Sechs bäumige Geschichten
Hinter den knorrigsten Ästen verbergen sich die besten Anekdoten: eine kleine Schweizer Reise mit Baumexperte Michel Brunner.
aktualisiert am 13. April 2015 - 17:57 Uhr
Im keltischen Baumhoroskop ist Michel Brunner eine Linde. Perfektionistisch, aber auch sanft und einfühlsam gegenüber Mensch und Tier. Und Bäumen, wäre beizufügen. Der Baumexperte, der nicht viel von Horoskopen hält, schmunzelt. Er mag Bäume. So sehr, dass er seit Jugendtagen die grössten, schönsten und ältesten Exemplare des Kontinents fotografiert und ein für Europa einmaliges Archiv über Bäume führt.
Dieses zählt mittlerweile mehr als viertausend Bäume, darunter tausend in der Schweiz, nach Alter, Grösse und Bedeutung geordnet. Im Beobachter stellt er sechs besonders urtümliche Exemplare vor: bäumige Schönheiten mit wechselvoller Geschichte, zu entdecken auf von Brunner vorgeschlagenen Rundwanderungen.
Er kennt die Gebiete wie seine Westentasche: «Ich bin Meter für Meter davon abgelaufen nach Hinweisen aus der Bevölkerung auf eine Rarität.» Aufgewachsen in Glattbrugg beim Flughafen Zürich, hielt Michel Brunner schon als Bub auf Wanderungen mit dem Vater Ausschau nach Bäumen. Schritt für Schritt eignete sich der gelernte Grafiker ein Fachwissen an, das ihn zum gefragten Referenten macht und heute von seiner Leidenschaft leben lässt. «Ich brauche nicht viel zum Glück», sagt Michel Brunner. «Andere flippen aus wegen eines Ferraris, ich wegen eines speziellen Baums.»
Oft führten ihn seine Exkursionen nach Frankreich, Deutschland oder Irland, wo die keltische und germanische Ehrfurcht vor Bäumen bis heute verankert ist. Wenn er nach dem Weg zu einer bekannten Tanzlinde oder Gerichtseiche frage, «wissen die Leute sofort Bescheid und erzählen mir Sagen und Geschichten über den Baum». Anders in der Schweiz, da heisse es nicht selten: «Was wollen Sie da? Sind Sie am Holz interessiert?»
Zum Glück gibts auch hierzulande Baumliebhaber – im Emmental, im Aargau oder im Jura etwa: Sie trugen dazu bei, dass eine uralte Eibe, eine Linde und eine Eiche bis heute gedeihen.
Was für eine Linde! Mächtig ihr Stamm, weit ausladend ihre biegsamen Äste, formvollendet ihre Krone – zu Recht gehört die Linde im aargauischen Linn zu den beeindruckendsten Bäumen Europas. Sie hat sogar eine eigene Bushaltestelle auf dem Bözberg.
Über keinen Baum im Land gibt es mehr Geschichten als über sie. Für die einen ist sie 2000, für die anderen 380 Jahre alt. Die dritten meinen, der heilige Gallus hätte sie im 6. Jahrhundert auf seiner Wanderung von Irland nach St. Gallen gepflanzt.
Baumexperte Michel Brunner ist anderer Ansicht. Er verglich ihr Wachstum mit ähnlichen, exakt datierten Linden und kommt auf ein Setzdatum um 1350. Zwei Jahre vorher hatte die Pest in Linn gewütet. So könnte die Geschichte wahr sein, dass ein Überlebender an ihrem Ursprung steht. Nachdem man die Pest-Toten ausserhalb des Dorfs begraben hatte, war es damals Brauch, eine Linde zu setzen, um weiteres Unheil fernzuhalten. Doch die Zeiten waren unruhig. Die Habsburger gaben ihren Stammsitz ennet der Aare auf, die neuen Herren aus Bern kamen, und von 1667 bis 1669 schlug die Pest erneut zu.
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Auch die Linner Linde hatte zu kämpfen. 1586 sollte sie gefällt werden. Es hiess, eine Anna Meier hätte sich in ihrem Schatten mit dem Teufel verbunden. Die vermeintliche Hexe wurde des Landes verwiesen – die Linde aber stehen gelassen. Mindestens dreimal geriet sie zudem in Brand, 1908 durch ein Lagerfeuer von Jugendlichen und letztmals 1979. Die Linde hatte Glück im Unglück. Das Feuer verbrannte sämtliche Parasiten und Pilze, bevor es gelöscht wurde. «Sie reagierte mit einer starken Überwallung des Stamms und bildete eine neue Borke, was ihre Stabilität festigt», sagt Brunner.
Heute ist sie kräftiger denn je. Sieben Hauptäste tragen die mächtige Krone. «Wenn der Mensch sie lässt, kann sie gut noch vier Meter an Umfang zulegen», prophezeit der Fachmann. Dann käme sie auf einen Stammumfang von über 15 Metern – und würde zu den dicksten Linden Europas gehören.
Eine Schönheit! Für ihr Alter bemerkenswert aufrecht und elegant: La Panera in Luven GR – eine 250 Jahre alte und fast 50 Meter hohe Fichte. Fichten, mit ihrer rötlichen Rinde auch Rottannen genannt, schmücken seit Jahrhunderten als Christbäume unsere Stuben. Wer die Fichte «La Panera» (romanisch für «Brotgestell») nannte, weiss keiner mehr. Warum sie so heisst, ist aber klar: Schaut man vom Stamm hoch zur Baumkrone, sieht man sternenförmig angeordnet Ast an Ast. Wie bei einem Brotgestell – ein Balken mit Querlatten für die Brote.
Die Fichte ist fest im Bewusstsein des 200-Seelen-Dorfs in der Surselva verwurzelt. Bereits 1915 ist sie dem Disentiser Benediktinerpater Karl Hager aufgefallen. Ein Schwarzweissfoto zeigt sie als präch¬tige Fichte mit weit ausgebreiteten Ästen.
Mittlerweile sind die Hauptäste des Baums gebeugt wie bei einer Trauerweide. Für Baumexperte Michel Brunner erstaunlich. «Der Baum scheint gemerkt zu haben: ‹Will ich hoch hinaus, muss ich meine Äste beugen, sonst brechen sie im Winter bei grosser Schneelast.›»
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Mit ein Grund für das hohe Alter ist der geschützte Standort unterhalb von Luven. Im 16. Jahrhundert rodeten Bergbauern die kleine Ebene Bual für ihre Weidetiere. Als die Panera dort Wurzeln schlug, hatte sie von Anfang an viel Licht und Wasser.
1971 wurde sie auf Betreiben des damaligen Gemeindepräsidenten Martin Vinzens als Schweizer Naturdenkmal unter Schutz gestellt. Für seinen Nachfolger Martin Wetten ist die Panera schlicht «la regina», die Königin. «Eigentlich viel mehr noch», sagt der 66-Jährige, «sie spricht mit einem, wenn man sie um Rat fragt.» Und Rat war im kargen Bergdorf oft teuer. Manch einer, der vor dem Hunger nach Amerika flüchtete, sei vor seiner Abreise zur Panera hinuntergestiegen und habe sich im Schutz der Äste ausgeweint. «Nicht selten hat sie geraten zu bleiben», sagt Wetten, der als Maître de Cabine weit herumgekommen, seinem Heimatdorf Luven aber treu geblieben ist.
Für die Germanen waren Buchen heilige Bäume, buchene Waldungen Kathedralen ihrer Zeit. Und zweifelsohne hätten sie der prächtigen Buche von Bovel einen Ehrenplatz gegeben: Seit rund 250 Jahren trotzt sie ob Maienfeld GR aller Unbill und ist mit 7,6 Meter Umfang die dickste einstämmige Buche des Landes.
«Buchen reagieren empfindlich auf Pilze und Verletzungen durch Tiere und Menschen», sagt Michel Brunner. Oft sterben sie deswegen früh. «Die Buche von Bovel aber ist eine Kämpferin.»
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Weidendes Vieh muss ihr schon in jungen Jahren arg zugesetzt haben. Beim Treten und Kratzen sind rund ums Wurzelwerk Wunden entstanden, über die sie mäch¬tige Wülste wachsen liess – stellenweise kaum von Steinbrocken zu unterscheiden. «Eine einmalige Erscheinung für eine Buche», sagt Brunner.
Auch auf dem Stamm und den Ästen weist sie Schäden von Sonnenbrand, Blitzschlag und Pilzbefall auf, die sie mit ihrer Rinde zu überwallen versucht. Mit dieser Taktik kann sie noch viele Jahrzehnte weiterleben.
Die Buche ist dabei in guter Nachbarschaft. Der Weiler Bovel ist bekannt für seinen Eichenhain mit Dutzenden alten Bäumen, jede Eiche eine knorrige Persönlichkeit für sich. Brunners Baumgefährte André Hübscher reiste einst extra wegen der Eichen an. Hübscher schaute genau hin – und entdeckte unter all den Eichen die Schweizer Meisterin der Buchen.
Die Lärche von Prarion im Wallis steht mitten in einer Kampfzone, und doch hat sie alle Steinschläge, Murgänge und Lawinen überlebt – eine bravouröse Leistung bei rund 900 Jahren auf dem Buckel. Mit ihrem hohen Alter ist sie jedoch nicht allein: Im kargen Gelände auf rund 2000 Höhenmetern ob Sitten verteilen sich weitere 250 Lärchen-Methusaleme.
Eine weltweit einmalige Ansammlung prächtiger Lärchen, ein weltweit einmaliges Exemplar mittendrin: unser Larix, wie die Gallier den zähen, genügsamen Nadelbaum nannten, kommt auf einen rekordmässigen Stammumfang von 10,7 Metern.
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Die Lärche hat viel getan, um so alt und dick zu werden. Als Pfahlwurzlerin hat sie die Jugend für einen kräftigen Wuchs genutzt und auf Tiefgang gesetzt. Mittlerweile könnten ihre Wurzeln auf sechs Meter hinunterreichen. Das macht sie standfest gegen Naturgewalten und beliebt als Lawinenschutzbaum. Die Lärche von Prarion hat dabei ihre Kraft vor allem in die talseitigen Äste investiert. Nichts macht einer Lärche mehr zu schaffen als der gewaltige Luftdruck, der einem Lawinenniedergang vorausgeht. Da hilft nur, mit ihrem dicken Stamm dagegenzuhalten und zumindest die Äste auf der Talseite zu retten.
Um heil durch den Winter zu kommen, wirft die Lärche im Herbst als einziger Nadelbaum Europas die Nadeln ab. Zuvor verfärben sie sich gelb und orange – ein Farbspektakel! Als hätte die Lärche bei den Laubbäumen abgeschaut, wie sie ihr filigranes Astwerk schützen: Auf kahlen Ästen kann sich der Schnee weniger gut absetzen.
Schadlos allerdings ist unsere Lärche nicht über die Jahrhunderte gekommen. Ein Stein muss mit grosser Wucht auf den Stamm geprallt sein und die Wundstelle mit einem Bakterium verseucht haben. Die Beule, die sich über der verletzten Stelle gebildet hat, ist riesig. Doch kein Grund zur Sorge – dieser Baum weiss sich selber zu heilen.
Heimiswil ist Heimterrain für Michel Brunner. Im Emmental hat er oft die Ferien verbracht und ist unzählige Male mit dem Vater zur Eibe nach Heimiswil gewandert. «Sie ist wie eine alte Bekannte», sagt er – ein stattlicher Nadelbaum mit eindrücklich faltigem Stamm, dem mächtigsten seiner Art in der Schweiz mit 6,8 Meter Umfang.
Tausend Jahre alt sei die Eibe, sagt man im Dorf ehrfürchtig. Brunner kommt aufgrund von Wachstums- und Jahrringrechnungen auf knapp die Hälfte. Seine Erklärung ist nachvollziehbar: Dank besten Bedingungen konnte sie schneller wachsen als im Gebirge und wird altersmässig überschätzt.
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Eiben sind extrem zäh. Sie brauchen wenig Licht und sind auch mit nur spärlichem Wachstum zufrieden. Dadurch produzieren sie ein dichtes und trotzdem elastisches Holz. Es wurde für Pfeilbogen mittelalterlicher Armeen verwendet, aber auch für die schönen Dinge des Lebens wie etwa Musikinstrumente, Spazierstöcke und Möbel.
Vor solchem Nutzdenken blieb die Heimiswiler Eibe auf dem Hof Gärstler verschont. Nur einmal ist es ihr fast an den Kragen gegangen: 1890 sollte sie gefällt und in Paris an der Welt¬ausstellung gezeigt werden. Die Naturschutzpioniere Fritz und Paul Sarasin kauften das Land auf, und seit 1934 steht der Baum unter Schutz.
Eiben werden von alters her verehrt. Den Kelten galten sie als eine Art Gottheit. Nadeln, Zweige und Stammteile sind hochgiftig – ein Baum des Todes, mit seiner Widerstandsfähigkeit aber auch Symbol fürs Weiterleben. Bei der Christianisierung blieb der Eibenkult mancherorts erhalten; in Asturien und der Normandie findet man bis heute an Eibenstämmen angelehnte Altäre oder gar Kapellen in Baumhohlräumen. Heutzutage macht die Eibe der alten Symbolik alle Ehre: Nadeln und Rinde enthalten Taxane, die man in der Krebstherapie einsetzt und mittlerweile aus Eibenzellkulturen gewinnt.
Die Eiche im jurassischen Châtillon soll ebenfalls tausendjährig sein. Laut Kernbohrungen ist sie zwar nur gut 420 Jahre alt – aber auch das ist für eine Stieleiche beträchtlich. Die Übertreibung der Bevölkerung ist ein Zeichen von grosser Sympathie und heisst mit anderen Worten: Hier steht ein besonders wertvoller Baum, zu dem wir Sorge tragen wollen. Die Jurassier nennen die Eiche seit Generationen «Chêne des Bosses», Eiche mit Beulen, die sich auf Stamm und Geäst abzeichnen. Ein eigentümlicher, knorriger, mächtiger Baum mit Schweizer Rekordmass von 8,85 Meter Stammumfang.
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Einst soll sie ein Bräutigam in der Hochzeitsnacht gepflanzt haben – im Glauben, die Verbindung werde dadurch glücklich. Glücklich zumindest wurde die Eiche, die auf der dorfnahen Weide genügend Platz und Licht hat, vor heftigem Wind geschützt und mit grosser Gesundheit gesegnet ist.
Das hat sie mehr als einmal vor dem Abserbeln bewahrt. Die «Chêne des Bosses» hat Blitzschläge überlebt und 1960 auch einen Brand, als man versuchte, ein Hornissennest im Stamm auszuräuchern. Die Schadstelle wurde mit Holzschindeln bedeckt, damit die Feuchtigkeit den Stamm nicht zersetze. «Gut gemeint, für den Baum aber unbedeutend», sagt Michel Brunner.
Auf der Weide stehen ein Dutzend weitere alte Eichen, deren Früchte einst Schweine ernährten. Schon die Kelten nutzten Eichenhaine für ihre Schweine, assen die Eicheln, zu Mehl verarbeitet, auch selbst. Ihre Druiden schätzten die Bäume über alles, besonders die Misteln in den Kronen. Um die Zauberkraft zu bewahren, ernteten sie diese nur bei Neumond. Überhaupt gibt es zahlreiche Legenden rund um die Eiche. In vielen Kulturen ist sie ein Symbol für Männlichkeit. Andere Baumarten beugen sich bei Windböen und Schneelast, die Eiche aber stemmt sich beharrlich gegen Naturgewalten und büsst dies immer wieder mit Astbrüchen. Vor zwei Jahren brach auch bei unserer Eiche ein mächtiger Ast ab, und angesichts ihres hohen Alters ist man versucht, ihr zu raten: Gib nach, die Zeit der Gegenwehr ist vorbei.