Willkür inbegriffen
In der Schweiz ist das Trinkgeld eigentlich längst abgeschafft. Dennoch runden Kunden vielerorts grosszügig auf – oft aus Angst davor, als knausrig zu gelten.
Veröffentlicht am 10. Dezember 2002 - 00:00 Uhr
Urs Neuenschwander hatte es eilig. Die Fahrt durch Yokohama hatte viel Zeit gekostet. Um sie aufzuholen, wollte der PR-Berater den Betrag für die Taxifahrt aufrunden. Doch das liess sich der japanische Fahrer nicht gefallen: Grimmig klaubte er das Rückgeld aus dem Portemonnaie und liess den Gast erst aussteigen, nachdem er bis auf den letzten Yen abgerechnet hatte.
Das wäre in der Schweiz nicht passiert. Hier lassen sich alle gern aufrunden: der Taxichauffeur, die Coiffeuse, die Serviertochter, der Handwerker, der Gärtner. Sie alle kommen bei Urs Neuenschwander nicht zu kurz: «Gute Leistung honoriere ich gern. Zudem verdient das Personal im Dienstleistungssektor wenig.»
Heinz Häberli hingegen ist der Ansicht, das Trinkgeld sei im Preis inbegriffen. Trotzdem gibt er fast immer etwas. «Sonst habe ich das Gefühl, knauserig zu sein», sagt der Zürcher Bildhauer. «Nur wenn die Bedienung hundsmiserabel war, gebe ich nichts, sozusagen als Bestrafung.»
Für Irmtraud Bräunlich, Arbeitsrechtsexpertin beim Beobachter, ist das Zahlen eines Zustupfs nicht mehr zeitgemäss. «Trinkgeld erhalten immer nur Berufsgruppen mit geringem Sozialprestige.» Deshalb seien eigentlich die Arbeitgeber gefordert. Bräunlich: «Auch im Dienstleistungssektor muss gute Arbeit gut entlöhnt werden. Es ist stossend, wenn jemand von der Willkür der Kunden abhängig ist.»
Im Gastgewerbe ist das Trinkgeld seit 1974 im Preis inbegriffen. Dieses System, das nicht zuletzt auf Wunsch der Konsumenten und der Mitarbeitenden eingeführt worden sei, habe sich bewährt, sagt Brigitte Meier-Schmid vom Branchenverband Gastrosuisse.
Wer sich bei der Kellnerin oder beim Kellner mit ein paar zusätzlichen Franken für den guten Service bedankt, gibt streng genommen kein Trinkgeld, sondern einen so genannten Overtip. Ist es denn nicht so, dass das Personal mit einem Zustupf rechnet? «Nein», sagt Meier-Schmid. «Die Servicemitarbeitenden wissen, dass ihre Leistung mit dem Lohn, den ihnen der Patron zahlt, abgegolten wird. Sie haben daher keinen Anspruch auf eine zusätzliche Entschädigung des Gastes.» Overtips seien eine freiwillige Geste. Der Gast entscheide auch über die Höhe des Zustupfs.
Wie hoch Overtips sein sollen, ist auch beim Verband Schweizer Coiffeurgeschäfte nicht in Erfahrung zu bringen. «Obwohl das Trinkgeld bei den Coiffeuren 1982 abgeschafft wurde, ist es nach wie vor ein Bedürfnis der Kundschaft, mehr als den angeschriebenen Preis zu bezahlen», sagt Rolf Fauser von der Coiffeursuisse. Verpönt seien jedoch die Trinkgeldkassen, die noch immer in einzelnen Geschäften aufgestellt seien: «Da könnte sich die Kundschaft fast genötigt fühlen.»
Myriam Duc von der Dienstleistungsgewerkschaft Unia hält die Frage, ob und wie viel über dem angeschriebenen Preis bezahlt werden soll, für irrelevant. Ihr Anliegen ist vielmehr, existenzsichernde Löhne durchzusetzen. «Es geht nicht an, dass ein Patron seinen Angestellten erklärt, der Lohn sei zwar tief, die Zusatztrinkgelder dafür hoch», sagt Duc. «Overtips sind kein versicherter Lohn und fallen bei Krankheit weg – oft mit verheerenden Folgen.»
Anders als im Gastgewerbe und bei den Coiffeuren läuft es in der Tourismusbranche: Hier ist das Trinkgeld nicht immer inklusive. Wer beispielsweise bei den Zürcher Fröhlich-Reisen eine Offerte für eine Reise einholt, dem respektive der wird schriftlich mitgeteilt, dass das Trinkgeld für den Chauffeur nicht inbegriffen sei. Als Richtwert werden zwei Franken pro Person und Tag angegeben. Jean-Richard Salamin vom Schweizerischen Nutzfahrzeugverband hält aber fest, dass das Zahlen von Trinkgeld dennoch eine freiwillige Leistung sei.
Solche Bestimmungen sind der Gewerkschaft VHTL denn auch ein Dorn im Auge. «Die Carunternehmungen wollen mit dieser Praxis die Lohnkosten tief halten», sagt VHTL-Sekretär Hans Baumgartner. Das sei kein Wunder; schliesslich würden sich die Firmen in Inseraten für Pauschalreisen gegenseitig unterbieten – dies alles auf dem Buckel der Chauffeure, die im schlimmsten Fall selber zusehen müssten, wie sie zu ihrem Lohn kommen.
Doch was passiert, wenn sich ein Fahrgast nicht an den Richtwert von zwei Franken hält? «Sollte dies tatsächlich mal vorkommen, übernehmen wir den fehlenden Betrag», heisst es bei Fröhlich-Reisen. Schliesslich erscheint auf dem Lohnausweis jedes Chauffeurs ein Pauschalbetrag für Trinkgeld, der versteuert werden muss.
Auf dem Lohnausweis anderer Berufsleute fehlen solche Pauschalbeträge – und freiwillig gibt kaum jemand Overtips in der Steuererklärung an. Ein Basler Student etwa, der aushilfsweise in einer Bar arbeitet, kann an einem Abend bis zu 100 Franken extra kassieren. Und ein Coiffeur aus Wädenswil weiss, dass Berufskollegen bis zu 1000 Franken im Monat zusätzlich zum Lohn erhalten. «Kein Mensch kommt auf die Idee, das zu versteuern», sagt er. Warum auch? Ihm rundet sogar der Beamte vom Steueramt grosszügig auf.
Keine Skrupel vor Steuerhinterziehungen hat auch der Taxifahrer, der seine zusätzlichen Einnahmen als minim bezeichnet: «Da werden doch noch ganz andere Beträge als diese paar läppischen Franken am Fiskus vorbeigeschmuggelt.»
So läppisch ist der Betrag aber gar nicht. Der St. Galler Steuerbeamte Adolf Eisenring vermutet, dass den Steuerämtern auf diese Weise gesamtschweizerisch mehrere Millionen Franken jährlich entgehen. Doch Jagd auf das Servicepersonal mache man nicht, sagt Eisenring. «Höchstens Stichproben, denn der Nachweis von Overtips ist schwierig zu erbringen.»
Solche Probleme dürften dem grimmigen Taxifahrer in Yokohama höchstens ein verständnisloses Lächeln abringen, denn Trinkgeld und Overtips sind in Japan nicht üblich. Wenn ein Gast eine gute Leistung mit zusätzlichem Geld belohnen will, gilt das oft als persönliche Beleidigung.
- Es gibt keine Richtlinien. Sie allein entscheiden, wem Sie wann wie viel Trinkgeld bezahlen.
- Zahlen Sie Trinkgelder nicht mit der Kreditkarte, sondern in bar. Dies vereinfacht die Abrechnung.
- Lassen Sie die Bedienung wissen, weshalb Sie ein zusätzliches Trinkgeld geben. Auch lobende Worte freuen die Angestellten.
- Achten Sie bei Carreisen auf die vertraglichen Bestimmungen. Oft ist das Trinkgeld für die Reiseleitung und den Chauffeur ein Lohnbestandteil, der vom Kunden speziell entrichtet werden muss.
- Informieren Sie sich bei Reisen ins Ausland über die landesüblichen Bestimmungen. In den USA zum Beispiel leben die Angestellten ausschliesslich vom Trinkgeld. In Europa sind die Regelungen sehr unterschiedlich.