Warum Babys ohne Narkose operiert wurden
Lange dachten Mediziner, dass Säuglinge keinen Schmerz spüren. Heute wissen wir es besser. Doch immer noch unterschätzen Fachleute chronische Schmerzen bei Kindern.
Veröffentlicht am 20. Februar 2025 - 06:00 Uhr
Jedes vierte Kind hat chronische Schmerzen. Fachleute verkennen die Not oft.
Chronische Schmerzen bei Kindern? Lange Zeit war das kein Thema. «Ein Fehler», sagt Helen Koechlin vom Universitäts-Kinderspital Zürich zum Beobachter. «Etwa ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen leidet unter chronischen Schmerzen, die länger als drei Monate anhalten», so die Schmerzforscherin und Psychologin.
Viele überrascht das, weil sie chronische Schmerzen vor allem mit älteren Personen in Verbindung bringen. Doch die Realität sieht anders aus. Das belegt eine letztes Jahr dazu durchgeführte internationale Metaanalyse
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Schmerzen entstehen bei Kindern und Jugendlichen – wie bei Erwachsenen – aus dem Zusammenspiel vieler Faktoren. Sie können einen klaren Auslöser haben, wie zum Beispiel eine Operation oder einen Unfall. Oft bleibt die Ursache aber unklar, oder die Schmerzen dauern viel länger als erwartet.
Risiko für Suizidalität erhöht
Bauch- und Kopfschmerzen oder Schmerzen der Muskeln und Knochen sind im Kindes- und Jugendalter am häufigsten. «Gerade bei Kindern und Jugendlichen schränken ständige Schmerzen den Alltag stark ein, weil sie sich doch eigentlich auf ihre schulischen, sozialen und emotionalen Entwicklungsaufgaben konzentrieren müssten», sagt Helen Koechlin.
Eine neue Studie aus Kanada zeigt, dass chronische Schmerzen bei Jugendlichen das Risiko für Suizidalität erheblich erhöhen können.
Viele junge Menschen finden nur mit Mühe wirksame Behandlungen. Das hat auch mit der unrühmlichen Geschichte zu tun, die das Thema Schmerz bei Kindern und Jugendlichen hinter sich hat.
Babys erhielten Medikamente, die ihre Muskeln lähmten
Bis in die 1980er-Jahre operierte man Frühchen und Neugeborene ohne Narkose. «Man glaubte, dass sie keine Schmerzen empfinden, weil ihr Nervensystem noch unreif sei», sagt Helen Koechlin. Schreien, Abwehrbewegungen und Weinen seien bloss Reflexe, dachte man. Früh- und Neugeborene erhielten deshalb bei operativen Eingriffen keine Schmerzmittel, sondern nur Medikamente, die ihre Muskeln lähmten.
Das änderte sich erst, als 1985 in den USA der frühgeborene Säugling Jeffrey Lawson nach einer Operation ohne Narkose starb. Bei dem Baby wurde unter anderem ein Schnitt vom Brustbein bis zur Wirbelsäule gemacht. Seine Mutter, unterstützt von Forschenden, ging damit an die Öffentlichkeit.
Kinderärzte unterschätzen das Problem stark
Seither hat das Wissen um die Schmerzen der Kleinen zwar zugenommen, aber in der Praxis angekommen ist es noch längst nicht. Die Mehrheit der Schweizer Kinderärztinnen und Kinderärzte hat kaum Erfahrung mit der Behandlung chronischer Schmerzen, zeigt eine von Helen Koechlin und Forscherkolleginnen durchgeführte Umfrage.
Die Befragten gaben an, dass nur etwa drei Prozent ihrer kleinen Patienten chronische Schmerzen hätten. Tatsächlich sind es aber fast zehnmal so viel. «Das war überraschend», sagt Koechlin zum Beobachter.
Sie möchte, dass Eltern, Lehrpersonen, Ärztinnen und Ärzte die Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen ernst nehmen. «Auch dann, wenn keine eindeutigen organischen Ursachen zu finden sind.» Im Schnitt dauert es heute zwei Jahre, bis ein Kind mit chronischen Schmerzen in einer spezialisierten Schmerzsprechstunde landet. Das ist zu lang.
- Forschungsarbeit von Helen Koechlin und Kolleginnen: Konzepte von Kinderärzten gegen chronische Schmerzen: eine qualitative Umfrage
- Schweizerischer Nationalfonds: Studien von Helen Koechlin
- Studie der Universität Calgary, Kanada: Schmerzen und Schlaflosigkeit als Risikofaktoren für das erste Auftreten von Angstzuständen, Depressionen und Suizidalität im Jugendalter
- Studie: The Prevalence of Chronic Pain in Children and Adolescents: A Systematic Review Update and Meta-Analysis