Unverzichtbares Kulturgut, aber rechtlich irrelevant
Jedes Kind kennt seinen Heimatort, obwohl es oft gar nicht dort wohnt. Dabei hat dieser unterdessen seine wichtigsten Funktionen eingebüsst.
Veröffentlicht am 14. März 2018 - 16:24 Uhr,
aktualisiert am 14. März 2018 - 15:14 Uhr
Im Pass eines jeden Schweizer Bürgers ist dessen Heimatort notiert. Ein Kuriosum. Denn worüber sich hierzulande kaum jemand Gedanken macht, ist ennet der Grenze schwer nachvollziehbar. Dort kennt man keine Heimatorte, stattdessen steht der Geburtsort in offiziellen Dokumenten. Was hat es mit dieser Schweizer Eigenart auf sich? Und welche Bedeutung hat sie heute noch?
Das Heimatrecht wurde bereits vor der Nationalstaatsgründung eingeführt, unter anderem um die Armen bestimmten Gemeinden zuweisen zu können. Gemäss einem Tagsatzungsbeschluss von 1551 waren diese Gemeinden dazu verpflichtet, für die Bettler aufzukommen, die in «Bettelfuhren» an ihre Heimatorte zurückgeschafft wurden (Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz). Es wurde in der Heimatgemeinde auch ein Register über die Heimatberechtigten geführt, als Vorgänger heutiger Zivilstandsämter. Der Heimatort, oder auch Bürgerort, wurde vererbt – wie auch heute noch.
Früher erhielten Kinder üblicherweise den Heimatort des Vaters. Die Ehefrau verlor bei der Heirat ihren alten Heimatort und bekam denjenigen des Ehemanns. Später erhielt sie zwar den des Gatten, konnte aber ihren eigenen zusätzlich behalten, also zwei Heimatorte haben. Man kann nämlich über mehrere Heimatorte verfügen, wie zum Beispiel SP-Ständerätin Pascale Bruderer, die sich mit ganzen vier Bürgerorten verbunden fühlt (Migros Magazin berichtete). Heute hat die Eheschliessung keinen direkten Einfluss mehr auf das Bürgerrecht und Kinder erhalten den Heimatort des Elternteils, dessen Namen sie auch tragen.
Bei seiner Einführung war der Heimatort normalerweise auch der Wohnort einer Person. Mit erhöhter Mobilität ist das je länger je weniger der Fall – für die meisten Schweizerinnen und Schweizer ist der Heimatort im Alltag unterdessen irrelevant und markiert lediglich ein Stück Familiengeschichte.
Seit 2012 das Bundesgesetz über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger angepasst wurde, hat der Bürgerort schliesslich eine der letzten wichtigen Funktionen verloren: die Sozialhilfe. Bis zum Ersten Weltkrieg war der Heimatort vollumfänglich für die Unterstützung der Bedürftigen zuständig, egal wo diese wohnten. Schrittweise wurde diese Pflicht danach auf den Wohnort übertragen.
Ab 1977 musste der Heimkanton dem Wohnkanton die Sozialhilfe rückerstatten, wenn die Bürgerinnen innert zehn Jahren nach dem Umzug hilfsbedürftig wurden. 1990 wurde die Rückerstattungsfrist auf zwei Jahre reduziert. Dabei hatte der Heimkanton keinen Einfluss darauf, ob und in welcher Höhe Bedürftige Sozialhilfe bezogen, musste jedoch die Rechnung zahlen.
Schon früher konnten emigrierte Bedürftige kleinere oder ländliche Heimatorte in die Bredouille bringen. So war es im 19. Jahrhundert zum Beispiel gebräuchlich, Armen die Überquerung des Atlantik zu finanzieren, wenn sie im Gegenzug auf das Bürgerrecht verzichteten.
Für viele bleibt der Heimatort identitätsstiftend, und dessen emotionale Bedeutung vorschnell zu unterschätzen wäre verfehlt.
Der Transferzahlung zwischen den Kantonen ging es vor einigen Jahren schliesslich endgültig an den Kragen: Mit einer Übergangsfrist von vier Jahren trat per April 2017 die neue Gesetzgebung in Kraft, die die Sozialhilfe-Rückerstattung zwischen den Kantonen beendet und damit dem Heimatort die letzte wesentliche rechtliche Bedeutung nimmt. Dies wird künftig Kantone entlasten, die bisher Nettozahler waren, wie zum Beispiel Appenzell Innerrhoden oder Uri. Zu spüren bekommen werden dies hingegen Ballungsgebiete wie Zürich und Basel, die zu den Profiteuren der Sozialhilfe-Rückerstattungen gehörten (siehe Grafik Tages-Anzeiger).
Gänzlich unbedeutend ist der Bürgerort im rechtlichen Sinn auch künftig nicht, wie Hanneke Spinatsch, Juristin im Beobachter-Beratungszentrum, erklärt: «Ein völliges Relikt ist der Heimatort nicht. Insbesondere für Auslandschweizer hat er noch praktische Bedeutung. So kann zum Beispiel ein Schweizer Bürger ohne Wohnsitz in der Schweiz bei der Behörde seines Heimatkantons eine Namensänderung verlangen.»
Für viele bleibt der Heimatort identitätsstiftend, und dessen emotionale Bedeutung vorschnell zu unterschätzen wäre verfehlt. So führen beispielsweise Gemeindefusionen immer wieder zu Besorgnis in der Bevölkerung: was steht künftig in meinem Pass? Verliere ich meinen Heimatort? Oft wird potenziellen Kritikern mit einem taktischen Kniff der Wind aus den Segeln genommen. Denn auch nach Fusionen von politischen Gemeinden, bleiben häufig die Bürgergemeinden bestehen, wie die Solothurner Zeitung berichtete. Wären die Gemeinden Zuchwil, Biberist, Solothurn, Derendingen und Luterbach wie ursprünglich angedacht fusioniert (unterdessen ist das Vorhaben an der Urne gescheitert), wäre ein Bürger von Derendingen nach wie vor Bürger von Derendingen und nicht von «Gross-Solothurn». Am Heimatort hätte das nichts geändert, auch wenn dieser danach im Prinzip «nur» noch ein Ortsteil einer Grossgemeinde gewesen wäre.
Bezeichnend ist denn auch, dass der Bund anlässlich der Revision des Ausweisgesetzes 2001 beschloss, beim Heimatort zu bleiben, trotz eingehender Diskussion, ob dieser im Pass durch den Geburtsort zu ersetzen sei. «Da sehr viele (auch neu eingebürgerte) Schweizer eine starke emotionelle und traditionelle Bindung zum Heimatort haben und dieser im schweizerischen Geschäftsverkehr (Banken, Post, Notare usw.) und im Rechtssystem gebräuchlich ist, fiel der Entscheid zu Gunsten des Heimatortes», hielt der Bundesrat in seiner Botschaft fest.