«Sie haben die billigste Lösung gewählt»
Obwohl Robert Wenger nur kleine Betrügereien und Diebstähle beging, wurde er 54 Jahre lang verwahrt. Seit sieben Jahren ist er frei.
Veröffentlicht am 25. September 2006 - 13:42 Uhr
Die Begegnung mit einem, dem Generationen von Gutachtern das Etikett «moralisch defekt, gemeingefährlich» anhängten, verläuft überaus angenehm: Robert Wenger, 79, bittet bei Kaffee und Kuchen zu Tisch, man plaudert über die Ferien auf Mallorca, «all inclusive». Zum vierten Mal reist Wenger mit einer Seniorengruppe auf die Insel, doch er wird es halten wie stets: «Ich gehe meine eigenen Wege, diese Freiheit nehme ich mir.»
Der Satz ist nur scheinbar beiläufig dahergesagt. Denn Robert Wenger hat erst als 72-Jähriger erfahren, was es heisst, sich die Freiheit für etwas zu nehmen. Damals, 1999, wurde er nach einem Leben in Heimen, Anstalten und Gefängnissen aus der Verwahrung entlassen. Kurz zuvor hatte die TV-Sendung «Quer» seine Geschichte aufgearbeitet und gezeigt, dass Wenger das Opfer einer Verwahrungspsychiatrie war, die sich eines Widerspenstigen entledigte, indem sie ihn wegsperrte. «Das System hat versagt», räumte der ehemalige Berner Regierungsrat Samuel Bhend ein.
Gutachter schrieben voneinander ab
Das System hatte sich von Beginn weg in Robert Wengers Leben eingemischt. Noch nicht zweijährig, wurde er seinen Eltern weggenommen. In den Heimen, in die man den Heranwachsenden steckte, kam er sich ausgenutzt und schikaniert vor. Immer wieder suchte der Berner Giel deshalb das Weite - doch je häufiger er floh, umso härter wurde er angepackt.
Mit 18 wurde er in die Heilanstalt Münsingen gesteckt, wo 1945 ein erstes psychiatrisches Gutachten erstellt wurde: «Es handelt sich um einen debilen, haltlosen und moralisch defekten Psychopathen.» Diese Einschätzung wiederholte sich im Juni 1950 wortwörtlich, verbunden mit der Empfehlung, dass «nur eine lang andauernde Versorgung in einer Arbeitserziehungsanstalt in Frage kommt, was er in seiner undifferenzierten Art sicher nicht tragisch nehmen wird».
Irrtum: Robert Wenger nutzte weiterhin jede Gelegenheit zur Flucht. «24 Ausbrüche habe ich aufgeschrieben», sagt er, nicht ohne ein verschmitztes Grinsen. Es waren zweifellos mehr Fluchten, und alle gingen schief. Um sich draussen durchzuschlagen, klaute er Essen und Kleider und versuchte, mit Betrügereien zu Geld zu kommen. So endeten die flüchtigen Freiheiten regelmässig mit neuen Verhaftungen und Einweisungen.
Die Orte wechselten, nicht aber der Tenor der Psychiater, die Wenger den Stempel eines Gewohnheitsverbrechers aufdrückten. Klinik Waldau, 1954: «Er ist in Thorberg am richtigen Ort verwahrt, weil er sicher gemeingefährlich ist.» Die aargauische Klinik Königsfelden erachtete ihn 1961 als «milieugeschädigten, unintelligenten, haltlosen Psychopathen mit Neigung zu Pseudologien» - ein Wortlaut, dem die Klinik Waldau 1974 nichts Eigenes hinzuzufügen hatte.
Diese Gutachten, während Jahrzehnten offensichtlich voneinander abgeschrieben, bekam Robert Wenger erst nach seiner Freilassung zu sehen. Eine bittere Erfahrung: «Niemand hatte sich die Mühe gemacht, meine Geschichte unvoreingenommen anzuschauen.» All den Ämtern, Richtern und Experten sei es wohl einfach am angenehmsten gewesen, wenn einer wie er von der Bildfläche verschwunden sei, sagt Wenger heute: «Sie haben die billigste Lösung gewählt.» Ob er sich dieses Verhaltensmuster auch heute noch vorstellen könne? «Natürlich. Die Menschen haben sich nicht geändert.» Nicht, dass sich Wenger als schuldlos sieht. Diebstahl, Betrug, Veruntreuung, Urkundenfälschung: Zu diesem Sündenregister steht er. Niemals aber hat er ein Gewaltdelikt begangen. «Ich schau mir nicht mal Krimis am Fernsehen an, das ist mir zuwider.»
«Auf wen sollte ich wütend sein?»
Der Ausweg aus der psychiatrischen Endlosschlaufe kam erst 1999, als das Schweizer Fernsehen das Gutachten des Psychiaters Dan Baciu publik machte, der Wenger wegen seiner Depressionen behandelte: «Bewusstsein klar, normale Intelligenz, keine Wahnvorstellungen, keine Ich-Störung.»
Seit seiner Freilassung lebt Robert Wenger in einer Alterswohnung im aargauischen Menziken. Dort gefällt es ihm, weil er unabhängig ist - «ein richtiges Altersheim wäre wohl nichts für mich». Mit dem Alltag kommt er, den man einst der Gesellschaft nicht zumuten wollte, gut zurecht. Mit seiner Vergangenheit habe er abgeschlossen, sagt er. Kein Groll auf jene, die ihm das Leben verpfuscht haben? «Ich wüsste gar nicht, auf wen ich wütend sein sollte. Es waren ja alle gegen mich.» Sagts und wechselt das Thema. Robert Wenger will nur noch, dass man ihn in Ruhe lässt.