir wollen keine Juden›, antwortete mir der Botschaftsangestellte. Dass ich schweizerdeutsch sprach und meine Mutter gebürtige Schweizerin war, hat ihn nicht interessiert», sagt Walter Strauss. Es wird still im Wohnzimmer. Frau Strauss reicht Pralinés. 
Schliesslich konnte er zu seinen Eltern nach Liechtenstein reisen. Doch nur für zwei Wochen. Sein Onkel aus Baden habe ihm eine befristete Bewilligung für den Besuch einer Genfer Handelsschule beschafft. Also fuhr Strauss 1939 nach Genf.
«Am 10. Mai 1940 bestellten mich meine beiden Onkel per sofort von Genf nach Baden. Es war der Tag des Überfalls auf Frankreich. Sie mussten einrücken, und ich sollte sie in ihrer Firma vertreten», erinnert er sich. Als der 17-Jährige wenige Stunden später in Baden aus dem Zug stieg, war die Stadt fast menschenleer. «Alle Männer waren im Militär.» Er ging zur Wohnung seines Onkels und begann in dessen Kleiderfabrik auszuhelfen. «Doch für Baden hatte ich keine Aufenthaltsbewilligung.» Anfänglich erhielt der Minderjährige für jeweils zwei Wochen eine Bewilligung. Später war die Arbeitserlaubnis auf sechs Monate befristet. Sie verpflichtete den Jugendlichen, nach Ablauf der Gültigkeit das Land sofort zu verlassen.
Doch als Walter Strauss Büroarbeiten erledigte, die ihm verboten waren, entzogen ihm die Behörden die Arbeitsbewilligung. «Die Fremdenpolizei schickte mir zweimal einen Brief: ‹Sie haben die Schweiz innert 48 Stunden zu verlassen.› Hätte mein Onkel in Bern nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt, hätten sie mich ausgewiesen. Ich wäre heute nicht mehr da.» Walter Strauss sagt lange nichts. Draussen geht die Sonne unter.
Es sei ihm sehr wichtig gewesen, dass er nach dem Krieg Schweizer werde, betont er dann. «Meine Mutter war ja Schweizerin, aber das hat mir bei der Einbürgerung nichts genützt.» Und der mehrfache Grossvater fügt an: «Ich bin der Schweiz sehr dankbar, dass ich hier sein darf. Ich bin dankbar, dass mir nichts passiert ist bis jetzt. Und ich bin dankbar, dass ich arbeiten kann.» Noch heute fährt der ältere Geschäftsmann viermal pro Woche zur Arbeit in seine Kleiderfabrik. Er leitet sie zusammen mit seinem Sohn.
«Hätte Bundesrat Baumann damals nicht so menschlich gehandelt gegen die offizielen Instruktionen, wäre auch ich heute nicht hier.»
Anita Winter, Tochter von Walter Strauss
Walter Strauss sei der Abschiebung nur dank dem Einfluss seines Onkels entkommen, sagt seine Tochter Anita Winter. Sie hat die Dokumente zur Geschichte ihres Vaters zusammengetragen. «Sein Onkel Alfred Wolf mobilisierte als Fabrikdirektor sein Netzwerk gegen die drohende Ausweisung seines Neffen.» Der damalige Gewerbeverbandspräsident und Nationalrat August Schirmer habe ihm einen Termin bei Bundesrat Johannes Baumann vermittelt. «Hätte Bundesrat Baumann damals nicht so menschlich gehandelt gegen die offiziellen Instruktionen, wäre auch ich heute nicht hier», sagt die Tochter zweier Holocaust-Überlebender.
«Schon als wir noch Kinder waren, hat uns mein Vater von seiner Vergangenheit erzählt. Er wollte, dass wir nie vergessen, wozu Menschen fähig sind.» Anita Winter hat diesen Wunsch als Präsidentin der Holocaust-Überlebenden-Stiftung Gamaraal zum Programm gemacht. An Vorträgen und Konferenzen thematisiert sie auch die Erfahrungen ihrer Eltern.
Heute verlören weder Walter Strauss noch seine Mutter den Schweizer Pass – trotz ausländischem Vater beziehungsweise Ehemann. Doch damals haben die Behörden ausgebürgerte Schweizerinnen an der Grenze zurückgewiesen. Selbst im Wissen um die Todesgefahr, in der die Jüdinnen unter ihnen schwebten, wie die Studie von Historikerin Redolfi zeigt. Die Bündnerin zeichnet darin das tragische Schicksal zweier ehemaliger Schweizerinnen nach, die trotz verzweifelten Behördenschreiben der Schweizer Familienangehörigen keine Einreiseerlaubnis erhielten und im Konzentrationslager vergast wurden. Erst im Juli 1944 lockerte die Schweiz die Aufnahmepraxis in Bezug auf jüdische Flüchtlinge. Für viele zu spät.
«Die Beamten überliessen die Frauen ihrem Schicksal», sagt Redolfi. «Die Schweizer Behörden haben ihre Verfolgung oder gar ihre Ermordung in den Konzentrationslagern der Nazis in Kauf genommen», lautet das Fazit der Historikerin. Silke Margherita Redolfi schätzt, dass mindestens 350 Schweizer Jüdinnen ihr Bürgerrecht verloren. Wie viele von ihnen umkamen, weiss man nicht. Allein dem Beobachter sind namentlich sechs ausgebürgerte Jüdinnen bekannt, die mitsamt ihren Kindern im Konzentrationslager umgebracht worden sind.
«Das muss in die Geschichte eingehen»
In letzter Minute konnte sich ihre Familie 1944 von Ungarn in die Schweiz retten – ohne Aussicht auf Bleiberecht. Doch Vera Rottenberg Liatowitsch blieb. Und wurde die erste jüdische Bundesrichterin.